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Der Beruf der Hofdame im Allgemeinen und im klassischen Weimar im Besonderen

Vortrag von Dr. Annette Seemann, Weimar, am 2. November 2021

Die weibliche Hofhaltung war ein Spiegelbild der männlichen; war der Regent fern, regierte der weibliche Hofstaat. Daher kommt auch der Begriff Frauenzimmer: „chambre de femmes“. Eine Kemenate als Aufenthaltsort für Frauen war damit also nicht gemeint, sondern Hofstaat. Hierzu gehörten neben mehreren ‚Bediensteten eben auch die Hofdamen, gewissermaßen als Gesellschafterinnen der Regentinnen. Schon früh wurden Mädchen aus adligen Familien auf diese Aufgabe vorbereitet. Ihre Tätigkeit am Hof war jedoch auch mit Heiratsabsichten verbunden, damit endete auch ihr Dasein als Hofdame. Die Ehen auf höchster Ebene wurden per Eheverträgen geregelt, sie enthielten beispielsweise Absprachen zu Mitgift, Morgengabe, Absicherung bei früher Witwenschaft und auch, wie viele Hofdamen und Bedienstete mitgebracht werden durften. Herzogin Anna Amalia, 16 Jahre, wurde zunächst eine Hofdame zugesprochen. Sie setzte durch, dass es vier wurden.

Was hatte eine Hofdame zu tun? Sie musste schön sein, geschmeidig und geistreich in der Konversation sein, loyal und jederzeit zu Diensten sein. Sie teilte das öffentliche und private Leben der Fürstin. Eine Grundübereinstimmung in vielerlei Hinsicht war vonnöten. Hofdamen mussten auch über Menschenkenntnis verfügen, so dass sie auch miteinander auskommen konnten. Hofdamen dienten auch als Vorleserinnen, ließen sich Briefe diktieren, führten Reisetagebücher. Vielfach stammten sie aus weniger begüterten adligen Familien, wurden auf diese Weise versorgt. Sie mussten Weiteres beherrschen: zum Beispiel Tanzen, Französisch, Musikinstrumente spielen, Schreiben, Geografie, Geschichte, Religion, Kunst, Literatur, allerdings genügten hierfür einfache Kenntnisse. Sie mussten allem Neuen gegenüber aufgeschlossen sein.

Als Anna Amalia nach Weimar kam war sie hinsichtlich ihrer Umgebung schockiert. Als sie bereits 1758 Witwe wurde, reduzierte sie ihren Hofstaat. So entließ sie aus Rachsucht den bisherigen Premierminister Heinrich von Bünau. Der hatte dem Herzog und ihr die Schatullengelder entzogen, so dass er bei Ausgaben jedes Mal gefragt werden musste. Sie schaffte einige Hofämter ab. Ihren dynastischen Pflichten ist die Herzogin trotz des frühen Todes ihres Mannes noch gerecht geworden; sie gebar ihm zwei Söhne, Carl August und Friedrich Ferdinand Constantin. Als Witwe wurde der 18-Jährigen ihr Herzogtum von den kleinen Nachbarstaaten streitig gemacht. Mit Hilfe ihres Vaters konnte sie diese Ansprüche zurückweisen. Beim Kaiser in Wien wurde sie als volljährig erklärt. Allerdings regierte sie das Herzogtum als Stellvertreterin ihrer unmündigen Söhne. Sie durfte sich auch nicht wieder verheiraten, sie hätte sonst ihr Herzogtum verloren. Zunächst hatte sie sich mit zwei Hofdamen begnügt. Auf Grund ihrer nunmehr stark gehobenen Stellung wuchsen die Repräsentationspflichten; so kamen etliche Bedienstete hinzu: zum Beispiel Kammerfrauen, geringere Kammerjungfern, Garderobenmädchen, Sekretär, Kammerlakaien, Exerziermeister (Lehrer), Mundschenk, Pagen, Küchenmeister, Kutscher. Sie stellte nun auch drei Hofdamen ein, darunter Charlotte von Schardt, die spätere Charlotte von Stein. Wie wurde die Schardt ausgebildet? Ihre Mutter war sehr fromm, dies schlug sich auch auf die Tochter nieder, sie war sehr zurückhaltend, ernst und distanziert, dabei ausgeglichen und sanft. Sie beherrschte Reiten, Tanz, Musik, Französisch. 1763 bewarb sich Gottlob Ernst Josias Friedrich von Stein um die 21-Jährige. Er war wohlhabend, besaß das Schloss Kochberg. Es war eine standesgemäße Partie. Das Paar wurde im Residenzschloss getraut – ein großer Gnadenbeweis der Herzogin. Anna Amalia hatte die gesamte Hochzeit ausgerichtet. Aber der Ehemann entsprach nicht den hohen geistigen Ansprüchen Charlottes. Schiller meinte über ihn: „Sein Verstand ist in täglicher Gefahr“. Und sinngemäß: Die Männer dieser Familie sind so dumm wie das Sprichwort, die Weiber indes sehr gescheit. Eine Ursache  war ein Sturz des Oberstallmeisters, wobei ihm ein Splitter ins Hirn gedrungen war. Charlotte erlebte sieben recht schmerzvolle Geburten. Die vier Töchter starben, die drei Jungen überlebten, Fritz war ihr der liebste. Nach ihrer Heirat endete ihre Karriere als Hofdame, als Gast war sie jedoch bei Hofe gern gesehen.

Eine weitere wichtige Hofdame war Luise von Göchhausen, ein verwachsenes, kleines Wesen. Sie kam 1772 zu Anna Amalia. Zunächst erhielt sie kein Gehalt. Nach dem Schlossbrand 1774 zog sie mit der Herzogin ins Wittumspalais, wo sie zwei Mansardenzimmer bewohnte. Sie erweiterte ihren Handlungsspielraum, sie korrespondierte mit Goethes Urfreund Knebel und mit Goethes Mutter, die sie in Frankfurt/M. auch kennenlernte. Sie war eine sehr lustige, zu Scherz und Schalk aufgelegte Person. 1781 zog sie mit der Herzogin zu deren Sommersitz Schloss Tiefurt. Dort hatten nur wenige Menschen Zutritt, höchstens Gäste. Sie wirkte am „Journal von Tiefurt“ mit, das in vierzig Heften zu je elf Exemplaren publiziert wurde. Es versprühte vor allem den spielerischen Geist der beiden Frauen; einen künstlerischen „Dilettantismus“, wie ihn die Herzogin mochte. Auch Goethe hat daran lange Zeit mitgewirkt, zum Beispiel mit der „Ode auf Miedings Tod“ oder auch „Die Fischerin“. Nach Goethes Italienreise kam der Bruch mit dem „Dilettantismus“.  Um den rang Weimars zu erhöhen, galt es nun ernstes, professionelles künstlerisches Bestreben. Mit Herzog Carl August wurde besprochen: Unser Pfand ist die Kultur nicht mehr der Dilettantismus. Aber es gab den Wunsch der Herzogin, das Theater als Intendantin zu übernehmen. Goethe und Carl August wurden sich einig, dass dies auf keinen Fall erlaubt werden dürfe. Man setzte auf großes Theater, auf große Kunst mit professionellen Schauspielern. Schillers Dramen wurden gegeben, auch Komödien. Die Schauspieler wurden bezahlt. Goethe wurde Theaterdirektor. Die Herzogin zog sich ob dieser Zurücksetzung zurück.

Herzogin Luise besaß vier Hofdamen. Nach 1800 wurde deren Besoldung hochgestuft, von 75 Reichstalern auf 330 pro Jahr. Auch die weiteren Domestiken erhielten höhere Gehälter. Daneben besaßen die Hofdamen natürlich verschiedene Privilegien: frei Kost und Logis, Deputate, Brennholz, Wachs oder Talglicht, beim Tod der Fürstin eine Pension, wobei sie allerdings ausziehen mussten. Vieles änderte sich nach 1800, alles wurde nun in Geld ausgezahlt. Man lebte gewissermaßen nicht mehr in „einer Familie“.

Die russische Zarentochter Maria Pawlowna kam 1804 nach Weimar. In 55 Kutschen wurde ihr Hausrat mitgeführt. Sie bestand gegenüber ihrem Mann Carl Friedrich auf ihren Hofstaat. Der Kompromiss, auch aus Spargründen: Zwei Hofdamenstellen wurden abgeschafft, dafür drei Hoffräulein „eingekauft“. Die verdienten natürlich weniger. Höherer Rang erforderte mehr Personal. Sie bezogen Zimmer im Schloss, wurden zu ihren Aufgaben gerufen. Sie waren gebildet. So war Ottilie von Donnersmarck eine begabte Laienschauspielerin, Julie von Egloffstein eine tüchtige Zeichnerin, Henriette von Pogwisch begründete eine französische Lesegesellschaft, in ihren Zirkeln war auch Goethe tätig. Andere waren Schriftstellerinnen oder komponierten. Maria Pawlowna gründete viele soziale und kulturelle Einrichtungen.

Der Beruf der Hofdame überlebte das gesamte 19. Jahrhundert. Auguste von Watzdorf war Hofdame bei Großherzogin Sophie. Sie erhielt 1650 Mark jährlich. Sie galt als weibliche Repräsentantin neben dem Großherzog als „Staatsdame“. Mit ihrem Gehalt war sie keineswegs zufrieden, schließlich erhielt sie 4200 Mark jährlich und eine Dienstwohnung, Personal, Equipage und einen Haushalt, der ihrer Stellung entsprach. Sie stellte sich sozialer Verantwortung, bekleidete recht selbstbewusst ihr Arbeitsverhältnis. Weniger erfolgreich war ihrerzeit Luise von Göchhausen. Sie hatte 32 Jahre lang treu gedient. Doch nach dem Tod von Anna Amalia musste sie ihre Zimmer im Wittumspalais räumen. So erfuhren die Hofdamen nicht immer eine gnädige Behandlung.

 

Goethes Wörterbuch. Sein erotischer Wortschatz und die Sexualdebatten seiner Zeit

Vortrag von Dr. Michael Niedermeier, Berlin, am 5. Oktober 2021

Das Akademievorhaben Goethe-Wörterbuch ist eines der ambitioniertesten lexikographischen Unternehmungen in Deutschland. Auf Grund einer Denkschrift des Altphilologen Wolfgang Schadewaldt im Jahre 1946 an der Deutschen Akademie der Wissenschaften ins Leben gerufen. Das umfassend Konzept des Goethe-Instituts kam nicht zustande; die sogenannte Berliner Akademie-Ausgabe kam über eine Reihe von 31 Bänden reiner Textausgaben poetischer Werke und Schriften zur Literatur nicht hinaus und wurde schließlich abgebrochen. Die Goethe-Biografie erschien dann losgelöst vom Gesamtprojekt in Hamburg. Nur das Goethe-Wörterbuch überlebte – wie durch ein Wunder – sogar die deutsche Teilung. Sechs wuchtige Bände von barockem Umfang liegen bisher vor. Das Wörterbuch ist frei im Internet zugänglich. 2025 soll das Gesamtprojekt beendet sein.

Goethe verfügte über einen enormen Schatz von ca. 92 000 Wörtern, weil er auch viele naturwissenschaftliche Termini benutzte. Von Luther sind etwa 23 000 Wörter überliefert, von Schiller und Shakespeare etwa 30 000, von Puschkin ca. 21 000 und von Ibsen 27 000. Und doch fehlt noch ein Teil des Wortschatze, nämlich aus dem Bereich der Erotik und Sexualität.

Goethe erkundete ausgehend von antiken Überlieferungen und diskret verwahrten musealen Sammlungen die erotisch-kosmologische Symbolik von frühen atavistischen Religionen, wie die des Kultes des Abraxas als des höchsten Allwesens. Vulva und Phallus erkennte er dabei als antike Sinnbilder des umfassenden Naturkreislaufes. Fruchtbarkeit und Fortpflanzung prägten ebenso den antiken religiösen Kultus. So bezog sich Goethe in seinen „Venezianischen Epigrammen“ auf einen Sarkophag in Neapel, wenn er schreibt: „Seine Sarkophagen und Urnen verzierte der Heide mit Leben. Faunen tanzen umher, mit der Bacchantinnen Chor (…)“. Und er endet mit dem Wunsch für sein eigenes Lebensende: „Und so ziere denn auch den Sarkophagen des Dichters. Diese Rolle, die er reichlich mit Leben geschmückt.“

Neben der antik-klassischen Herkunft solcher heidnischen Fruchtbarkeitskulte idealisierten die europäischen Zeitgenossen begeistert die von Seefahrern wie James Cook entdeckten Sexualbräuche fremder Völker als Formen eines gleichsam noch naiven Verhältnisses von Kultur und Natur. Die Beobachtungen des freizügigen exotischen Sexuallebens der jungen Insulanermädchen auf Tahiti beflügelten die Phantasie. Goethe hatte in Kassel den jungen Georg Forster darüber in der Hofgesellschaft erzählen hören. Begattungsrituale waren in Tahiti Teil von öffentlich durchgeführten Zeremonialritualen, bei denen auch erstaunte Europäer anwesend waren. So berichtete der französische Südseereisende Bougainville: „Unter dem schönsten Himmel geboren, von den Früchten einer ohne Anbau fruchtbaren Erde genährt (…) kennen sie keinen anderen Gott als Amor. Alle Tage sind ihm geweiht, die ganze Insel ist sein Tempel, alle Frauen sind sein Altar, alle Männer die Opfernden. Und was für Frauen (…) Grazien in voller Nacktheit (…) die leichteste Gaze schwankt nach Wind und Begierde; der [Liebes-] Akt, seinesgleichen zu schaffen ist eine religiöse Handlung; die Vorspiele werden von den Wünschen und den Gesängen des versammelten Volkes angefeuert und das Ende wird von allgemeinem Beifall gefeiert; jeder Fremde ist zugelassen, um an diesen glücklichen Mysterien teilzunehmen.“

Goethe spielt in seiner berühmten Bearbeitung der berühmten Komödie „Die Vögel“ des Aristophanes für das Liebhabertheater auf Kochberg genau darauf an. Die komischen Haupthelden geben sich in Goethes Bearbeitung entsprechende Vogelnamen: „Otahitischer Mistfinke“ und „Großer Hosenkackerling“, beispielsweise. Kurioserweise spielte Goethe in Großkochberg sogar höchstpersönlich den Großen Hosenkackerling, während zunächst Freund Herzog Carl August, dann aber Prinz Constantin den Otahitischen Mistfinken spielen sollten.

Die breite Literatur und Pädagogik der bürgerlichen Aufklärung folgte indes der aufgeklärt daher kommenden aggressiven Sinnenfeindlichkeit und Triebregulierung, einer Kasteiung der Leidenschaften und moralischen Verdächtigung bis ins 20. Jahrhundert hinein. Von dieser Zensur blieb auch Goethe nicht verschont. Den Lexikographen fehlen somit aus Goethes erotischem Wortschatz eine Anzahl von Wörtern und Sprachbildern völlig, andere konnten erst nach intensiven philologischen Recherchen teilweise wieder lesbar gemacht werden. Manche Wörter sind absichtlich aus den Manuskripten herausradiert worden. Goethes letzter Urenkel Wolfgang hatte 1885 den handschriftlichen Nachlass Goethes der Großherzogin Sophie von Sachsen-Weimar testamentarisch überschrieben. Sie verfügte daraufhin, dass die große Weimarer Ausgabe, die sogenannte Sophien-Ausgabe, von Goethes Werken in Angriff genommen wurde. Sie sollte alle Schriften Goethes aufnehmen und dabei auch die Handschriften aus seinem Nachlass berücksichtigen. Anstößig empfundenen Verse der „Venezianischen Epigramme“ fielen dabei allerdings den scharfen Blicken, den Federmessern, Radierern und Scheren zum Opfer. Dies betrifft ebenso die nur als Handschrift vorhandenen Priapus-Verse aus den „Erotica Romana“, den „Römischen Elegien“ (ab 1788) sowie sein längeres Gedichtmanuskript „Das Tagebuch. 1810“. Teile davon verschwanden, schwer auffindbar in den Lesarten der Sophien-Ausgabe, andere wurden Jahrzehnte später, teils entschärft, im letzten Band der Werkabteilung, dem Band 53, veröffentlicht. Erst in späteren Werksausgaben, wie der Berliner, dann der Frankfurter und Münchener Ausgabe, wurden seit den 1970-er Jahren die inkriminierten Handschriften wieder mit den veröffentlichten Fassungen verbunden und lesbar gemacht.

Die „Venezianischen Epigramme“ hatte Goethe 1790 verfasst, als er im Auftrage Carl Augusts der Herzoginmutter Anna Amalia entgegen gefahren war. Anhand seiner Beobachtungen in der Stadt machte er sich lustig über die Bigotterie innerhalb der katholischen und das Schwärmertum in der reformierten Kirche lustig. Er hatte sich als Reiselektüre einen Band Martial mitgenommen und ließ sich von dessen frechen Epigrammen zu einem eigenen Vers-Büchlein anregen. Den gut versteckten Hintergrund der „Venezianischen Epigramme“, aber auch der „Römischen Elegien“ und des „Tagebuch-Poems“, vor der die gemachten erotischen Beobachtungen und Reiseeindrücke Kontur gewinnen, bildet das endlich Wirklichkeit gewordene erfüllte Liebeserleben mit der aus einfachen Verhältnissen stammenden Christiane Vulpius. Nur wenige Wochen nach seinen erotischen Italien-Erfahrungen mit jener unbekannt gebliebenen Faustina, einem Mädchen, das ebenfalls aus dem einfachen Volk stammte, gelang es Goethe im höfisch und kleinstädtisch geprägten Weimar sinnliche Erfüllung und freie Lieben zu finden. Dieses intime Liebeserleben mit Christiane verklammerte Goethe mit seiner Anschauung der gesamten lebendigen Natur, reflektierte hierbei auch über Religion und Gesellschaft. Zitat: „Es „ist mein Körper auf Reisen. Und es ruhet mein Geist stets der Geliebten im Schoos.“ So heißt es gleich einführend in den „Venezianischen Epigrammen“. Der Dichter resümiert in einem ausradierten Epigramm in Bezug auf  die offenbaren Folgen des anstrengenden Liebeslebens in der Stadt: „O so wisst ihr warum blaß der Venetier schleicht“.

Die Radierarbeiten ließen von den etwa 530 Versen der älteren Handschrift nur etwa 470 Verse übrig. Später konnten mehrere Verse wieder lesbar gemacht werden. Andere wiederum wurden rekonstruiert aus Textfassungen, die aus Goethes reisetagebuch stammen. Ungeklärt wird aber wohl auf immer der Wortlaut von immerhin noch etwa 30 Versen bleiben.

Für den Phallus hat der Dichter neben dem eher sachlichen „Glied“ oder „männlich Glied“ in seinen Versen auch so bildhafte benutzt wie Griffel, Rute, Pfahl, Gebein oder elfter Finger. Mehrfach hat er auch so ironisch-verhüllende wie anspielungsreiche Ausdrücke gewählt wie Knecht, Iste oder Meister Iste. Iste stammt vom lateinischen Demonstrativpronomen „ist“ und bedeutet jener, der da, dieser. Im 1810 verfassten privat-intimen „Tagebuch“-Poem ist es eben der Iste, der dem Reisenden auf dem Nachtlager mit einer nackten jungen Magd eigensinnig seinen Dienst versagt.

Wie Epikur und Lukrez negiert Goethe einen göttlichen Antrieb des Kosmos von außen. Überall in der belebten Natur erblickt er das Wirken einer sich stets wandelnden inneren generativen.  Sie zeige sich als unendlicher morphologischer Prozess eines stetigen Wechsels von Anziehung und Abstoßung sowie von Freiheit und Begrenzung. In der Natur offenbare sich dieser Prozess in einem immerwährenden Liebesreigen von Zeugung, Befruchtung, Geburt, Wachstum, Vermehrung und Absterben. Hierbei vertraut er nicht auf das Symbol des Kreuzes, sondern auf die Auferstehung des „Iste“, der die innere Triebkraft nach Fortpflanzung der Geschlechter in der Natur versinnbildlicht.

Ausflug nach Neustadt/O. und Nimritz

Ausflug der Goethegesellschaft nach Neustadt und Nimritz

Am 25. September fuhren die Mitglieder der Goethegesellschaften von Erfurt und von Gera gemeinsam

nach Neustadt an der Orla und nach Nimritz bei Pößneck.

Auf der Fahrt vom Geraer Hauptbahnhof bis nach Dürrenebersdorf machte Bernd Kemter die Erfurter auf wichtige Gebäude und Einrichtungen der Stadt aufmerksam: Schloss Osterstein, das Theater, den Hofwiesenpark, die Villa Schulenburg, den Tierpark und den Dahliengarten.

In Neustadt angekommen, liefen wir zum Markt.

Das bedeutendste Bauwerk am Markt ist das spätgotische Rathaus mit seinen reichen Steinmetzarbeiten. Seit 1464 vereinigte man zwei Gebäudeteile, den östlichen, etwas höheren Bau (bis dahin schon als Rathaus genutzt) und den westlich davon gelegenen Teil (die sogenannte Rathauskapelle) zu dem prachtvollen Gebäude.

In einem Durchgang vom Markt zum Kirchplatz findet man die Fleischbänke, eine mittelalterliche Ladenstraße der Fleischer und Bäcker. Von den ehemals siebzehn Verkaufslauben, die beiderseits angeordnet waren, sind noch neun erhalten. Dieses Zeugnis der Volkskunde aus dem Jahr 1475 ist in Europa einmalig und wurde im Jahr 2002 saniert. Die Anlage wurde vor mehr als fünfhundert Jahren zu dem Zwecke geschaffen, dass die Fleischer nur dort und unter Aufsicht eines vom Rat beauftragten Fleischaufsehers Fleisch verkaufen durften. Es wurde streng darüber gewacht, dass die Preise nicht unter- oder überboten wurden, dass die hygienischen Bestimmungen eingehalten und dass die Qualität des Fleisches den Anforderungen entsprach.

Die Stadtkirche St.Johannis wurde in den Jahren zwischen 1471 und 1528 erbaut. Den Innenraum schmückt ein Altarbild aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Älteren. Es handelt sich um den einzigen Cranach-Altar, der noch unverändert an seinem ursprünglichen Standort steht. Außerdem ist eine Orgel von Johann Georg Finke (1726) vorhanden. Zum Glockengeläut gehört die zweitgrößte Glocke Thüringens, „Susanna“, die 1479 auf dem Marktplatz gegossen wurde.

Nach der Besichtigung fuhren wir weiter nach dem kleinen Dorf Nimritz.

Zunächst gab es im Schlossgarten Rostbratwürste und Getränke. Nach dem wir uns gesättigt hatten, besichtigten wir das Schloss.

Das Schloss Nimritz wurde 2008 aufwändig nach Auflagen des Denkmalschutzes hochwertig und originalgetreu saniert. 1074 wurde das Schloss Nimritz erstmals als Wasserburg erwähnt.

Der geschichtsträchtige Adelssitz Schloss Nimritz ist ein Gesamtensemble, das aus einem Renaissance-Bau und dem mit ihm über eine geschlossene Brücke verbundenen barocken Neuen Schloss besteht.

1074 erstmals als Wasserburg erwähnt, erhielt des Alte Schloss seine heutige Gestalt in den Jahren 1565 bis 1569. Das barocke Neue Schloss wurde 1740 als Wohnsitz des Verwalters angebaut. Bis 1945 befand sich Schloss Nimritz ausschließlich im Besitz bedeutender Adelsgeschlechter Mitteldeutschlands, die auch Personen der Weltgeschichte hervorbrachten: von Beulwitz, von Etzdorff, von Bünau, von Beust. Die Linie derer von Münchhausen ist durch Eheschließung Schloss Nimritz verbunden.

Heute können Touristen Im Schloss Unterkunft finden. Die 164m² große Fünf-Raum-Wohnung, bestehend aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer, zwei Bädern, Küche, Flur und Arbeitszimmer bietet genügend Platz auch für eine größere Familie.

Nach der Schlossbesichtigung versammelten wir uns im Saal des Schlosses.

Vier Musiker in historischen Trachten traten auf, mit historischen Flöten, Zupfinstrumenten und Trommeln spielten sie alte europäische Volkslieder. Es war einfach großartig. Wir waren begeistert und haben das den Künstlern durch unseren Applaus unsere Freud über ihren Auftritt bekundet.

Anschließend gab es Kaffee und Kuchen und danach gönnten wir uns auch noch ein Gläschen Wein.

Es war schön, in geselliger Runde zu schwatzen und auch ein paar Lieder zu singen.

Zwischendurch erzählte uns Angelika Kemter von den Döbritzer Höhlen. Angelika hatte sich zu DDR-Zeiten als Journalistin damit beschäftigt und damals auch einen Artikel in der damaligen „Volkswacht“ veröffentlicht.

Die Döbritzer Höhlen stammen aus der Altsteinzeit. In der Döbritzer Schweiz gibt es Zechsteinablagerungen und recht fruchtbaren Boden. Das waren die Bedingungen für das Leben der damaligen Jäger und Sammler, die in der Döbritzer Höhle wohnten. Vermutlich war es nur eine Sippe von 14 Personen, die Wölfe gezähmt hatten, Wildpferde jagten und Tauschhandel trieben.

Sie besaßen schon hochspezialisierte Steinwerkzeuge.

Gegen 17.00 Uhr fuhren wir wieder nach Hause. Diesmal erzählte die Schauspielerin Otti Planerer jüdischeWitze. Zwei dieser Witze gefielen mir besonders. Ein 71Jähriger heiratet eine 17Jährige und als sie schwanger wird, fragt er den Rabbi, was er davon halte, ob es möglich sei, dass er der Vater sein könne. Der Rabbi antwortet: „Wenn du der Vater wärst, wäre es ein Wunder. Wenn du nicht der Vater bist, wäre es denn ein Wunder?“ Oder:  Ein Jude kommt zum Metzger und zeigt geradewegs auf einen Schinken und sagt: “Ich hätte gern diesen Fisch dort.”
“Aber das ist doch ein Schinken!”
“Mich interessiert nicht, wie der Fisch heißt…”

Wir sangen dann auch noch einige Volkslieder und als wir in Gera ankamen, waren wir uns einig. Es war eine sehr interessante, gut organisierte Ausfahrt und wir freuen uns schon auf die Ausfahrten im nächsten Jahr.

 

 

Der junge Goethe im Konflikt mit Kirche und Aufklärung

Vortrag von Dr. Thomas Frantzke, Leipzig, am 7. September 2021

Goethes Verhältnis zur Amtskirche war distanziert. Er geht nicht in die Kirche, betet selten, heißt es in einem Brief. Er hat seine Probleme mit der Institution Kirche (darüber gibt es in unserer Gesellschaft bereits viel Literatur, so dass dies hier nicht näher ausgeführt werden muss).

Der Referent ging sodann auf ein kleines Werk Goethes ein: „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“. Hier nimmt Goethe die frömmelnde Heuchelei aufs Korn, wie denn auch die Reformation mit einem „Mönchsgezänk“ begann. Und er tritt für Toleranz ein. Die Form (der Religionsausübung) ist einerlei, wichtig allein ist der eigene Glaube.

All dies muss man im Zusammenhang mit der damaligen Zeit sehen. Junge Schriftsteller des Sturm und Drang, zu denen Goethe gehört, lehnen sich gegen die vernünftelnde Aufklärung auf, gegen ihre Belehrungen und ihre Gefühlskälte. Sie plädieren dafür, dem Gefühl, dem Herz Platz einzuräumen. Und sie plädieren für die Rechte des „Originalgenies“.

Diese Schwärmerei ruft natürlich Kritiker auf den Plan, so Bodmer und Lavater, von dem sich Goethe zusehends distanziert. So bezeichnet der Schwager Lavaters den Goethe als „Schwärmer“ und „Tollhäusler“.

Gegen die kirchliche Kritik wendet sich Goethe beispielsweise in seinem Werk „Der ewige Jude“, das zu seinem Glück erst 1834 veröffentlicht wurde, ansonsten hätte es seiner Karriere wohl sehr bald ein Ende gesetzt. Die Fabel des in Knittelverse gesetzten Epos: Christus kehrt nach 1774 Jahren auf die Erde zurück, um zu sehen, was aus seiner Lehre geworden ist. Er trifft Ahasver, der Jesus einst am Kreuze verspottet hatte. Bei den angetroffenen gesellschaftlichen Verhältnissen läuft Jesus Gefahr, ein zweites Mal gekreuzigt zu werden. Goethe führt verschiedene religiöse Strömungen auf: Katholiken, Lutheraner, Pietisten Methodisten, und meint, dass sie als Narren doch im Grunde genommen allesamt der gleichen Narretei verfallen sind. Andererseits äußert sich Goethe über Luther durchaus wohlwollend, wenn eine gute Stellung in der Kirche auch zu einem bequemen Sessel und zur Behäbigkeit verleitet.

Doch Kritik erwächst auch aus den Aufklärern, so durch Friedrich Nicolai, dem neuen deutschen „Literaturpapst“ (zuvor Gottsched), Herausgeber der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“. Nicolai hat den literarischen Wert von Goethes „Werther“ durchaus erkannt. Aber ihn erzürnt Werthers Selbstmord – eine Todsünde. Nicolais Mittel der Kritik war in der Regel die Polemik. was oft zuerst heftige Reaktionen der Betroffenen auslöste und dann in literarische Dispute ausartete, die häufig von beiderseitiger Rechthaberei gekennzeichnet waren. Dies betrifft auch die Kontroverse mit dem jungen Goethe. Nicolai setzte dessem tragischem Werk den Titel „Die Freuden des jungen Werther“ mit glücklichem Ausgang. Albert lädt Werthers Pistole mit Hühnerblut, tritt als Verlobter Lottes zurück. Lotte und Werther heiraten, bekommen Kinder, Haus, Garten, schicken sich in die Bedingungen einer bürgerlichen Existenz.

Goethe konterte mit dem bissigen Gedicht „Nicolai auf Werthers Grabe“:

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt’ notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohl er atmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!“

Das Gedicht wird allerdings nicht veröffentlicht. Goethes „Werther“ ist auch ein Angriff gegen die kirchliche Institution. So heißt es zum Schluss: Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Ein christliches Begräbnis bleibt also dem Selbstmörder verwehrt. Doch gerade von der Geistlichkeit wird ja christliche Nächstenliebe erwartet.

Zu den prominenten geistlichen Kritikern von Goethes Briefroman gehört der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, der Feind Lessings. Er spricht von einer Apologie Goethes auf den Selbstmord und antwortet mit der diffamierenden Schrift „Der unbegabte Goethe“. Ist es eine Heldentat, den Lebensfaden mit eigener Hand abzuschneiden? Goeze setzt Suizid mit Mord und Totschlag an sich gleich. Kein Unterschied. Und somit würden in „unserem Christentum Sodom und Gomorrha herrschen“.

Ein weiteres Beispiel für Goethes Kritik an den kirchlichen Institutionen ist sein Jugenddrama „Stella“, ein Schauspiel für Liebende. Fernando fühlt sich als Gefangener in seiner Ehe mit Cäcilie. Er trifft Stella, verliebt sich in sie. Cäcilie sucht ihren Mann, findet ihn im Beisein mit Stella. Doch sie akzeptiert diese Liebe, „eine Wohnung, ein Bett, ein Grab“.

Der Stoff – in der ersten Fassung von 1775 – geht auf die Legende des Grafen Ernst von Gleichen zurück, der auf einem Kreuzzug im Morgenland in Gefangenschaft gerät und von einer Sultanstochter gerettet wird. Als er zurückkehrt, nimmt er sie mit, verheiratet sich mit ihr – im Einverständnis seiner Ehefrau – in morganatischer Ehe zur linken Hand. Alle genießen die Ehe zu dritt.

Doch auch Bigamie ist wie Selbstmord eine Todsünde. Wieder erntet dieses Stück heftige Kritik, so von den Pietisten, und wieder ist Goeze dabei. Es sei eine verdammungswürdige Sache, auf diese Art die Jugend zu verderben. Goethe habe nicht nur gegen kirchliche Schranken und Verbote verstoßen, sondern auch gegen gesellschaftliche Normen insgesamt. Aus diesen ersichtlichen Gründen wurde „Stella“ seinerzeit nur selten aufgeführt.

Auf Feensteig und Baumkronenpfad

Ausflug in den Hainich

Nach coronabedingter langer Pause konnten wir Ende Juni 2021 endlich unsere Vereinstätigkeit wieder aufnehmen. Ein Ausflug in den Hainich stand auf dem Programm. Von Dieter Schumann hervorragend organisiert, ging es zunächst zum Feensteig. Wie nicht qanders zu erwarten, wurden wir von einer richtigen Fee begleitet. Auf dem ca. drei Kilometer langen Rundwanderweg durch herrliche sonnige Natur erfuhren wir vieles über den entstehenden Urwald im Hainich, der ein zusammenhängendes, durch keine Straße zerschnittenes Gebilde darstellt. Die Fee stellte zudem einige Kräuter vor. All dies war ein stimmungsvoller Auftakt.

Der Bus brachte uns sodann zum Baumkronenpfad. Hier trennte sich die Gruppe, denn das Programm war nicht für alle zu schaffen. Auf den Pfad, mittelsw Lift, schafften es jedoch fast alle. Nur die Länge der Wegstrecke hoch über den Wipfeln der Bäume fiel individuell verschieden aus. Der Blick aus dieser Perspektive ist natürlich nicht alltäglich und eher den Vögeln vorbehalten.

Im Schloss Behringen stärkten wir uns bei Kaffee und Kuchen, ehe uns das Ensemble Red Piano, Musiker des Erfurter Theaters, mit Gesang und Klavier erfreute; ihr Repertoire reichte von Operette, bis Musical und  anderen Genres.

Ein Abendessen beschloss diesen schönen Tag.

Schiller. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten

Vergnügliche Lektüre – Erstaunliches und Unbekanntes

 

„Schiller – Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten“. Vorweg, dieser Titel hält, was er verspricht. Somit ist Dagmar Gaßdorf und Berthold Heizmann ein Büchlein gelungen, das neben Bekanntem auch Erstaunliches und Unbekanntes über den prominenten Klassiker und Goethefreund vereint. Die Lektüre ist nicht nur allen „Pappenheimern“, sondern jedem Literaturinteressierten zu empfehlen. Somit gewährt der Blick vom „Schiller-Balkon“ neue Einsichten, die jene Überzeugung erneuern, ja bekräftigen, zu der man bereits als jugendliche Leseratte gelangt war: Dieser Schiller – was für ein Kerl!

Selbst wer sich seufzend, ablehend gar an vergangene Schulstunden erinnert, in denen man mit schweißiger Stirn, in verzweifelt stockender Rede den „Taucher“ aufsagen musste, um lediglich eine mäßige Note einzufangen, wird jetzt sein Vergnügen an Schiller finden. Zuvörderst ins Auge springender Vorzug dieses Büchleins: angenehme Kürze der Kapitel, flotte, klare Sprache, reizvolle Illustrationen. Unaufdringlich erfolgt der Einstieg ins Thema, die Einordnung in „Schiller und seine Zeit“. Der Heißsporn Schiller wendet sich gegen die vernunfttümelnde Aufklärung, seine Dramengestalten erweisen sich als beherzt tatkräftige Protagonisten ungehemmten Freiheitswillens. Wobei: Deren historische Originale waren zumeist weit entfernt von jenem Idealanspruch; dafür möge als Beispiel Don Carlos stehen, im wahren Leben eher ein Schwächling und Versager als ein Heros. Immerhin wird man wieder einmal an den berühmten Ausspruch des (erfundenen) Marquis Posa an den spanischen König Philipp II. erinnert: „Sire,geben Sie Gedankenfreiheit!“ Welch ein kühnes Ansinnen, zur Zeit Philipps undenkbar, im Grundrauschen der späteren Französischen Revolution jedoch durchaus gerechtfertigt.

Verblüffenderweise kommt im nächsten Kapitel Statistik zu ihrem Recht. Aber: ebenfalls interessant! Wer hat schon gewusst, dass es in Deutschland 2163 Schillerstraßen gibt, einen historischen Raddampfer mit seinem Namen, einen Asteroiden, 21 Schiller-Denkmäler und drei Schillertürme? Die Friedrich-Schiller-Universität Jena gibt es natürlich auch. Leider vermisst man in der Aufzählung das Schillerhaus in Rudolstadt, in den vergangenen Jahren mit  großem Aufwand restauriert, inzwischen ein Mekka der Schillerfreunde geworden. Schade!

Familiäre Verhältnisse folgen. Der Bub, nach den Worten des Vaters „närrisch wore“, widmet sich schon frühzeitig ersten Schreibversuchen, schlägt also völlig aus der Art. Das innige Verhältnis zu den drei Schwestern gerät in scharfen Gegensatz zum Alltag in der herzoglichen Karlsschule: Prügel, Strafzettel, zum Beispiel, wenn man bei der Lektüre von Goethes „Werther“ erwischt wird, Drill, Essensentzug bei den geringsten Vergehen, eiserne Disziplin. Doch der sensible Jüngling erweist sich als wahrer Kämpfer, der sich seine Gedankenfreiheit selbst von seinem Herzog nicht nehmen lässt. Weiteres ist sicherlich gut bekannt: der wenig zimperliche Regimentsarzt Schiller, der sich mehr dem Schreiben als dem Dienst an seinen Patienten widmet, zuvor die heimlichen Lesungen aus den „Räubern“ vor Mitschülern im Wald, die sensationelle Aufführung im Mannheimer Theater, die Flucht mit Freund Streicher. Alles kurzweilig erzählt, doch was gibt es noch Neues zu entdecken?

Nun, möglicherweise ist Klassikerfreunden durchaus einiges unbekannt. Steht jedenfalls zu vermuten. Prüfe jeder selbst. Schiller humorlos? Das Büchlein tritt den Gegenbeweis an. Schiller als Comic-Zeichner? Lässt sich nachlesen. Der Schwabe als Komödienschreiber? Wer hätte das gedacht? Doch bitte:  Das später als „Körners Vormittag“ abgedruckte Lustspiel behandelt nichts weniger als die „Verstopfung“, unter der der Freund leidet; gemeint ist dabei dessen Schwäche, Begonnenes nur mühsam zu Ende bringen zu können. Und weiter. Dem Marbacher wäre heutigentags behördliches Stirnrunzeln gewiss sicher. Warum? Schiller besaß sozusagen die doppelte Staatsbürgerschaft. Man weiß ja: die Ehrenbürgerwürde der revolutionären Französischen Republik. Immerhin: Dem späteren, von Goethe eingefädelten Adelstitel für seinen Freund stand diese Ehrenbürgerschaft nicht im Wege. Andererseits machte sich Schiller, ganz der typische Aufwiegler, gar nichts draus!  – ganz anders als Goethe. Im Gegensatz zu diesem war Schiller finanziell auch nie auf Rosen gebettet. Wen wundert’s daher, dass der stets an Geldnot Leidende den Verlockungen honorarträchtiger Trivialliteratur erlag. Verwerflich gewiss, doch wer wollte es ihm verdenken? „Kohle mit Krimis“ machen – dafür steht die Psychostory „Verbrecher aus verlorener Ehre“. Ja, in der Tat, dieser, ins Seelenleben eines Kriminellen vorstoßende Roman darf wohl als Erstling seiner Gattung gelten. Einen echten Coup landete Schiller indes mit dem „Geisterseher“, das der bekannten Figur des Cagliostro folgt. Sogar einen Roman mit chinesischer Thematik plante der Erfolgsautors; das Publikum seiner Zeit war nachgerade begierig nach solchen exotischen Themen. Wundert es noch, dass der umtriebige Schiller sogar als Erfinder des Fortsetzungsromans angesehen werden muss? Welch eine Vielseitigkeit! Schiller – eine wahrhaft schillernde Figur. Die nicht einmal auf „alternative Fakten“ verzichtet, wie man aus dem Buch erfährt.

Natürlich werden darin auch all die bekannten Themen behandelt, die nun einmal zu Schillers Schaffen gehören: die „Glocke“, seine berühmte „Ode an die Freude“, die im weiteren Verlauf durchaus komische, ja lächerliche Passagen enthält, die qualvolle Anbahnung der Freundschaft mit Goethe, das Hin und her-Geworfensein zwischen den beiden Lengefeld-Schwestern, der Shitstorm, den die „Xenien“ auslösten, die berühmten fauligen Äpfel in der Schublade …

Beeindruckend neben aller gewürzten Kürze besticht das Büchlein durch seine Vielfalt eingesetzter textlicher und typografischer Mittel. Aussagekräftige, geschickt platzierte Bilder und eine Chronik runden das kleine Werk ab. Überdies kann man sich an einem Schiller-Quiz beteiligen und auf der vorletzten Seite prüfen, ob man richtig lag. Ja in der Tat, dieses Büchlein steckt voller Überraschungen.

 

Dagmar Gaßdorf & Bertold Heizmann: Schiller. Populäre Irrtümer und andere Wahrheiten. Klartext Verlag Essen 2021. 1. Auflage. 104 S. ISBN: 978-3-8375-2327-0