Rückblick

Fritz von Stein (1772 – 1844) – ein erfülltes Leben zwischen Weimar und Schlesien

Vortrag von Prof. Detlef Jena, Rockau

Fritz von Stein war eine liebenswürdige, aufgeschlossene Natur, wurde als Knabe in Goethes Haus aufgenommen. Von dort musste er vierzehntägig Goethes Mutter nach Frankfurt in „geheimer Mission“ berichten, was ihr Sohn so trieb, denn Goethes Verhältnis zu seiner Mutter, der Frau Rätin, war komnpliziert. Obwohl er glänzende Aussichten hatte, am Weimarer Hof eine Stellung zu bekleiden, trennte er sich von der Stadt an der Ilm. Er ging lieber in preußische Dienste nach Schlesien. Dies wurde in Weimar sehr übel aufgenommen. Er blieb zwar mental mit Weimar verbunden, kam auch zu Besuch, blieb jedoch zeitlebens in Schlesien, wo er einflussreiche Posten bekleidete.

Ein Amt hing mit einem Johann Georg Knie zusammen. Der wurde 1794 in Erfurt geboren, erblindete durch Blattern. Durch seine vermögenden Eltern erwarb er sich eine reiche Bildung, besuchte beispielsweise die Blindenschule in Berlin. Später kam er nach Breslau, wo Wilhelm von Humboldt 1811 eine Universität gegründet hatte. Knie studierte dort Mathematik und Geografie. Er beschloss, in Breslau zu bleiben, gründete dort eine Unterrichtsanstalt für blinde Kinder. Blinde wurden bis dahin als Kranke behandelt, denen man Fürsorge angedeihen lassen musste. Anders Knie: Er forderte, dass Blinde als vollwertige Menschen anzusehen seien, unter Berücksichtigung ihres Leidens seien sie zu selbstbewussten Bürgern zu entwickeln. Knie wurde Direktor seiner Anstalt und als Ko-Direktor fungierte – Fritz von Stein. Knie unternahm einen Selbstversuch, zog mutterseelenallein über drei Monate lang kreuz und quer durch die deutschen Staaten, um zu beweisen, dass blinde Menschen, wenn sie genau notwendige Bedingungen beachten, durchaus in der Lage sind, ein eigenständiges Leben zu führen. Dazu gehörte auch Arbeit. Die blinden Kinder und Jugendlichen in Knies Einrichtung erwarben sich in eigens aufgesuchten Manufakturen und durch spezielles Werkzeug ihren Lebensunterhalt und letztlich auch den Erhalt ihrer Schule.

Stein wolte den Geist Weimars auch nach Schlesien tragen, als enger Vertrauter Goethes der klassischen deutschen Literatur auch in Breslau eine Heimstatt schaffen. Mehrere Besuche in Weimar und Korrespondenzen mit der Ilm-Stadt trugen hierzu bei. Der Goethe-Forschung gilt es als größte Leistung, dass Fritz von Stein von seiner Mutter Charlotte 1827 ihren Briefwechsel mit Goethe – nach 1794 gab es wieder eine gewisse Annäherung zwischen beiden – übernahm und für eine spätere Veröffentlichung sorgte. Immerhin kamen drei Bände zusammen.

Es existieren etwa 400 Briefe aus Weimar an Fritz von Stein, sie wurden 1907 veröffentlicht. Vierzig Jahre lang unterhielt Fritz von Stein eine rege Korrespondenz mit seiner Freundin Charlotte von Lengefeld, verheiratet Schiller. Dieser Briefwechsel wurde 1860 publiziert, doch seitdem kaum zur Kenntnis genommen. Es gibt auch Briefe von Goethe an Fritz.

1795 kam Fritz von Stein als Assesor nach Schlesien, machte rasch Karriere, wurde Kriegs- und Domänenrat, was allerdings nur ein Titel bedeutete. Seine Entscheidung, im Land zu bleiben, führte zwei Jahre später dazu, dass er vom preußischen König zum Direktor der Kunst- und Gewerbeschule in Breslau berufen wurde. Sie kann durch ihre Beschäftigung mit Architektur, Inneneinrichtung, Materialien wie Holz, Keramik, Papier in gewissem Sinne als Vorläufer der Bauhaus-Akademie angesehen werden. Diese Akademie besteht bis heute.

Fritz von Stein leitete sie acht Jahre lang. Er hat den Posten durch die napoleonische Besetzung Schlesiens letztlich aufgeben müssen.

Zwischen 1807 und 1810 erlebte er seine schlimmste Zeit. Er war nicht nur arbeitslos, sondern auch Witwer, musste drei Kinder durchbringen. Er ließ vorzeitig sein Erbe – 30 000 Taler – auszahlen und kaufte ein Gut, das von den napoleonischen Truppen jedoch geplündert wurde. Die Frau aus seiner zweiten Ehe – aus sehr vermögender Familie stammend – investierte zwar in das Gut, verließ ihn jedoch nach kurzer Zeit, ging zu ihren Eltern zurück, da sie nicht mehr mit ihm zusammenleben wollte.

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Schlesien war infolge der Kriegswirren ein bettelarmes Land. Die Wirtschaft war völlig zusammengebrochen. Aus diesem Grund, um Gewerbe und Landwirtschaft wiederzubeleben, veranlasste Friedrich II. 1777 die Gründung einer „Schlesischen Landschaft“ – eines Darlehens- und Kreditinstitutes für den schlesischen Adel. Fritz von Stein wurde deren Generallandschaftsrepräsentant, vom Adel gewählt, allerdings nur für den niederschlesischen Bereich. Allerdings besaß er weiterreichenden Einfluss für ganz Schlesien, war er doch zugleich Mitglied des Zentralgremiums dieser Einrichtung. Selbige besaß neben finanziellen Obliegenheiten noch eine weiteres Tätigkeitsfeld: Die Institution sollte mit der Geldvergabe zugleich dafür sorgen, dass die neuesten Erkenntnisse der Agrarwirtschaft, des Handels, von Forschung und Technik Einzug ins schlesische Wirtschaftsleben fanden. Diese Ambitionen erstreckten sich ebenso auf die Schlesische Sozietät, die wissenschaftliche Erkenntnisse für den Adel bereitstellen sollte, um ihm bei der Gestaltung moderner Produktion zu helfen. Dieses System funktionierte jedoch nicht.

Daraufhin wurde 1803 die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur gegründet, die später in scharfe Konkurrenz zur jungen Universität trat. Die Gesellschaft vereinigte in sich namhafte Gelehrte. In diese Gesellschaft wurde 1820 Fritz von Stein als Präsident berufen. Er sorgte dafür, dass Goethe Ehrenmitglied wurde. Durch seinen liebenswürdigen Charakter gelang es ihm, Streit zu schlichten, Kompromisse auszuhandeln, Interessen auszugleichen.

Ich winde mich um deinen Schoß und Busen – Herder und die Liebe

Vortrag von Dr. Egon Freitag am 10. Oktober 2023

Er bezeichnete sich selbst als einen erotischen Menschen, verfasste somit auch erotische Texte. Er lernte die aus dem Elsaß stammende Caroline Flachsland kennen Sie hatte in Herders Straßburger Zeit 1770 eine Predigt von ihm gehört. Dieses Zusammentreffen erschien als Gottes Wille. Beide lasen Gedichte von Klopstock. Er nante sie Engel in mehrfachen Variationen, wie Unschuldsengel, Frühlings- und Unschuldsblume. Er nannte sie oft auch Lina. Die Eheschließung bedurfte einiger Formalitäten, so musste sie einen notariell beglaubigten Taufschein beschaffen oder ihm das Original zuschicken. Das Ehebett für die Flitterwochen sollte sie selbst besorgen, sie führte detailliert auf, was hierzu an Wolle, Federn etc. benötigt wurde. Dieses Liebeslager wurde ganz genau geplant.

Am 2. Mai 1773 fand in Darmstadt die Hochzeit statt, Goethe war zugegen. Die Hochzeitsreise führte auch nach Frankfurt/Main, wo das Paar Goethes Eltern kennenlernte. Herder brachte allerdings auch 600 Gulden Schulden in die Ehe. Dennoch begann eine glückliche Zeit. Für ihn war Caroline ein schwebender Engel in dieser Welt.

Nach seiner Auffassung war der Geschlechtstrieb der mächtigste. 1776 begrüßte Wieland das Paar in Weimar, Goethe war mit dem Herzog gerade auf der Jagd. Goethe kam den Tag darauf zur Begrüßung.

Letztlich hatte die Familie acht Kinder, sieben Söhne und eine Tochter. Die Haushaltsführung war schwierig, stets schwebte man in Geldsorgen. Caroline erwies sich als eine ebenbürtige Partnerin. Gleim schätzte ihre Mitarbeit. Aber es gab mitunter auch Streit. Dann wechselten vom Dienstboten gebrachte Briefe von der unteren zur oberen Etage. Schließlich fiel ihr Herder um den Hals, und aller Streit fand sein Ende. Beide lebten immer über ihre Verhältnisse. Der Haushalt, die Kinder und Bücher verschlangen viel Geld. Herzog und Herzogin halfen, Goetha auch und Wieland, schließlich gewährte der Herzog eine zusätzliche Zahlung über 300 Taler pro Jahr. Aber auch dies reichte nicht. Herder gab seine „Lieder der Liebe“ heraus. Er verherrlichte die Nacktheit als griechisches Ideal. Das beste Kleid sei nur ein Hindernis wandte er sich gegen Prüderie und „einpressende Klosterlumpen“. Die Griechen seien hingegen zur Freude und Lust geboren. „Ich will nicht umsonst ein Mann sein“, bekundete er. An sich war er ein treuer Ehemann, doch dies wurde 1778 auf eine ernste Probe gestellt. Er verliebte sich in die elf Jahre jüngere Friederike Schaardt. Sie langweilte sich in Weimar, kam oft ins Pfarrhaus, die 22-Jährige erwies sich als geistreich, zierlich, anziehend. Sie war Mitarbeiterin am Tiefurter Journal und wirkte ebenso am Liebhabertheater mit. Seine Leidenschaft konnte Herder nur mühsam zurückhalten, letztlich geriet das Ganze zu einer idealischen Seelenliebe. Somit war seine Ehe nicht gefährdet. Allerdings, auf einer Reise im Harz 1783, wollte er sie heimlich treffen. Dies gelang in Blankenburg.

Herder versuchte, seine Frau an dieser Freundschaft teilhaben zu lassen. Caroline ließ sich darauf ein.

Herder trat eine große Italienreise an. Im Vatikan wurde er als Bischof von Weimar vorgestellt. Ein Abt meinte zu ihm: „Wie kann ein Geistlicher seine Frau so lange ohne Aufsicht und Weide lassen?“ Herders Antwort: „In Deutschland haben wir zum Glück die Stallfütterung eingeführt.“

Er lernte auch die berühmte Malerin Angelica Kaufmann kennen. Beide waren sich sympathisch. Herder besuchte die Museen des Vatikans, bewunderte die von Fackeln beleuchteten, wunderbare Schattenspiele erzeugenden Skulpturen von Venus, Diana und Jupiter, Er erlebte somit die Einheit harmonsichen Lebens auch von Menschen, sein Credo: Licht, Liebe und Leben.

Goethe als Patient

Vortrag von Prof. Dr. L. Engelmann, Leipzig, am 5. September 2023

Goethe als Patient

Goethes Genialität beruht ebenso „in zäher, beharrlicher, zuchtvoller Tätigkeit und Kreativität“ (Nager: „Goethe, der heilkundige Dichter“) und auf der Fähigkeit des Ausharrens, der Mäßigung, des Verzichts und der Entsagung.

Doch waren auch bedeutende Ärzte um ihn herum. In der Straßburger Zeit gehörte Georg von Zimmermann, ein engagierter Vertreter der neu aufblühenden hippokratisch, auf Erfahrung und Beobachtung orientierten Medizin und späterer Leibarzt Friedrichs des Großen, zu seiner Tischrunde. In Weimar wählte er den Jenaer Medizinprofessor Christian Wilhelm Hufeland, Mitbegründer der Geriatrie und der medizinischen Prävention, als Hausarzt. Nach dessen Berufung an die Charite wurde Johann Christian Starck, ebenfalls Professor in Jena, Goethes Leibarzt, Berater und Gesprächspartner.

In den krankheitsbelasteten Jahren, beginnend mit Schillers Tod, behandelte ihn Oberbergrat Johann Christian Reil in Halle, 1816 bis 1825 betreute ihn Wilhelm Rehbein und schließlich Carl Vogel bis zu Goethes Ende. Nicht zu vergessen, dass sein engster Freund Schiller ebenfalls Arzt war.

Goethes Vorliebe für Anthropologie, Psychologie und Psychiatrie führte ihn mit Johann Christian August Heinroth, Professor für Psychiatrie in Leipzig, und dem Universalgenie Carl Gustav Carus, Gynäkologe, königlicher Hofarzt in Dresden, Maler, Philosoph und Psychologe, zusammen.

Interessant ist vor allem die Sepsis mit ihren Spielarten und Folgen, und diesen intensivmedizinischen Stoff treffen wir in Goethes Krankengeschichte immer wieder.

Goethes Leben begann wie bei jedem anderen Menschen mit dem heute noch gefährlichsten Lebensabschnitt – der Geburt. Der Junge kam asphyktisch (Atemdepression mit Sauerstoffmangel) zur Welt. Er schreibt in „Dichtung und Wahrheit“: „Dieser Umstand (Ungeschick der Hebamme), welcher die Meinigen in große Not versetzt hatte, gereichte jedoch meinen Mitbürgern zum Vorteil, indem mein Großvater, der Schultheiß Johann Wolfgang Textor, daher Anlass nahm, dass ein Geburtshelfer angestellt und der Hebammen-Unterricht eingeführt oder erneuert wurde, welches dann manchem der Nachgeborenen mag zugute gekommen sein.“

Die erste Klippe umschifft, befallen den Frankfurter Bub Masern, Windpocken und echte Blattern.

Allerdings sind Blattern in Zweifel zu ziehen, denn Pocken hinterlassen tiefe Narben, weil die Infektion alle Hautschichten befällt, Windpocken dagegen befallen nur die Oberhaut, und die Blasen heilen narbenfrei ab. Goethe-Porträts mit Pockennarben gibt es nicht, und bei seiner Ankunft in Weimar wird von der Damenwelt vom „Schönling“ geschwärmt.

Bereits in den Frankfurter Jugendjahren wird Goethes psychosomatische Projektion deutlich, wonach er bei psychischer Anspannung mit körperlichem Unwohlsein, bisweilen mit Krankheit reagiert.

In einer Julinacht 1768 wacht der Jüngling „mit einem heftigen Blutsturz auf“ (erste lebensgefährliche Erkrankung). Wahrscheinlich handelte es sich um eine Blutung aus einem Magen- oder Darmgeschwür. Der „Blutsturz“ hätte aber von schwarzer Farbe sein müssen, denn die Magensäure oxidiert das rote Häm zum schwarzen Hämatin. Davon ist allerdings keine Rede. Dennoch scheint eine Magenblutung als sehr begründet, denn Goethe schreibt: „Schon zu Hause hatte ich einen gewissen hypochondrischen Zug mitgebracht, der sich in dem neuen sitzenden und schleichenden Leben eher verstärkte als verschwächte. Der Schmerz auf der Brust, den ich seit dem Auerstädter Unfall von Zeit zu Zeit empfand und der, nach dem Sturz mit dem Pferde, merklich gewachsen war, machte mich missmutig. Durch eine unglückliche Diät verdarb ich mir die Kräfte der Verdauung; das schwere Merseburger Bier verdüsterte mein Gehirn, der Kaffee, der mir eine ganz eigene triste Stimmung gab, besonders mit Milch nach Tische genossen, paralysierte meine Eingeweide und schien ihre Fuktionen völlig aufzuheben, so dass ich deshalb große Beängstigungen empfand, ohne jedoch den Entschluss zu einer vernünftigeren Lebensart fassen zu können. Meine Natur, von hinlänglichen Kräften der Jugend unterstützt, schwankte zwischen Extremen von ausgelassener Lustigkeit und melancholischem Unbehagen.“

Das ist eine typische Psychopathologie, wie wir sie bei Ulkuspatienten auch heute noch finden.

In die differentialdiagnostischen Überlegungen war von verschiedenen Seiten auch eine Lungenblutung, am ehesten infolge einer Lungentuberkulose einbezogen worden. Über ein damit verbundenes Erstickungsgefühl wie für eine Lungenblutung typisch, wird aber nicht berichtet.

Dass Goethe an einer Tuberkulose litt, gilt als möglich, weil „sich bei jeder Eruption zugleich ein Geschwulst an der linken Seite des Halses gebildet hatte, den man erst jetzt, nach vorüber gegangener Gefahr zu bemerken Zeit fand“.

Ein solcher Abszess kann als kalter Abszess – eine Lymphknotentuberkulose – Teilbefund der Tuberkulose sein, gehört dagegen nicht zum blutenden Magengeschwür.

Goethes Leben wird durch den Griff zum Messer gerettet (zweite lebensgefährliche Erkrankung). „Der Cirurgus … von leichter und geschickter Hand, leider etwas hektisch“, eröffnet nach Goethes Rückkehr aus Leipzig diese dicke Geschwulst am Hals. Der Patient bekommt wieder Luft und gewinnt „die Heiterkeit des Geistes“ zurück. Aber erst 1769 ist er wieder genesen. Er verlässt Frankfurt in Richtung Straßburg, um seine in Leipzig begonnenen Studien abzuschließen.

Er wandert viel, schnell und weit. Er unternimmt einen 400-km-Ritt durch das Elsass und Lothringen. „In allen körperlichen Übungen“ behauptet später sein Leibarzt Christoph Wilhelm Hufeland, „war er bald der Erste: im Reiten, Fechten, Voltigieren, Tanzen“.

Die Folgejahre in Weimar seit 1775 sind von drei Krankheitskomplexen gekennzeichnet: die seit der Leipziger Krankheit regelmäßig wiederkehrenden Bronchialkatarrhe und Anginen, verbunden mit Muskel- und Gelenkschmerzen, Verdauungsstörungen (2.) und (3.) gehäuft heftige Zahnschmerzen. Dazu gesellt sich eine große Wetterfühligkeit. Sein häufig gestörtes Wohlbefinden ist geprägt bisweilen von Gelassenheit und duldendem Abwarten, aber öfter von Ungeduld, Gereiztheit und Selbstmitleid. Diese Krisen bewogen ihn zu den wiederholten Bäderreisen nach Böhmen und auch zur Reise nach Italien.

Sein Umgang mit den Ärzten ist launisch. Manchmal findet er lobende Worte. In Krankheitszeiten klagt er über deren Unfähigkeit, falsche Therapien, und er beschimpft sie als „Jesuiten“ und „Hundsfötter“. Goethe als Patient zu führen, scheint somit ein schwieriges Unterfangen zu sein.

Überhaupt war er kein guter Patient. So konnte man ihn nur zur strengen Diät überreden, wenn es ihm wirklich schlecht ging. Bei den ersten Anzeichen der Besserung sah er sich, von Christiane bestärkt, nach üppigen Gerichten und Wein mit kräftigem Geschmack um. Er war zeitweise ein exzessiver Weintrinker, der mühelos bereits zum Frühstück eine Flasche leerte, über den Tag hinweg folgten weitere zwei/drei Liter. Bier lehnte er ab.

1990 beschreibt Nager in seiner Betrachtung „Der heilkundige Dichter: Goethe und die Medizin“, dass Goethe „während langer Lebensphasen im Nebel der Depression gewandert sei“. Schon in der Leipziger Studentenzeit trägt er sich mit Selbstmordgedanken. Er setzt vor dem Einschlafen einen Dolch auf die Brust und prüft, ob Willenskraft und Mut ausreichen, ihn langsam ins Herz zu senken. „Da das aber niemals gelingen wollte, lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrischen Fratzen hinweg und beschloss zu leben“.

Seinem in Weltschmerz und Liebeskummer verfallenen leidenden jungen Werther gibt Goethe hingegen 1774 die Kugel. Die „wunderliche Krankheit“ Depression führt Goethe jahrzehntelang an langer Leine.

Goethes späte Midlife Crisis, datiert zwischen 1800 und 1810, wird durch zahlreiche Erkrankungen verstärkt. Vom Trinken wird der Leib rund, das Gesicht aufgeschwemmt, Rheuma und Gicht plagen ihn, die Zähne eitern. Auch Christiane und Sohn August sind von Trunksucht befallen. Beide sterben als Alkoholiker.

1801 erkrankte Goethe zun dritten Mal in akuter Lebensgefahr. Ein blasenbildendes Erysipel (Wundrose, bakterielle Infektion der Haut und des Lymphsystems) hatte die gesamte linke Gesichtshälfte einschließlich des Auges, Gaumens, Rachens und Kehlkopfes ergriffen. Zeitweise war er bewusstlos und phantasierte. Heute würde man wohl eine Sepsis (Blutvergiftung) diagnostizieren. Ein Schlaganfall war es nicht, eher ein Steck- oder Stickfluss. Darunter verstand man eine Lähmung der Lungen- und Luftröhrenäste, die aufgrund von Schleimverlegung den Erstickungstod bewirken sollte. Heute nennt man das Krankheitsbild: schwere eitrige Tracheobronchitis. Goethe musste wegen eines Krampfhustens in stehender Stellung gehalten werden und konnte nicht das Bett aufsuchen, sonst wäre er erstickt. Die Behandlung erfolgte mit Packungen, Senföl-Fußbädern und Aderlässen, die ihn allmählich genesen ließen.

1805 wiederholte sich ein dem Krankheitsbild von 1801 vergleichbarer Zustand – Mitreaktion der Hirnhäute bei einer odontogenen Osteomyelitis (vom Zahn oder vom Zahnhalteapparat ausgehende Entzündungen, die sich zu einem Kieferabszess oder Parodontalabszess entwickeln können,

vierter lebensbedrohlicher Zustand). In den Folgejahren wurde er von heftigen Nierenkoliken geplagt, die Bäderreisen werden fortgesetzt. Erste Manifestationen der Arteriosklerose treffen ein, die man damals noch nicht kannte. 1812 wird von Luftnot und 1813 von Herzschmerzen berichtet.

Im Februar 1823 erkrankte Goethe zum fünften Mal lebensbedrohlich mit starken Herzschmerzen, Beklemmung im gesamte Brustbereich, Angstgefühl, Beinödemen, Schüttelfrost und hochgradiger Atemnot, so dass er nur im Bett aufrecht sitzend atmen konnte. Die heutige Intensivmedizin hätte wohl die Diagnose eines akuten Myokardinfarktes [Der Herzinfarkt oder (genauer) Herzmuskelinfarkt bzw. Myokardinfarkt, auch Koronarinfarkt genannt, ist ein akutes und lebensbedrohliches Ereignis infolge einer Erkrankung des Herzens, bei der eine Koronararterie oder einer ihrer Äste verlegt oder stärker eingeengt wird ]gestellt. Mediziner seiner Zeit hatten dem kaum etwas entgegenzusetzen. Was Goethes behandelnde Ärzte, Huschke und Rehbein, taten, waren Meerrettich-Kompressen für die Herzgegend, Aderlass und Blutegel. Letztere beide reduzierten die Füllung (heute: Vorlast) im Herzen, und die Blutegel setzten die Blutgerinnbarkeit herab.

Noch am 23. Februar wähnte er sich am Rande des Todes, doch der 25. brachte die Wende. Dennoch blieb Goethe hochgradig hinfällig. Sein Zustand deutete auf eine fortbestehende Linksherzinsuffizienz oder gar ein Lungenödem hin, die sich im November 1823 nochmals klinisch lebensgefährlich manifestierte (sechster lebensgefährlicher Zustand).

Zeitgenossen bemerkten zudem eine einsetzende Schwerhörigkeit und Gedäöchtnisschwäche, vor allem bezüglich der näheren Vergangenheit.

Nach dem Tode seines Sohnes August 1830 flüchtete Goethe in die Arbeit, und es ist durchaus denkbar, dass die Somatisation seiner Psyche zur siebenten lebensbedrohlichen Gesundheitskrise durch ein angeblich blutendes Ulkus (tiefliegendes Geschwür) geführt hat. Seine lebenslange Trinklust und Heines Beobachtung des gelben mumienhaften Gesichts machen eine chronische Lebererkrankung mit Blutung aber wahrscheinlicher.

Goethes Ende, seine achte Lebenskrise, wird von seinem Arzt Carl Vogel im Detail beschrieben und in Hufelands Journal veröffentlicht: „Fürchterlichste Angst und Unruhe trieben den seit lange nur in gemessenster Haltung sich zu bewegen gewohnten, hochbejahrten Greis mit jagender Hast bald ins Bett, wo er durch jeden Augenblick veränderte Lage Linderung zu erlangen vergeblich versuchte, bald auf den neben dem Bett stehenden Lehnstuhl. Die Zähne klapperten ihm vor Frost. Der Schmerz, der sich mehr und mehr auf der Brust festsetzte, presste dem Gefolterten bald Stöhnen, bald lautes Geschrei aus. Die Gesichtszüge waren verzerrt, das Antlitz aschgrau, die Augen tief in ihre lividen Höhlen gesunken, matt, trübe; der Blick drückte die grässlichste Todesangst aus. Das Rasseln in der Brust verwandelte sich in lautes Röcheln. Abends war der ganze Körprer kalt, der Schweiß durch vielfache, meistens wollene Bekleidung und Bedeckung gedrungen. Die lichten Zwischenräume von Besinnung kamen weniger häufig und dauerten immer kürzere Zeit. Die Kälte wuchs, der Puls verlor sich fast ganz, das Antlitz wurde aschgrau …“

Goethe stirbt am 22. März 1832 am „Stickfluss infolge eines nervös gewordenen Katarrhalfiebers“. Die Beobachtungen Vogels sind die klassische Beschreibung eines finalen Herzinfarktes, dessen Symptomatik und Pathophysiologie aber erst 70 Jahre später bekannt wurden.

Schwiegertochter Ottilie hält Goethes Hand. Als sie glaubt, nun sei der alte Mann gestorben, löst sie die Umklammerung. Da flüstert Goethe seine letzten Worte: „Nun, Frauenzimmerchen, gib mir dein gutes Pfötchen!“ Sekunden später ist er tot.

„Und möchte gern im besten Sinn entstehn“ – Zum Bildungsprozess der Homunculus-Figur in Goethes Faust II

Vortrag von Prof. Rudolf Drux, Köln, am 6. Juni 2023

In der Szene „Laboratorium“ in Faust II stellt Goethe dar, wie der „hochgelehrte“ Magister Wagner „durch chemische Künste einen Menschen zu machen im Begriff ist“. Dessen begeisterte Schilderung ist klar zu entnehmen, was sich „in der innersten Phiole“ ereignet. Darin

Erglüht es wie lebendige Kohle,

Ja wie der herrlichste Karfunkel,

Verstrahlend Blitze durch das Dunkel.

Ein helles weißes Licht erscheint!

Sichtbar wird im Spiel der Farben, dass Wagner das Destillationsverfahren der Alchimisten zur Läuterung und Umwandlung von Stoffen anwendet: Die in der Flasche in strahlendem Rot erglühende und in ein „helles weißes Licht“ verfeinerte Kohle zeigt die Umwandlung der materia prima an, aus der sich nach anfänglicher Schwärzung (negrido) durch Aufhellung (albedo) der Homunculus (Menschlein) entwickelt, womit das alchimistische opus magnum verrichtet ist.

Klar wird die Genese des Homunkel (mit alchimistischen Fachbegriffen) beschrieben:

Es leuchtet! Seht! – Nun lässt sich wirklich hoffen,

Dass, wem wir aus vielen hundert Stoffen

Durch Mischung, denn auf Mischung kommt es an,

Den Menschenstoff gemächlich komponieren,

In einen Kolben verlutieren,

Und ihn gehörig kohobieren,

So ist das Werk im stillen abgetan.

(verlutiert – mit Lehm verschlossen; kohobiert – mehrfach destilliert)

1828, ein gutes Jahr, bevor er die Homunculus-Episode endgültig niederschrieb, gelang es Friedrich Wöhler, eine organische Substanz, den Harnstoff, synthetisch herzustellen, womit durch „Kristallisieren“ (wie damals die mechanische Veränderung anorganischer Stoffe bezeichnet wurde) das größte Geheimnis der „organisierenden Natur“ enthüllt zu sein schien.

Dass Goethe nicht viel von solch „pergamentenem“ Erkenntnisoptimismus hielt und die Überzeugung des Adepten Wagner ablehnte, auf den natürlichen Zeugungsakt zu Gunsten eines „höhern Ursprungs“ des Menschen verzichten zu können, das gibt auf der Handlungsebene des Dramas der weitere Werdegang des „Männleins“ in vitro zu verstehen: Als Galatea, der Meerestöchter Schönste, am Ende der Klassischen Walpurgisnacht erscheint, zerschellt es mit seiner Phiole „von Pulsen der Liebe gerührt“ an ihrem Muschelwagen – die Schönheit der Göttin, Signum vollkommener Körperlichkeit, nach der sich Homunculus im Bewusstsein seiner Unvollkommenheit als reines Geistwesen sehnt, treibt ihn ins Meer, wo alles Lebendige seinen Ursprung hat. Indem er so den ehernen Gesetzen der Natur gehorcht, kann er seinen dringlichsten Wunsch erfüllen und wirklich „im besten Sinn entstehn“.

Das Begehren, „weislich zu entstehn“ ist leitmotivisch mit Homunculus verbunden; dass er „voll Ungeduld“ den „geschloßnen Raum“verlassen möchte, auf den er als „künstlich“ Geschaffener angewiesen ist, rechtfertigt „der große Zweck“ völliger Menschwerdung. Zum Schluss geht das Feuer seines reinen Geistes in den Urkörper des Ozeans ein, was die Sirenen, im Duktus einer rhetorischen Frage mit Daktylen und Alliterationen als „ägäisches Fest“ hymnisch preisen:

Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen,

Die gegeneinander such funkelnd zerschellen.

Im Spiel der sich vereinigenden Elemente, das zugleich mit der Verbindung von Männlichem und Weiblichem als Koitus (also wiederum sehr körpernah) konnotiert ist, wird Homunculus zur organischen Ganzheit und bringt damit das Geheimnis des Lebens zur Anschauung.

Von daher lässt sich nachvollziehen, dass bei der Suche nach der Bedeutung des Homunculus auch eine Nachlass-Notiz seines Sekretärs Riemer herangezogen wurde: Goethe habe mit dieser Figur „die reine Entelechie darstellen wollen, (…) den Geist des Menschen, wie er vor aller Erfahrung ins Leben tritt“, d. h. jene Einheit des Lebens, die das Ziel (telos) seiner Entwicklung als Anlage in sich trägt, seine materielle Form organisierend und gestaltend.

Doch auch auf der seichteren Ebene eines literaturkritischen Diskurses ist Homunculus ausgemacht worden: Das reine Geistgeschöpf, das nach einem Körper strebe, sei eine Parodie auf die romantische Universal-Poesie, die laut einem Diktum ihres Programmatikers Friedrich Schlegel beständig „im Werden“ und durch die Mischung der Gattungen („auf Mischung kommt es an“) gekennzeichnet sei. Diese Dichtung hat aber nach Meinung des alten Goethe nur theoretische Entwürfe, Schemen, Kopfgeburten statt lebendiger Werke aus Fleisch und Blut hervorgebracht.

Früherer Gewährsmann der Homunculus-Herstellung war der Hohenheimer Arzt und Naturphilosoph Paracelsus mit seiner Rezeptur, wie ein „Mensch außerhalb des weiblichen Leibes und einer natürlichen Mutter geboren werden könne“. Dabei muss „das Sperma eines Manns“ in einem dicht verschlossenen kürbisartigen Gefäß durch Einlagerung in Pferdemist einem intensiven Fäulnisprozess unterzogen werden. Wenn es „in steter gleicher Wärme“ des Dungs verbleibe und mit dem geheimnisvollen Menschenblut genährt werde, entstehe nach vierzig Wochen „ein recht lebendig menschlich Kind“, das jedoch viel kleiner sei als ein natürliches. Auf die Frau wird also verzichtet. Bis 1875 (Entdeckung der weiblichen Eizelle) galt, dass allein der Vater für die Nachkommenschaft bestimmend sei.

Insofern nun Homunculus nur aus „dem Sperma des Mannes“ bzw. aus einem spirituellen Prozess hervorgeht, der Mann aber in philosophischen Schriften etwa von Anaxagoras oder Aristoteles mit dem Verstand, mithin der prägenden Form, der strukturierenden Kraft korrelliert ist, muss der ohne stoffliche Weiblichkeit Geborene zwangsläufig geistiges Potenzial in Reinkultur aufweisen.

Und in der Tat, der frei von störender Weiblichkeit in vitro erzeugte Homunculus verfügt durchweg über herausragende geistige Fähigkeiten, die er auch bei Goethe demonstriert, wenn er als reines Geistwesen in der Phiole über die Bühne schwebt. Zum einen vermag er sich in Fausts Traum einzuschleichen und ihn als „die lieblichste von allen Szenen“ auszulegen, spielt sich in ihr doch eine weitere mythische Zeugung ab, nämlich die der schönen Helena, deren Mutter Leda von Zeus höchstpersönlich, „der Schwäne Fürsten“, beglückt wird; zum anderen ist er in der Lage, den Helena begehrenden Faust in die Antike zu geleiten. So bewährt sich Homunculus als Traumdeuter, Reiseleiter und Allheilnittel, d h. er nimmt genau die Aufgaben wahr, die die Alchemie dem Stein der Weisen zuschreibt (Homunculus wird auch als Stein der Weisen gesehen).

Dennoch empfindet er vom Augenblick seiner Entstehung an ein starkes Unbehagen an seiner Körperlosigkeit, die ihn als unvollkommenes Erzeugnis alchimistischer Laborarbeit stigmatisiert. Eben deshalb vermischt er sich, seinem „Bildungstrieb“ folgend, zum Höhepunkt des zweiten Aktes in der Klassischen Walpurgisnacht mit den Wellen des Meeres, aus dem das Leben „entsprungen“ ist, bevor es sich „in tausend, abertausend Formen entfaltet“ – und holt damit für sich die Evolution nach. So setzt Goethe der Urzeugung, der Entwicklung von Organismen aus anorganischen Stoffen im Labor das organische Wachstum „nach ewigen Normen“ in der Natur entgegen – das ist für das volle Menschsein unabdingbar.

Goethe und die Kinder

Vortrag von Prof. Volker Hesse, Berlin, am 4. Mai 2023

„Wenn man sich um der Kinder Willen keine Mühe gäbe, wie wäret Ihr groß geworden?“ – Mit diesem Zitat aus Goethes „Theatralischen Sendungen“ begann der Referent seinen Vortrag. Im Alter von16 bis 26 Jahren weilte der junge Goethe als Student in Leipzig und Straßburg, in Wetzlar und Frankfurt/Main. In all diesen Stationen fiel den ihn umgebenden Menschen seine spontane naive Liebe zu Kindern als ein wesentlicher Charakterzug auf. So gewnn er in Sesenheim nicht nur die Zuneigung von Friederike Brion, sondern auch die ihrer jüngeren Geschwister Jacobea Sophie und Christian, die eifrige Zuhörer seiner Märchenerzählungen wurden.

Aus den „Leiden des jungen Werther“ ist uns Charlotte Buff bekannt. Sie, die zweitälteste Tochter, hatte noch elf Geschwister, mit denen sich Goethe lebhaft beschäftigte. Im „Werther“ heißt es: „Er (Werther/Goethe) balgte sich mit ihnen herum, lag mit ihnen auf der Erde, ließ sie auf sich herumkrabbeln, und es war bei solchen Szenen oft großer Lärm und großes Geschrei.“

Wieland, der als Prinzenerzieher nach Weimar gekommen war, nimmt ihn freundlich in seiner Familie auf. Goethe schreibt: „Wieland ist gar lieb, … und gar zu gern bin ich unter seinen Kindern.“ Bei der fünften Tochter Wielands wird Goethe Pate.

Goethe, der sich früh an Frau von Stein in Weimar band, hatte zu dieser Zeit keine eigenen Kinder. Er veranstaltete jedoch für die Kinder der Freunde, der Kinder Herders, Wielands, der Frau von Stein und anderer Weimarer Kinder Kinderfeste in seinem Garten, auch schrieb er Kinderballette und veranstaltete Tanzfeste für Kinder.

Eigene Erziehungsmethoden unternahm Goethe an zwei Pflegesöhnen, Peter im Baumgarten und dem zweiten Sohn der Frau von Stein, Fritz von Stein.

Peter, ein Schweizer Hirtenknabe, war das Pflegekind eines Barons von Lindau, den Goethe 1775 in Zürich kennengelernt hatte. Er besuchte Goethe 1776 in Weimar und nahm ihm das Versprechen ab, sich in seinem Todesfall um Peter zu kümmern. Als von Lindau 1776 auf Manhattan Island fiel, hielt Goethe Wort und ließ Peter 1777 nach Weimar kommen.

Peter gliederte sich jedoch schwer ein. Nach zwei Jahren fruchtloser Erziehung schickte ihn Goethe nach Ilmenau, um ihn als Förster ausbilden zu lassen.

Den Fritz von Stein lernte Goethe bereits als Dreijährigen kennen. Er nimmt ihn 1783 zur Erziehung für drei Jahre zu sich ins Haus. Der Mutter, Frau von Stein, schreibt er: „Du weißt nicht, wie sehr ich Dich auch in ihm liebe, und wie ich mich freue, dies Pfand von Dir zu haben.“

Um ihn zu bilden, nimmt ihn Goethe mit auf Reisen, in den Harz, nach Göttingen, Kassel, Gotha und Eisenach mit. Auch schickt er ihn nach Frankfurt/Main, damit er diese und die große Stadt kennenlernen sollte. Das gute Verhältnis zu Fritz dauerte fort, auch nachdem es nach Goethes Italienreise ‚(1786 – 88) zum Bruch mit Frau von Stein kam. Insgesamt fehlten aber in der Goetheschen Erziehung Kontinuität und Konsequenz sowie eine konsequente Logik.

Fritz von Stein schätzt die Periode beim „Wahlvater Goethe“ als die „glücklichste Periode seiner Jugend“ ein: „Er begegnete mir mit Liebe, Ernst und Scherz, so wie es nötig war, so dass ich sein Betragen gegen Kinder als ein Musters dieser Art betrachte.“

Goethe hat sich verschiedentlich zu Erziehungsfragen geäußert. Er verstand im Gegensatz zu einem überwiegend konservativen Zeitgeist das Kindsein im Sinne der Auffassungen von Rousseau als eine eigenständige Entwicklungsphase des Menschen. Er sah in der Erziehung vor allem die Aufgabe, angeborene Anlagen zu entwickeln. Die Erziehungsmaximen beinhalten folgende Grundsätze:

  • Das Heranführen des Kindes an die Dinge der Wirklichkeit
  • Die Bildung entsprechend den vorhandenen Anlagen zu gestalten
  • Die Forderung nach Heiterkeit in der Pädagogik und Milde des Lehreres
  • Die Erziehung der Jugend zur Ehrfurcht den Erwachsenen gegenüber

Literarisch hat er u. a. Kinderfiguren im Sohn des „Götz von Berlichingen“, im „Werther“, in Wilhelm Meister“ (Felix, Hersilie und Mignon), das Kind in der „Novelle“, Kinder in den Maskenzügen und den unbeherrscht strebenden Euphorion ‚(Faust II) gestaltet.

Die Grenzen der Pädagogik Goethes liegen in der Überbewertung der Selbstentwicklung und der fehlenden erzieherischen Konsequenz, die auf einen systematischen und umfassenden Wissenserwerb zusätzlich zur Anschauung drängt.

Im Alter von 40 Jahren wurde Goethe Vater, die Mutter Christiane Vulpius war 24 Jahre alt. Der Sohn August war das einzige überlebende der fünf Kinder, die Goethe gemeinsam mit Christiane hatte. Ein Knabe wurde tot geboren, die anderen drei Kinder verstarben drei bis 20 Tage nach der Geburt, zusätzlich hatte Christiane mehrere Fehlgeburten. Goethe freute sich sehr auf seine nachgeborenen Kinder und war nach dem Ableben sehr betrübt.

Erzieherisch wirkte Goethe auch als Theaterdirektor auf heranwachsende kindliche und jugendliche Schauspieler ein. Besonders innig war seine Verbindung zu der Schauspielerin Christiane Neumann,später verheiratete Becker, die 12-jährig an das neugegründete Weimarer Hoftheater kam, das Goethe leitete. Nach ihrem frühen Tod schuf er ihr mit der Elegie „Euphrosyne“ ein bleibendes Denkmal.

Den Sohn der berühmten Schauspielerin Friederike Unzelmann nahm Goethe 1802 zur Ausbildung ans Weimarer Theater. Er bemühte sich um die Schauspielausbildung und lud ihn gelegentlich als Tischgast in sein Haus. Gegenüber der Mutter entschuldigte er gütig Unarten des Knaben: „Mit Ihrem Söhnlein werden Sie Geduld haben, wenn manchmal die Nachricht von einer kleinen Unvorsichtigkeit zu Ihnen gelangt. Solche Kinder, in fremde Verhältnisse gesetzt, kommen mir vor wie Vögel, die man im Zimmer fliegen lässt, sie fahren gegen alle Scheiben, und es ist schon Glück genug, wenn sie sich nicht die Köpfe einstoßen, ehe sie begreifen können, dass nicht alles Durchsichtige durchdringlich ist.“

Nachdem der 8-jährige Felix Mendelssohn(-Bartholdy) bereits auf Empfehlung Zelters zusammen mit seiner Mutter Goethe 1817 in Weimar besucht hatte, brachte der Leiter der Berliner Singakademie seinen Meisterschüler zusammen mit seiner Tochter 1821 mit nach Weimar, und Felix wohnte als 12-Jähriger vom 3. bis 19. November 1821 in Goethes Haus.

Goethe mochte den munteren und wohlerzogenen Knaben sehr. Felix begeisterte Goethe durch sein Pianospiel; dieser legte ihm Originalnoten von Mozart und Beethoven vor, und Felix konnte sie nach kurzer Konzentration zu Goethes Überraschung vom Blatt spielen.

Goethe wuchs nach dem Tod seiner anderen Geschwister mit seiner Schwester Cornelia auf, mit der er auf das Engste verbunden war. Ihren frühen Tod (mit 26 Jahren) nach der Geburt der zweiten Tochter verwand er nur schwer. Die schwere seelische Verletzung mag es mit sich gebracht haben, dass er keinen direkten Anteil an den heranwachsenden Töchtern Cornelias nahm.

Eine besondere Freude hatte der alternde Dichter an den Enkeln. Nach dem Tod seiner Frau Christiane 1816 hatte Sohn August Ottilie von Pogwitsch geheiratet. Aus dieser Verbindung gingen drei Enkel hervor, Walter Wolfgang (1818), Wolfgang Maximilian (1820) und Alma (1827).

An Marianne von Willemer schreibt er: „Meine Enkel sind wirklich wie heiteres Wetter, wo sie hintreten, ist es hell.“

Die Knaben durften selbst in Goethes Heiligtum, sein Arbeitszimmer, zum Spielen kommen. Bei der letzten Reise, die der 82-jährige universelle Geist von Weimar unternimmt, begleiten ihn die Enkel. Mit den Augen der Enkel sieht er die vertraute Ilmenauer Umgebung.neu. Als Goethe stirbt, sind die Enkel um ihn. Noch am Morgen des Sterbetages trank Goethe mit dem Zweitgeborenen „Wolf“ seinen Kaffee. In einem Brief heißt es: „Der Umgang mit Kindern macht mich froh und jung“, und Werther lässt er sagen: „Die Kinder sind meinem Herzen am nächsten auf der Erde.“

Ausflug nach Weißensee

Am 15. April, bei schlechtem Wetter, führten wir unsere erste Studienfahrt in diesem Jahr durch. Sie führte uns ins nordthüringische Weißensee. Hans-Peter Brachmanski hatte alles auf perfekte Weise organisiert. Zunächst besichtigten wir den Chinesischen Garten, erfreuten uns an den exotischen Skulpturen, den verschiedenen Erlebnisstätten wie Teich, Bach, kleinen Pagoden, kleinen Pflanzen- und Blumenarealen.

Der Marktplatz mit dem wunderschönen Renaissance-Rathaus wie auch die Kulturkirche gerieten sodann ins Blickfeld. In der Kirche, geweiht Peter und Paul, erregte der schöne Altar unsere Aufmerksamkeit. Kurios, dass man in der Zeit der Reformation der Gottesmutter einen Bart angemalt hatte, die somit zur Christusfigur avancierte. Man wollte wohl ein Zeichen gegen die katholische Heiligenverehrung setzen.

Durch die Runneburg führte uns „Burgvogt“ Tino Trautmann. Das uralte Gemäuer, einstmals eines der Sitze thüringischer Landgrafen, war interessant; so bewunderten wir ein filigranes Kapitell einer zufällig entdeckten, leider längs geteilten Säule – Zeugnis hoher mittelalterlicher Steinmetzkunst. Der große Festsaal imponierte durch sein Gebälk, der mittige Längsbalken erreicht dreißig Meter, führt von der Stirnwand zu seinem Gegenüber, auch die die Bogenfenster gefielen uns. Klar wurde: Im Mittelpunkt aller Bestrebungen steht die Sicherung des Gebäudes. Ein Video über die aufwendigen und schwierigen Arbeiten vermittelte uns davon einen Eindruck.

So verlebten wir einen schönen Tag, der allen gut gefallen hat.

Des Menschen Glück ist ein eitler Traum – Fürst Charles Joseph de Ligne

Vortrag von Prof. Detlef Jena, Rockau, am 7. Februar 2023

Goethes Weimar begegnet dem Fürst Joseph de Ligne, dem fröhlichsten Mann des 18. Jahrhunderts“

Vortrag von Prof. Dr. Detlef Jena, Rockau, im Februar 2023

Mit dem Namen Fürst Charles Joseph de Ligne verbindet sich vor allem sein Ausspruch „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht voran“. 1735 in Brüssel geboren begann er seine, durch Geburt begünstigte Karriere am Wiener Hof der Habsburger, als ihn Maria Theresia 1751 zum Kammerherrn bestellte. Ligne wurde, war und blieb ein Mann des Krieges in den Diensten des Kaisers von Wien, dessen geniale militärische Fähigkeiten von hoher diplomatischer Kunst, relativ ausgefeiltem literarischen Stil und Fleiß sowie von einer geradezu brillanten Rolle als galanter Unterhalter in der höchsten Adelsgesellschaft, vor allem bei den Damen, begleitet wurden. Ein 34 gedruckte Bände zählender schriftlicher Nachlass an Biografien, Essays, Berichten, Reportagen, Korrespondenzen, dramatischen Stücken, Gedichten und Aphorismen legt Zeugnis von der Lebenswelt eines Mannes ab, die zwangsläufig auch Goethe berührte, zu der Goethe jedoch eine von eigenen Werten bestimmte innere Distanz wahrte.

Goethe nahm überhaupt erst Notiz von der Person de Ligne, nachdem dieser sich um 1794 aus dem aktiven Dienst als Feldmarschall im russischen und österreichischen Militär verabschiedet hatte und als Privatmann auf dem Wiener Kahlenberg lebte – sofern er nicht durch Europa reiste. Die beiden Männer begegneten sich sich zum ersten Mal 1807 in Karlsbad. Ihre direkten Berührungen währten nur bis zum Jahre 1812 und schlossen Besuche de Lignes in Weimar ein.

Beinahe hätten sie sich schon 1794 im Dessau-Wörlitzer Gartenreich getroffen. Zu den dienstlichen Pflichten Goethes gehörte nämlich die Begleitung des Herzogs Carl August auch bei dessen Reisen nach Dessau. Seit Jahrhunderten wurden dynastische Beziehungen gepflegt. Der 1740 geborene Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau ließ in Wörlitz einen Landschaftspark nach englischem Vorbild gestalten.

Ligne nahm an mehreren Schlachten des Siebenjährigen Krieges teil. In den achtziger Jahren stand Russland im Mittelpunkt seiner Aufmerksamkeit. Er begleitete Kaiser Joseph II. nach Russland und nahm 1787 an der legendären Reise Katharinas II. in die südrussischen Provinzen und auf die 1783 von Russland annektierte Krim teil, die den Auftakt zum nächsten Krieg gegen das Osmanische Reich bildete. Ligne fand das Vertrauen der russischen Kaiserin und ihres Günstlings, Fürst Potemkin. Die Mitverantwortung für das geflügelte Schmähwort von den „Potemkinschen Dörfern“ nahm man ihm offenbar nicht übel, zumal er mit seinen militärischen Fähigkeiten in den Krieg zur Eroberung Konstantinopels eingriff. Mit seiner Teilnahme am Türkenkrieg endete zugleich die aktive militätische Laufbahn. Sein Sohn fiel 1792 in der Champagne; Ligne hat diesen Verlust nie verkraften können. Er zog sich ins Privatleben zurck, widmete sich z. B. der Gartenkunst.

Die Kontakte zwischen Goethe und de Ligne nahmen ihren Anfang im böhmischen Teplitz, weil sich dort 1797 Weimars Herzog Carl August mit dem Fürsten de Ligne anfreundete – inmitten der europäischen Hocharistokratie. Ligne genoss dort das Leben in vollen Zügen, schwelgte in Erinnerungen an das Ancien regime mit seinem Freund Casanova. Ligne und Carl August empfanden in Teplitz 1797 sofort Sympathie füreinander. Mit sicherem Instinkt kombinierte Ligne, dass der Herzog und er gemeinsam mit Goethe und Wieland den Kern eines national-kulturellen Bundes bilden könne. Goethe zeigte sich indes reserviert. Doch Ligne lag viel daran, in den Kreis der Weimarer Dichter aufgenommen zu werden. Der Herzog sollte ihm dabei helfen. Er bat Carl August für seine Schrift über militärische, literarische und sentimentale Gegenstände neben Frankreich auch einen Verleger in Weimar zu finden. Der Herzog wollte sich die Sache vom Halse schaffen und beauftragte Goethe, beim Verleger Frommann in Jena nachzufragen. Doch alles geriet auf die lange Bank.Durch die letztendliche Absage ließ sich Ligne allerdings nicht entmutigen. Erst eine schöne Frau, Marianne von Eybenberg, brachte Goethe und Ligne näher. Sie verlangte, Goethe solle doch recht freundlich auf ein langes Gedicht de Lignes reagieren. Dies geschah.

Ligne hat bereits im Oktober 1808 in Teplitz einen Bericht über die berühmten historischen Begegnungen Kaiser Napoleons mit Goethe und Wieland auf dem Fürstentag in Erfurt und Weimar geschrieben. Er selbst hat an den Gesprächen nicht teilgenommen. Wahrscheinlich hat er hierzu Informationen aus Wien erhalten und eingearbeitet. Ligne hielt Goethe und Wieland für die größten literarischen und geistigen Größen ihrer Zeit – und Napoleon für die herausragende politische Persönlichkeit des Kontinents. Goethe, zu einem aristokratischen Frühstück eingeladen, fühlte sich hoch geehrt; Napoleon sprach mit ihm fast eine Stunden lang über Geschichte und Literatur, lobte insbesondere den „Werther“. Währenddessen provozierte Wieland keineswegs ein Gespräch mit Napoleon, er wurde zu ihm gerufen. Ligne freute sich, dass Wieland Napoleon ohne Unterwürfigkeit und sehr klug die Stirn geboten hatte.

Die langen freundschaftlichen Beziehungen zu Carl August zahlten sich aus. Nach Angaben Lignes wurden 1809/10 sowohl seine biografische Arbeit über den berühmten Heerführer Prinz Eugen als auch seine militärischen Schriften in Weimar auf Anweisung des Herzogs gedruckt.

Zurück zu Teplitz. Die Familie Clary verstand es, in ihrem Teplitzer Besitz mit all den vielen Gästen einen illustren Reigen zu organisieren, in dessen Zentrum natürlich die österreichische Kaiserin Maria Ludovica stand. Goethe widmete ihr eines seiner „Kaisergedichte“. Aber auch Ligne wird Ehrung zuteil. Goethe schreibt: „… Noch so viel Platz ist übrig, um von Prince de Ligne ein Wort zu sagen. Dieser ist in seinem 78. Jahre noch so Hof- und Weltmann, noch so heiter und leichtsinnig als jemals. Er belebt durch seine Anmuth jede Gesellschaft, in der er sich befindet.“

Goethe nante Ligne plötzlich seinen Freund! Tatsächlich vollzogen sich nach Lignes lobenden Worten für Goethes „Wahlverwandtschaften“ im Jahre 1811 Ereignisse, die die beiden Herren einander näher brachten, ohne die grundsätzlich verschiedenen Lebensansichten zu berühren oder gar aufzuheben.Vom 12. bis 17. Oktober 1811 besuchte Ligne Weimar, er und Goethe trafen sich mehrmals. De Lignes Buch „Nouveau recueil de Lettres du Feld-Marechal Prince de Ligne en reponse a celles qui ont ete addressee“ (hier ohne accent aigues geschrieben) erschien bei Bertuch. De Ligne wollte sich damit den Weimarer Dichtern als ebenbürtig erweisen.

Nachdem Napoleon im Frühjahr 1814 gestürzt worden war, vereinbarten die Alliierten mit der französischen Regierung im ersten Pariser Frieden, dass ein Kongress in Wien die neue europäische Ordnung aushandeln solle. Dazu wurden alle am Krieg beteiligten Staaten eingeladen, also auch das Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach.

Ligne sah mit Bangen, dass die preußisch-russischen Konflikte um den Besitz Sachsens und Polens den Kongress an den Rand des Scheiterns führen würde. Es drohte ein Krieg zwischen den Verbündeten. Diese Furcht veranlasste Ligne zu einem seiner legendären Sätze, mit denen er in die Geschichte eingegangen ist. Er schrieb an den französischen Außenminister Talleyrand: „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts“. Ligne informierte Talleyrand, dass er den russischen Zaren Alexander zur Mäßigung seiner Ansprüche geraten hätte, ansonsten würde er den Untergang Sachsens herbeiführen.

Es entsprach Lignes Mentalität, seinem Lebenssinn und der klaren Erkenntnis über die Krise des Kongresses, wenn er notiert: „Der Wiener Kongress hat inzwischen alle erdenklichen Festlichkeiten ausgekostet. Welches Schauspiel könnte ich ihm bieten, um ihm aus der Langeweile herauszuhelfen? Das Begräbnis eines Feldmarschalls!“

Bislang wren die Gespräche in Hinterzimmern und vereinzelt geführt worden. Ein solches Begräbnis hätte alle Akteure einmal zusammengeführt, um endlich zu allgemeinen Ergebnissen zu kommen. Es wäre Ligne nie im Traum eingefallen, bei einem solchen Begräbnis an sich selbst zu denken. Doch es geschah. Am 13. Dezember 1814 starb der Fürst.

Wie geschmeidig, umfassend, fröhlich oder traurig die ungezählten Erinnerungen an den Fürsten von Ligne auch der Nachwelt hinterlassen wurden – das Fragment eines Requiems Goethes, gewidmet dem „frohsten Manne des Jahrhunderts“ blieb nach Inhalt und Gestalt einzigartig.

Ein glühend Herz zagt nicht beim wilden Rauschen

Vortrag von Steffi Böttger, Leipzig, vom 4. April 2023

Dem einen ist die Romantik der Inbegriff alles Schönen, dem anderen ein Gräuel. Der erste sagt, Romantik ist das große Zauberwort. Er hört das Rauschen der Wälder, das Raunen verborgener Brunnen, alle Stimmen der Nacht und die beglückende Musik des Alls.Anders der zweite: Romantik, sagt er, das ist Formlosigkeit und Unklarheit, Verworrenheit und Überschwang, Mangel an Zucht und Maß. Sie ist unheimlich und geradezu verdächtig. –

Zunächst einmal ist sie eine glänzende Epoche der deutschen Geistesgeschichte und Kunst: Caspar David Friedrich ist Romantik, Carl Maria von Weber und der junge Robert Schumann – Novalis sucht die Blaue Blume, Eichendorffs Taugenichts findet sein Glück, das er zuallererst als Anspruchslosigkeit definiert, und bei E.T.A. Hoffmann irrlichtern Gestalten aus den schlimmsten und komischsten Träumen durch die Welt. Namen wie Clemens Brentano, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist verbinden wir damit, ja und selbst der arme Hölderlin muss in unserer Vorstellung als Romantiker herhalten.

Kunst ist für die Romantiker Religion mit den Mitteln der Poesie.

Die Aufklärung hatte zwar Licht gebracht, aber so hell, so klar, so zergliedert, so statistisch aufbereitet wollte man es nun doch nicht im heimeligen Deutschland. Geheimnisse! Wieder lief man in den Städten zusammen, um Propheten zu lauschen, die den Weltuntergang oder den Messias ankündigten. Die Welt, so predigte die Aufklärung, ist transparent und kalkulierbar, vorhersehbar und planbar – nein, war die Antwort des Lesepublikums. Man fand immer mehr Gefallen am Rätselhaften. Man zweifelte am Fortschritt, denn der brachte Kälte, Industrialisierung oder gar Terror, wie das Beispiel der französischen Revolution zeigte, die vernünftig begonnen hatte.

Geheimnisvoll und wunderbar wollte man die Literatur. Phantasien über Geheimbünde und Komplotte erregten die Gemüter in einem Ausmaß, das uns bestens bekannt sein dürfte.

Was aber ist romantisch?

Zunächst einmal kommt der Begriff aus dem Französischen, romantique, und rührt vom, ja Roman ab, nämlich der Ritterdichtung.

Romantisch bedeutet auch: einfühlsam, Gefühle der Liebe und Wärme erzeugend – und eben: die Zeit der Romantik betreffend.

Was aber ist Romantik?

Auch da müssen wir wieder in die romanischen Sprachen, denn auf Schriften, die in der lingua romana verfasst wurden bezog er sich zunächst. Daraus wurde der Roman, im Französischen. Friedrich Schlegel machte aus romanisch dann romantisch. Und das bedeutete nichts anderes als die Abwehr der Antike und alles Klassischen und eine Hinwendung zur eigenen Kultur, die man am schönsten ausgeprägt im Mittelalter zu finden glaubte.

Die romantischen Autoren übrigens bezeichneten sich nie als „romantisch“, sondern eher als „moderne Autoren“.

Die „ganze Romantik“ zu beleuchten, ist hier nicht möglich; es seien denn die Anfänge, die „Frühromantik“, die „Erste romantische Schule“, der wir hier unsere Aufmerksamkeit widmen, unter schnöder Vernachlässigung der sogenannten Heidelberger, Schwäbischen und Hochromantik.

Die Anfänge in Berlin und Jena, getragen von einer kleinen Gruppe von Dichtern, Literaturkritikern, Philosophen – und Frauen.

Zu berichten ist von einem Kreis junger Leute, von denen der älteste 37 Jahre alt war und der jüngste 20. Die Damen schwebten an der oberen Altersgrenze, aber eben kurz darunter.

Sie alle sind hier vorzustellen.

Da waren die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Der ältere August, gerade 30, Literaturhistoriker, Übersetzer, Schriftsteller und Indologe – Friedrich, von rhetorischem Überschwang, Enthusiasmus und intellektueller Wachheit, Mitte zwanzig, Philosoph und Literaturkritiker.

An ihrer Seite ihre Frauen, die beide bereits ein bewegtes Leben hinter sich hatten.

Caroline, die Frau Augusts, geborene Michaelis, verwitwete Böhmer, nun Schlegel, eine schöne, kapriziöse Frau, sprach fließend Englisch, schon Mitte der Dreißiger.

Dorothea, die Geliebte Friedrichs, geborene Mendelssohn, geschiedene Veit. Lebensgefährtin nur, noch nicht Gattin, das ist wichtig, ein Jahr jünger als Caroline.

Nebenfiguren, aber nicht minder wichtig und verehrt, waren der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, schon hoch in den Dreißigern; Ludwig Tieck, ein junger Dichter, und der Freiherr von Hardenberg aus dem nahen Weißenfels, besser bekannt als Novalis, zu dem man pilgerte.

Später kam Friedrich Wilhelm von Schelling hinzu, noch ganz jung an Jahren, Philosoph. Er sollte das schöpferische Ich als das einzig Reale zum Prinzip seiner Philosophie erheben – und später Schlegels Frau Caroline heiraten.

Junge Leute also, vielleicht der Gruppe 47 vergleichbar, die gegen die Moral, die Philosophie, die Literatur der Zeit revoltierten, den Buchmarkt erobern wollten und auch deshalb den Vätern Kälte, eisige Vernunft und Phantasielosigkeit vorwarfen, sich selbst als den Kern und Maßstab der Welt setzten.

Aber der Reihe nach.

Das Hauptquartier der Gruppe befand sich in Jena, von dem Alteingesessene als „Saal-Athen“ sprachen. August Wilhelm jedoch nannte es ein Lumpennest.

Der verehrte Schiller lehrte hier seit 1789, und seit 1794 hatte der Philosoph Fichte einen Lehrstuhl, von dem er aber wegen der Verbreitung atheistischer Ideen fünf Jahre später entfernt wurde; etwa 25 km entfernt lag Weimar, zu Fuß ein Spaziergang, zum angebeteten Goethe, zu Herder oder zu Wieland.

Also, im Juli 1796 kamen der Übersetzer August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline in Jena an. Die Dame hatte bereits ein aufsehenerregendes Leben hinter sich. Geboren als Tochter des berühmten Orientalisten Michaelis in Göttingen, verheiratet mit dem Arzt Böhmer, der bereits nach vierjähriger Ehe starb, von dem sie aber eine Tochter, Auguste, hatte, Inhaberin eines angedichteten Verhältnisses mit Georg Forster und wegen Verbindung zu den Jakobinern von den Preußen in Haft genommen, die sie 1793 zwei Monate in Königstein und Kronberg im Taunus verbrachte. In den Tagen der Mainzer Republik hatte sich Caroline, wie es in einer Biographie aus dem Jahre 1931 heißt: „ … in der leidenschaftlichen Erregung einer Ballnacht einem blutjungen französischen Offizier hingegeben. Es war ein Rausch – und wir wissen nichts von diesem Erlebnis.“ Nun, heute wissen wir mehr, der junge Mann trug den Namen Jean-Baptiste Dubios-Crancé. August Wilhelm, den sie aus Göttinger Tagen kannte, nahm sie nach ihrer Haftentlassung auf, brachte sie nach Leipzig, später nach Lucka, wo sie einen kleinen Sohn von Dubois-Crancé zur Welt brachte, der jedoch nach zwei Jahren starb.

Caroline blieb in Deutschland als „leichtfertige Person“, „dämonische Kreatur“ und Demokratin unerwünscht. Der Besuch ihrer Heimatstadt Göttingen wurde ihr verboten, und selbst die Residenzstadt Dresden durfte sie nicht betreten.

Auch aus finanziellen Gründen heiratete sie August Wilhelm 1796, und 1931 konnte man lesen: „Die tiefe Dankbarkeit Carolines für ihren Retter…war gewiss nicht das Einzige, was ihr Verhältnis zu ihm gestaltete.“

August Wilhelm selbst, nach einer Hauslehrerstelle in Amsterdam, war nun als Kritiker, Rezensent und Übersetzer tätig und erhielt 1798 eine Professur an der Universität in Jena.

Gut, die ersten Personen waren eingetroffen, aber es fehlten noch einige. Die folgten.

In Berlin lebte sein jüngerer Bruder Friedrich, Philosoph, Kritiker und Literaturhistoriker. Der schrieb seit einigen Jahren für die Zeitschrift Deutschlanddes wie er ebenfalls von der französischen Revolution begeisterten Johann Friedrich Reichardt. Das sicherte ihm seinen Lebensunterhalt.

In dieser Zeitschrift erschien 1796 aus seiner Feder eine scharfe Kritik der Gedichte Friedrich Schillers, für dessen Musenalmanach „Horen“ auch August Wilhelm ständiger Mitarbeiter war, und den Friedrich in seinen Studententagen eigentlich verehrte. Schiller antwortete mit einem Angriff in den „Xenien“, Friedrich attackierte daraufhin die „Horen“ – ein Jahr später war der Bruch Schlegel – Schiller perfekt. Später hieß es, Schiller habe angefangen, in den „Xenien“ sachte geplänkelt, Friedrich einen „kalten, unbescheidenen Witzling“ geheißen. Egal, man kann wohl einfach davon ausgehen, sie mochten sich nicht, und Schiller schrieb an August Wilhelm: „Es hat mir Vergnügen gemacht, Ihnen …zu einer Einnahme Gelegenheit zu geben, wie man sie nicht immer haben kann, da ich aber annehmen muss, dass mich Herr Friedrich Schlegel zu der nämlichen Zeit, da ich Ihnen diesen Vorteil verschaffe, öffentlich deswegen schilt,…, so werden Sie mich für die Zukunft entschuldigen. Und um Sie, einmal für allemal, von einem Verhältnis frei zu machen, das für eine offene Denkungsart und eine zarte Gesinnung notwendig lästig sein muß, so lassen Sie mich überhaupt die Verbindung abbrechen…“

Wir verehren und lieben Sie so aufrichtig, schrieb ihm daraufhin Caroline, daß diese grade und feste Gesinnung uns auch auf einen graden Weg führte, wenn noch so viele anscheinende Kollisionen da waren.“ Das war eine handfeste Lüge, denn sie mochte Schiller nicht und er die „Madame Luzifer“, wie er sie nannte, noch weniger.

Goethe hingegen mochte August Wilhelm, ließ sich seine Übersetzung von Shakespeares „Romeo und Julia“ sehr gefallen, urteilte: „ein sehr guter Kopf, lebhaft, tätig und gewandt. Die Gegenwart August Wilhelm Schlegels trägt nicht wenig dazu bei, die Gesellschaft in Jena lebhaft und unterhaltend zu machen.“ Parteinahme war nicht Goethes Sache, Streitigkeiten mochte er nicht, aber hier ließ er sich Zeit, um wenigstens den Frieden zwischen August Wilhelm und Schiller wieder herzustellen, so dass eine Zuarbeit für die Horen gesichert war.

Aber zurück zu Friedrich Schlegel, wir wollen doch die Gruppe endlich in Jena vereinigt sehen.

Nein, noch nicht, noch saß Friedrich in Berlin. Wie nebenbei erlernte er nicht nur verschiedene alte europäische Sprachen, sondern auch Sanskrit. Gerade hatte er Dorothea Veit kennengelernt. Im Salon von Henriette Herz.

Dorothea war die zweite Tochter von Fromet und Moses Mendelssohn (also die Tante von Felix Mendelssohn Bartholdy) und hieß eigentlich Brendel. Mit vierzehn wurde sie verlobt, mit achtzehn verheiratet. Der Gatte, Simon Veit, zehn Jahre älter. Gerade zwei Söhne von vieren überlebten ihre Kindheit.

Auch in ihrer Ehe gab es eine „Affaire“, mit einem jungen gutaussehenden Franzosen, Eduard d`Alton (selbst Goethe war von ihm bezaubert), in den auch ihre jüngere Schwester Henriette verliebt war. D´Alton reiste weiter, zurück blieb Dorothea, ungeliebt in ihrer kühlen und schalen Vernunftsehe, oder, wie Rahel Levin es ausdrückte: „Und nun wohin, mit dem entsetzlichen Vorrat, mit dem Apparat von Herz und Leben!“

Und da begegnete ihr nun eines Tages Friedrich Schlegel, schlank, noch, das Haar geschnitten, ungekräuselt und ungepudert (das zeigte seine republikanische Gesinnung), wechselhaft und polemisch. Sein Freund, der Theologe Schleiermacher beschrieb ihn als einen Mann, dem das Sanfte und Schöne wenig Eindruck machte, bei Frauen, er liebte große starke Züge. Da musste ihm die Veit schon auffallen, denn die war weder schön, noch sanft. Ihn also zog das Männlich-Starke an Dorothea an, sie liebte seine Mädchenhaftigkeit, seine femininen Züge, seine Kindlichkeit.

Zwei Jahre später ließ sie ihre Ehe mit Veit vor einem Rabbinatsgericht aufheben und verließ ihn mit ihrem jüngsten Sohn. Das war übrigens keine Seltenheit, viele der jüdischen Salondamen ließen sich im Ausgang des 19. Jahrhunderts scheiden – aber keine war eine Tochter Moses Mendelssohns.

Inzwischen aber arbeiteten August Wilhelm und Friedrich, noch räumlich getrennt, an ihrer Zeitschrift, dem „Athenäum“, einem ehrgeizigen Vorhaben, das das deutsche Geistesleben verändern sollte. Über zwei Jahre gingen Briefe und Sendungen mit Druckfahnen zur Korrektur, Berichte über die Arbeit zwischen Jena und Berlin hin und her. Erst sollte die Zeitschrift „Herkules“ heißen, später „Schlegeleum“ – man einigte sich auf „Athenäum“. Ein wildes Aufbegehren der Phantasie gegen die Vorherrschaft der Rationalität, eine Ohrfeige den zopfigen Vertretern der Spätaufklärung, die, das darf man nicht vergessen, den Buchmarkt beherrschten.

Ja, wie ging es nun weiter?

Dorothea saß allein in einer halbleeren Wohnung am Rande Berlins („Mein Mut hat etwas von der Spargelnatur an sich; je öfter er abgeschnitten wird, desto dicker wächst er.“), Friedrich bastelte am Athenäum, so gut allein sein konnte er nicht, aber Dorothea heiraten? „Uns bürgerlich zu verbinden, ist eigentlich nie unsere Absicht gewesen…“ – zumal sie nicht die einzige Frau in seinem Leben in Berlin war.

Er schrieb erst einmal die „Lucinde“, ein langatmiges, unleserliches Roman-Monstrum ohne Handlung, das aber von vielen Literaturwissenschaftlern sehr geschätzt wird, weil, wie Günter de Bruyn es ausdrückt, „es den interpretationslüsternen unter ihnen viele Möglichkeiten zu gelehrten Anmerkungen bietet.“ Friedrich verwertete darin sein Liebeserlebnis mit Dorothea, einer Frau, die Mann und Kinder verlässt, um in Libertinage mit einem Jüngeren zusammenzuleben.

Ein Skandal! Die Welt verurteilte den Roman und den Verfasser. Noch dreißig Jahre später überlegten Dresdner Damen, ob sie Schlegel empfangen dürfen.

Ein Ausbund der Schamlosigkeit, so hieß es, Lucinde ohne jene „fatalen Kleider“, die „Julius oft von der Geliebten gerissen“; Lucinde mit ihren „schwellenden Umrissen“, dem Gestammel in den Armen des Geliebten – jeder Eingeweihte sah die hingegossene Veit vor sich.

Und als Brentano zwei Freunden den Roman vorlas, äußerten die tiefe Abscheu gegen „Madame Veit, das gemeine, hässliche Judenweib“.

Die Arbeit am Athenäum drängte, August Wilhelm und Caroline wollten Friedrich endlich bei sich in Jena haben, und so schien es das Klügste zu sein, zunächst ihn und wenige Wochen später Dorothea aus dem Schussfeld in Berlin zu bringen.

Am 6.10.1799 – in Europa tobte der Zweite Koalitionskrieg Frankreichs gegen das Heilige Römische Reich (mit Ausnahme Preußens) – also am 6. Oktober kam Dorothea in Jena an, und da haben wir sie im Kern beisammen: die Clique. Die Romantiker.

Und jetzt wurde es lustig.

Im Döderleinschen-Haus am Löbdergraben wohnten im Parterre Dorothea mit ihrem Sohn Philipp, die Schlegels über ihnen und Friedrich oben im Dachgeschoß.

Das Haus existiert nicht mehr, heute findet man in der Straße eine Städtische Begegnungsstätte, eine Fahrradwerkstatt, mehrere Friseure und, jawohl, einen Büro- und Sprachenservice.

In der bereits zitierten Biographie von 1931, verfasst von der Philosophin Margarete Susman, liest man: „ In diesem Haus, in dem sich damals der ganze Romantikerkreis konzentrierte, lernte sie (Dorothea) erst das eigentliche romantische Leben kennen.“

Was aber war das „eigentliche romantische Leben“?

Der verehrte Ludwig Tieck erschien im Winter mit seiner Frau Amalie, der zwanzigjährige Clemens Brentano studierte (nach Bergwissenschaften) nun Medizin an der Universität Jena und war oft zu Gast, und mit dem aus dem nahen Weißenfels oft anreisenden Friedrich von Hardenberg waren nun endlich alle Protagonisten der Frühromantik in Jena versammelt.

Man schrieb tagsüber, gut, die Frauen mussten sich auch um die Haushalte kümmern, und am Gelde mangelte es an allen Ecken, aber am Abend fand man sich zu heiterer Geselligkeit, las vor, was man am Tage produziert, und was andere veröffentlicht hatten.

Schillers Glocke fand Zuhörer, die, wie Caroline ihrer Tochter schrieb, vor Lachen fast von den Stühlen gefallen sind. Und flugs wurde von August und Tieck eine Parodie ersonnen, die eine andere Institution der deutschen Literatur, nämlich Thomas Mann, „…unangebracht bis zur Schnödigkeit“ fand.

Kritik des Küsters

Wir Küster, würd´ger Herr, sind hoch erfreut,

Daß Sie so schön der Glocken Lob gesungen;

Es hat uns fast wie Festgeläut geklungen.

Nun haben Sie sich etwas weit zerstreut,

Und dabei doch den Hauptpunkt übergangen:

Die Klöpfel mein ich, die darinnen hangen.

Denn ohne Zung im Munde – mit Respekt

Zu sagen – müsste ja der Pfarrer selbst verstummen.

So, wenn kein Klöpfel in den Glocken steckt,

Wie sehr man auch am Seile zerrt und reckt,

Man bringt sie nicht zum Bimmeln oder Brummen.

Überhaupt hatten sie es auf den armen Schiller abgesehen: hier ein Epigramm mit dem Titel Gesicherte Unsterblichkeit:

So lang es Schwaben gibt in Schwaben

Wird Schiller stets Bewundrer haben.

Oder:

Wenn jemand „Schoße“ reimt auf „Rose“,

Auf „Menschen“ „wünschen“ und in Prose

Und Versen schillert: Freunde wißt:

Dass seine Heimat Schwaben ist.

Oder zum Erscheinen der Briefe Goethes und Schillers:

Gar schön grüßt Goethe Schillers liebe Frau;

Die Gute grüßt; sie grüßt und hört nicht auf zu grüßen,

Dreihundertsechzigmal! Ich zählt es ganz genau:

Vier Bogen füllt es an, der Käufer muss es büßen.

Den Gipfel der Parodienstreiche stellt wohl ihre Erwiderung auf Schillers Lob der Frauen dar:

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,

Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,

Flicken zerrissene Pantalons aus;

Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,

Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,

Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte

Findt am Zarten nicht Geschmack.

Zum gegorenen Gerstensafte

Raucht er immerfort Taback,

Brummt, wie Bären an der Kette,

Knufft die Kinder spat und fruh;

Und dem Weibchen, nachts im Bette,

Kehrt er gleich den Rücken zu.

Goethe, Goethe hingegen wurde verehrt. Natürlich kursiert die Geschichte, Tieck habe beim Besuch in Weimar, als Goethe zu einem Gespräche nicht bereit war, gefragt, was denn dann seine Besichtigung koste.

Dennoch, man liebte Goethe, und Rezensionen in den Athenäums-Nummern fielen stets jubelnd und geradezu marktschreierisch aus. Den Meister freute es, wenn er wieder einmal so vorzüglich und seinem Range entsprechend verstanden wurde. Und natürlich wurde das Leben in Jena um ein Vielfaches anregender. Zudem empfand es der alternde Dichter, dem es periodisch an Inspiration fehlte, motivierend, mit den jungen Leuten umzugehen (na gut, so jung waren sie alle nicht mehr, aber vom Impetus her schon). An seinen Freund Meyer, Kunscht-Meyer, schrieb er:

Denn freilich auf junge Leute müssen wir denken, mit denen man sich in Rapport und Harmonie setzen kannvon älteren ist nichts zu hoffen.

Doch zurück zu unserer leidigen Frage, wie lebte man denn nun „romantisch“? Aus den Briefen kann man ersehen, dass ständig Leute an- und abreisten. Man kann den Briefen auch entnehmen, woran man gerade arbeitete. Aber gibt es ein „romantisches“ Alltagsleben?

Bei Dorothea lesen wir:

Ja, lieber Freund, Sie sollten herkommen; wenn es so recht kunterbunt hergeht mit Witz und Philosophie und Kunstgesprächen und Herunterreißen. Dabei war es gerade für sie aus der großen Stadt Berlin in der doch recht kleinen thüringischen Stadt nicht einfach – Wachparaden, Schloss, Oper, breit angelegte Straßen und hohe Bürgerhäuser gab es hier nicht. Das Essen war anders – grüne Klöße, Bratwürste, Glitschkuchen, was aber gar nichts über die Qualität der Berliner Küche aussagt! – und der Dialekt! Weitestgehend unverständlich.

Caroline wurde da schon etwas konkreter. Da ist die Rede davon, dass sie täglich 15-18 Leute beköstigen müsse. Aber: meine Köchin ist gut, ich aufmerksam, und so geht alles aufs Beste. Bevor Gäste kommen, schrieb sie, muss man große Wäsche halten und Vorhänge aufstecken, bis zum lahm werden. Erlaubten es Haushalt und Kinder schrieben die beiden Frauen: Caroline half beim Übersetzen, Dorothea schrieb an ihrem Roman.

Jeder Spaß, der am Abend beim Wein ersonnen worden war, kam flugs in die nächste Nummer des Athenäums und wurde von Kollegen, Neidern und Gegnern gelesen. Natürlich konnte dies unziemliche Treiben nicht unbeobachtet bleiben. Jede Nummer des Athenäums, versehen mit Beiträgen befreundeter Kollegen, erregte größeres Aufsehen.

Im August 1800 erschien das letzte Heft des Athenäums, angegriffen von allen Seiten, aus Weimar von Schiller: „Egoistische und widerwärtige Ingredienzien“, und von Goethe „allgemeine Nichtigkeit“. Voss warnte vor dem: „litterarischen Freibeuternest, das sich in Jena eingenistet hat und vor dem Umgang mit dem nichtigen und niedrig handelnden Friedrich Schlegel“. Und selbst der alte Wieland im nahen Oßmannstedt resignierte: „Es sind grobe, aber witz- und sinnreiche Patrone, die sich alles erlauben, nichts zu verlieren haben, nicht wissen, was erröthen ist, und mit denen man sich beschmutzen würde, wenn man auch den Sieg über sie erhielte, welches doch beinahe unmöglich ist, da sie, auch geschlagen und niedergeworfen, gleich wieder aufstehen und es nur desto ärger machen würden.“

Selbst die tapfere, und doch einiges gewöhnte Caroline hatte mittlerweile solche Angst vor jenem öffentlichen Zetermordio, dass es ihr unmöglich war, die neue Lieferung des Athenäums aufzuschlagen. Kurz, es war ein entsetzlicher Krieg.

Dazu August Wilhelm: „Man haßt uns – gut! – man schimpft auf uns – desto besser! – man schlägt Kreuze vor uns wie vor Lästerern, Jakobinern, Sittenverderbern – Gott sey gepriesen! Das gelingt über alle Erwartung. Diese Kontensionen, in denen sich´s denn doch verräth, dass man sich leider vor uns fürchtet, unterhalten uns zwischen ernsten Arbeiten. So benimmt sich ein goldenes Zeitalter, sagen wir uns, dem sein Untergang angekündigt wird.“

Dem publizistischen Scharmützel folgten Prozesse und Prozessandrohungen, es kam zu weiteren Gerüchten aus dem Hinterhalt und zu amtlichen Vorgängen und Verlautbarungen, wie etwa dem Hannover Reskript vom September 1800, das namentlich dem Sittenverderber Friedrich Schlegel jeglichen Besuch Göttingens untersagte.

Wahrscheinlich hätte ein Kreis wie der am Löbdergraben solche Invektiven ausgehalten, wäre er im Kern gefestigt gewesen. Aber immer größere interne Spannungen, Intrigen und Eifersüchteleien begannen, die schöne Eintracht zu zerstören. Die schöne Eintracht, die es vielleicht so nie gegeben hatte.

Da war zunächst August Wilhelms Korrektheit, das Penible seines Wesens, der Hofmeisterton, der allen auf die Nerven ging. Da war Friedrichs Unfähigkeit, sich zu mäßigen, sein völlig unentwickelter Sinn für Praktisches und Geld (Herr Friedrich mit der leeren Tasche nannte ihn Brentano).

Novalis war inzwischen an seiner Tuberkulose gestorben, und Tieck, den man verehrte – dessen Frau Amalie, Malchen aber, wie Caroline es ausdrückte, missfiel, sie machte eine schlechte Figur, man hielt sie allenthalben für das Unbegreifliche an Tieck, kurz, Tieck fühlte sich nicht angenommen.

Es waren zuvörderst, man muss es leider sagen, die beiden Frauen, die dem herrlichen Miteinander ein Ende bereiteten.

Caroline verliebte sich in Schelling. Der, 12 Jahre jünger, fand nichts dabei, sie dem verehrten August Wilhelm abspenstig zu machen – wir erinnern uns: das Ich als Mittelpunkt der Welt.

Tieck, der glaubte, sein Arkadien in Jena gefunden zu haben, wurde in die Spannungen mit einbezogen:

Sonst macht Schelling der Schlegel die Cour, dass es in der ganzen Stadt einen Skandal gibt, die Veit dem Wilhelm Schlegel und so alles durcheinander. Friedrich ist allen mit der „Lucinde“ lächerlich … Es ist zu bedauern, dass diese Menschen von den göttlichen Anlagen zu wahren Affen durch die abgeschmackten Weiber werden, denn sei nur überzeugt, dass die Schlegel eigentlich die Ursach aller Zänkereien ist, in welche die beiden jetzt verfangen sind… Die Veit ist unbeschreiblich brutal…man könnte ordentlich juvenalisch über diese abgeschmackten Huren werden.“

Eiligst brach er auf, weg aus Jena, nach Hamburg, zu einem zehnjährigen unsteten Wanderleben.

Die sensiblen Schöngeister schlugen aufeinander ein, als seien sie soeben von der nächsten Baustelle entronnen. Die kleine Republik von Despoten, urteilte Dorothea, dieses Haus voller Originale, die sich immer zanken, wie kleine Buben.

Die Damen, so verschieden voneinander, entdeckten plötzlich einen Hass, als hätte es das vergangene Jahr nie gegeben.

Caroline, die ebenso wie Dorothea den philosophischen Diskursen nie ganz folgen konnte, an Novalis schrieb sie einmal: „Sie glauben nicht, wie wenig ich eigentlich von Eurem Wesen begreife, wie wenig ich eigentlich verstehe, was sie treiben“ – Caroline konnte dies stets besser überspielen als Dorothea, die nicht so recht klarkam mit den Begriffen, der es von jeher mangelte an jenem Selbstbewusstsein und jener Dreistigkeit, die nur schöne Frauen besitzen, und die auch die Religionsexperimente nicht nachvollziehen konnte.

Sie war empört, als sich Caroline Schelling zuwendete und erkannte, dass August Wilhelm wohl nie so geliebt wurde, wie es ihm zustünde. Zudem betrachteten sich auch Auguste, Carolines Tochter, mit Schelling als so gut wie verlobt – so ganz klar ist nicht, wer nun mit wem. Allen Schmutz, allen Klatsch, den die Tochter Moses Mendelssohns in Berlin als geschiedene Frau und Lucinde über sich ergehen lassen musste, häufte sie nun auf Caroline.

Hätte Wilhelm sich nicht vor Friedrich geschämt“, so schrieb sie an Schleiermacher, „so wäre zwischen den dreyen alles recht friedlich und aufgeklärt zugegangen, Caroline hätte heute einem, morgen dem anderen zugehört, und irgendein hübsches Stubenmädchen oder gar Auguste selbst, hätte die Ehe en quatre vollständig gemacht.“

Caroline, über Dorothea geifernd: „Wenn sie nur jemand totschlagen würde, ehe ich stürbe“, reiste Schelling nach, gemeinsam mit ihrer Tochter, schrieb verständnisfordernde Briefe an ihren Ehemann, die gar nicht nötig gewesen wären, hatte doch erstens ihre Ehe stets auf gegenseitiger Freiheit beruht, und befand sich doch August Wilhelm zweitens gerade mit seiner Geliebten, der Schauspielerin Friederike Unzelmann, in Berlin.

Friedrich mischte sich ein, ohne Mandat, keiner hatte ihn zum Anwalt seines Bruders berufen: Caroline wolle doch nicht etwa mit beiden Männern… da starb Auguste, Carolines fünfzehnjährige Tochter an der Ruhr.

August Wilhelm liebte das letzte von Carolines Kindern über alles. Er hatte ihr Rechnen beigebracht, hatte ihr beim Griechischen geholfen – nun wurde er fast wahnsinnig bei der Nachricht. Alle am Löbdergraben liebten Auguste und entsetzten sich über ihren Tod.

Denken Sie sich“, aber teilte Dorothea Schleiermacher mit, „die gute Auguste musste zum Sühneopfer so viel fremder Schuld werden. Die Mutter … ist gefasster und gesunder, als es uns möglich schien. O diese Frau!“

Und im Frühjahr 1801, als Caroline in ein leeres Haus am Löbdergraben zurückkehrte, Friedrich und Dorothea hatten sich inzwischen eine andere Unterkunft gesucht, geriet das Ganze zu einem makabren Streit über zerbrochene Tassenhenkel, gesprungene Gläser und zerschlagenes Porzellan. Es fehlte ein Buch – Friedrich musste es entführt haben – das Klavier sei mit Flecken übersät und auf den Möbeln seien Kratzer.

Noch Jahre nach dem Gezänk, Caroline war schon tot, beharrte Dorothea immer noch darauf, Caroline habe damals nicht die Wahrheit gesagt, „Hausrath und Möbel seien nicht verdorben, alle Zimmer sauber und ordentlich!“

Aber, hatte Caroline gemeint, das läge eben an Dorotheas „starkem Mißgefühl ihrer Nationalität“ – also an ihrem Judentum – und mittlerweile genügte ihr einfaches Erschlagen nicht mehr. Nein, nun möge man Dorothea ersäufen.

In jenem Sommer 1801, nachdem mit dem Frieden von Lunéville für das Heilige Römische Reich der Zweite Koalitionskrieg beendet wurde und endlich in Europa der Weg für einen allgemeinen Frieden gebahnt schien, in jenem Sommer erlebte Jena den Exodus seiner fruchtbarsten und berühmtesten Gelehrtenköpfe: Novalis, der als Erster forderte: Die Welt muss romantisiert werden, war tot.

Friedrich und Dorothea zogen nach Paris. Einfacher wurde es nicht für sie mit ihm. Sie musste ihn mit Freundinnen teilen, wurde ins Vertrauen über seine Liebeshändel gezogen, er besuchte Gesellschaften, sie musste die Gläubiger hinhalten. Langweilig wurde es nie mit ihm, aber seine Kälte und Anmaßung setzten ihr zu. Dennoch heiratete man und trat gemeinsam zum katholischen Glauben über. Zunächst Publizist im Dienste der Habsburger, geisterte er noch auf dem Wiener Kongress als antipreußisches konservatives Schreckgespenst durch die Salons und propagierte mit größtem Eifer sein Ideal eines deutschen Ständestaates. Wirklich berühmt machten ihn erst seine Vorlesungen in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Philosophie der Geschichte, und über die Jenaer Zeit meinte er: es sei einem damals ergangen wie immer, wenn das Blut und die ganze Lebenskraft zu sehr zu Kopfe steigen.

Ludwig Tieck, der „König der Romantik“, wie ihn Hebbel nannte, übersetzte in späteren Jahren, gemeinsam mit seiner Tochter Dorothea, die neben Spanisch auch Englisch und Griechisch vorzüglich lesen und sprechen konnte, die letzten Werke Shakespeares, in Dresden, auch ein Schlangennest, aber ein königliches, wurde er der Dichterfürst genannt – eine wahre Heimstatt jedoch konnte er nicht mehr finden.

August Wilhelm und Caroline trennten sich, und ließen sich mit der tätigen Beihilfe Goethes scheiden. Caroline heiratete Schelling, und wie die oben bereits zitierte Margarete Susman wusste: „Vom Augenblick ihrer Verbindung an Schelling herrscht in ihr vollkommene Ruhe. Jeder ihrer Briefe drückt diesen Frieden aus. In Leben und Arbeit mit ihm erblüht sie noch einmal zu ihrer letzten und doch überschwänglichsten Blüte.“

Clemens Brentano, eben 22-jährig, ging nach Göttingen zum Studium, wo er Achim von Arnim kennenlernte, mit dem er später eine vom Vorbild Jena geprägte ähnliche Wohn- und Arbeitsgemeinschaft bildete.

Als er, so notierte Gustav Schwab später Brentanos Erinnerungen, als Jenenser Student Tieck das erste Mal gesehen habe, hätte er vor Respekt geweint, und wenn die beiden Schlegel, Tiecken in der Mitte, über die Straße gegangen, wäre es ihm vorgekommen, als ob Gott der Vater von Gott dem Sohn und Gott dem heiligen Geist spazierengeführt würde.

Und August Wilhelm? Den ereilten verschiedene neue Leidenschaften. In Berlin verliebte er sich zunächst in die Schwester Tiecks, Sophie, die gerade mit dem Sprachwissenschaftler Bernhardi verheiratet war. Nach seiner Ablösung durch einen estnischen Gutsbesitzerssohn, wurde er Begleiter und Freund der Madame de Stael, Hauslehrer ihrer Kinder und bezog mit ihr Schloß Coppet, auf dem sie sozusagen unter Hausarrest lebte.

Mit dem Alter wuchs seine Eitelkeit und er wurde immer mehr zur Zielscheibe des Spottes.

Seine erstmalig 1797 erschienenen Übersetzungen der wichtigsten Werke Shakespeares gehören jedoch zum Revolutionärsten der Übersetzungsgeschichte. Anhand seiner Übersetzung des Sommernachtstraums und im Vergleich zu früheren Übersetzungen, ist nachzuvollziehen, worin das Epochale seiner Übersetzungen bestand.

Schon in früheren Jahren hatte er gemeinsam mit Gottfried August Bürger an einem Sommernachtstraum-Rudiment gearbeitet, und zwar im Geschmack seiner Zeit, nämlich in Alexandrinern, dem damals gültigen Versmaß hoher Dichtung.

In seiner eigenen Übersetzung gelang es ihm, auch im Gegensatz zur vier Jahrzehnte älteren Wielandschen Blankvers-Übersetzung, das Fremde als Fremdes anzuverwandeln zur Bereicherung des Eigenen, nämlich im Versmaß des Originals, verwandelt in die eigene Sprache – das stammt nicht von mir, es ist ein Zitat des wohl wichtigsten zeitgenössischen Shakespeare-Übersetzers, des 2020 verstorbenen Frank Günthers.

Andererseits aber, und hier tun sich Abgründe auf, meinte August Wilhelm in einem Brief an Tieck:

Ich hoffe, Sie werden in Ihrer Schrift unter anderm beweisen, Shakespeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unter die frostigen, stupiden Seelen auf dieser brutalen Insel!

Zwanzig Jahre später kam es abermals zu einer Zusammenarbeit mit Tieck: das Großprojekt der 1825 erstmals erschienenen Schlegel-Tieckschen-Shakespeare-Gesamtausgabe wurde in Angriff genommen. Wobei Tieck nicht selbst übersetzen durfte. Das besorgten seine Tochter Dorothea und Wolf Graf Baudissin.

Nicht einmal ein Jahr hatte die Gemeinschaft der Frühromantiker gehalten, und dennoch hatte sie enorme Ausstrahlung auf die weitere Entwicklung der Literatur, Malerei und später auch der Musik Europas. Eine Erfolgsgeschichte – trotz aller Missklänge und Irritationen. Geschmäht von den einen, zitiert, benutzt und weitergedacht von den anderen.

Maria Pawlowna – russische Zarentochter am Weimarer Hof

Vortrag von Dr. Annette Seemann, Weimar, Vortrag 06. September 2022

Maria Fjodorowna von Württemberg und Pawel Petrowitsch, sie hatten zehn Kinder, unter ihnen Maria Pawlowna.Bei den Heiratsverhandlungen ging es darum, den Titel Kaiserliche Hoheit und Großfürstn von Russland zu wahren. Die Verhandlungen zur Heirat von Maria Pawlowna und Carl Friedrich, dem Sohn von Herzog Carl August, zogen sich zwei Jahre hin. Alle Töchter des Zaren wurden übrigens in Herrscherhäuser Deutschlands oder der Niederlande verheiratet. Es ging um die dynastische Ausweitung des Zarenreiches nach Westeuropa hinein. Vermittler Wilhelm von Wolzogen reiste mehrfach nach Russland. Eine Million Rubel nebst einer Frau, nebst Juwelen und einen hohen Rang, schrieb sinngemäß-ironisch Königin Luise von Preußen hinsichtlich der Vorteile für den Thronfolger von Sachsen-Weimar-Eisenach. In der Tat. Eine Million Rubel floss in die klammen Weimarer Kassen, eine jährliche Apanage von 10000 Rubel, weitere geldliche Zuwendungen aus der Zarenfamilie, kostbare Geschenke. Nach dem Willen des Zaren sollte seine Schwester in jeder Lebenslage versorgt, finanziell gesichert sein. Dies bezog sich auch auf ihre Kinder. Maria Pawlowna durfte weiterhin ihrem russisch-orthodoxen Gluben anhängen, ihre Kinder sollten aber protestantisch erzogen werden. Carl Friedrich wurde aufgefordert, Russland für zwei Monate zu besuchen. Am 22. Juli 1804 wurden sie verheiratet. War auch nicht unbedingt Liebe im Spiel, so doch ein gegenseitiges Verständnis und Freundschaft.

Der Brautschatz, der in Weimar anrollte war beträchtlich: 79 Fuhrwerke, darunter allein sechs für Spiegel, eine orthodoxe Kapelle, eine komplette Küchenausstattung, Porzellan, Kleidung, Pelze (Zobel und Hermlin).

Goethe sollte eine Huldigung auf die neue Herrscherin schreiben, zeigte sich jedoch indisponiert. Schiller sprang ein. Innerhalb von neun Tagen schrieb er das Gedicht „Huldigung der Künste“.

Maria Pawlowna erwies sich als überaus kunstsinnig. Sie zeigte sich in Musik und bildender Kunst überaus bewandert. Sie brachte auch ein Klavier und ihre Harfe mit. Am 9. November 1804 wurde Schillers Huldigung aufgeführt. Von hiesigen Literaten kannte sie jedoch nur Schillers „Don Carlos“. Sie beherrschte Deutsch nur unvollkommen.

Im Hofprotokoll ist sie als Nr. 1 aufgeführt, aber nicht als Herzogin, sondern als Kaiserliche Hoheit und Großfürstin Maria Pawlowna nebst Gemahl. Carl Friedrich rangierte also hinter ihr. Die ‚Herzoginmutter hatte ihr ans Herz gelegt, die Dichter an den Hof zu bitten und deren Situation zu rezipieren. Doch sie kamen nicht immer dieser Aufforderung nach, mussten an ihren Werken arbeiten, hätten daher eine gewisse Zeit ihre Behausung zu hüten, was Maria Pawlowna verdross: Wie kann man sich dem Befehl der Regentschaft widersetzen. Und sie machte sich lustig über die Geistesgrößen. So urteilte sie sinngemäß, Goethe halte seinen Hut senkrecht vor den Bauch wie einen Blumentopf und Wieland hielte sie wegen seines Käppchens zunächst für einen Juden“.

Sie besuchte oft die Bibliothek, interessierte sich insbesondere für die Stammbuchsammlung. Sie wandte viel Geld auf, um weitere Stammbücher zu beschaffen. Diese Tätigkeit wird heute fortgesetzt. Sie besuchte Berlin, traf die Humboldts, die Brüder Grimm, in Leipzig den Maler Tischbein, in Weimar den preußischen Prinzen Ferdinand.

Ihre Hauptaufgabe war jedoch die Wohltätigkeit gegenüber Alten, Schwachen, Kindern. Ihre Fürsorge war jedoch darauf gerichtet, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Alexander empfiehlt ihr, der Kriegsläufte wegen zu emigrieren. Sie kommt dem Befehl ihres Bruders nach, emigriert ins dänische Schleswig. Sie blieb dort ein Jahr lang – gegen Napoleons Willen. Alexander will Napoleon in die Schranken weisen. Der Rheinbund wird nach Napoleons Siegen gegründet. Franz II. dankt 1806 als Kaiser ab, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist Geschichte. Die 4. Koalition gegen ein überlegenes französisches Heer wird gebildet.

In Weimar hat Herzogin Luise Napoleon gebeten, das Herzogtum bestehen zu lassen. Herzog Carl August muss 2,2 Millionen Francs Kriegstribution zahlen, Kriegsdienstverpflichtungen eingehen, demzufolge Landeskinder für das französische Heer rekrutieren.

Im September 1807 trifft Maria Pawlowna das zweite Mal in Weimar ein. Sie erwartet ihr zweites Kind, reist daher nach St. Petersburg. Doch der wahre Grund ist die wachsende Kriegsgefahr.

Doch 1812 bleibt sie endgültig in Weimar. Sie übernimmt wie ihre Schwestern außenpolitische Aufgaben, fungiert als diplomatischer Außenposten ihres Bruders. Er schickt sie nach Prag, Wien, Teplitz. Darüber schreibt sie in ihr Tagesbuch. Ihr Sohn Carl Alxander ist der einzige Mensch, der es lesen darf. Sie trifft Goethe in Teplitz, vergießt Tränen bei dieser Begegnung.

Carl August wechselt die Fronten, teilt dies in einem Brief an Alexander I. mit. Währenddessen ist Maria Pawlowna auf Reisen, erlebt in Frankfurt/Main die Krönung von Franz II. zum Österreichischen Kaiser.

Nach dem Wiener Kongress kehrt sie nach Weimar zurück, darf jetzt voll und ganz ihren Idealen frönen. Darin erfährt sie eine immer größere persönliche Befriedigung, trotz der vielen Pflichten.Sie unternimmt kunsthistorische Exkursionen, bringt Goethe schöne Dinge ihrer Reisen mit. Die Bevölkerung leidet große Armut. Sie holt Kinder von der Straße, beschafft ihnen Lehrstellen, sorgt für ihre christliche Erziehung. Und sie gründet das Patriotische Institut der Frauenvereine.Viele Außenstellen werden in Thüringen geschaffen.

Auch liest sie schon mal den „Werther“.Gegenüber Goethe hegte sie schon immer sehr viel Respekt. Bevor sie ihn traf, legte sie sich immer einen begrenzten Themenkreis zurecht. Goethe nimmt wachsend Anteil an ihrem Leben. Das kleine Fürstentum gab sich liberale Gesetze. Hier gab es die meisten Zeitschriften. In Jena ertönte laut der Ruf nach Freiheit. Maria Pawlowna fand das studentische Treiben in dieser Hinsicht nicht so gut. Die Karlsbader Beschlüsse setzten dem zunächst ein Ende.

Währenddessen kümmerte sich Maria Pawlowna auch um den Musiksektor, holte berühmte Leute nach Weimar wie Johann Nepomuk Hummel. Später kam Franz Liszt an die Ilm. Ihr Interesse galt ebenso der Park- und Landschaftsgestaltung. Sie mochte Bäume sehr gern. Die Alleen, bislang schattenlos, wurden nun bepflanzt. Sie gründete Baumschulen und Gartenbauschulen.

Carl Augusts Gemahlin Luise wurde nach der Erhebung des Landes zum Großherzogtum nun Großherzogin, Maria Pawlowna blieb Großfürstin. Sie widmete sich wie einst Anna Amalia dem kulturellen Sektor. Daher suchte sie immer donnerstags Goethe auf, um sich mit ihm zu beraten.Es blieben vertrauliche Gespräche. Von Goethe gibt es darüber keine Notizen. Doch aus ihrem Tagebuch geht beispielsweise ein wichtiges besprochenes Thema hervor: die Gründung einer Gewerbeschule.Es ging vornehmlich aum Baugewerke auf hohem fachlichem Niveau.

Sie ließ ein Lesemuseum im heutigen Nike-Tempel einrichten, wo man sich abonnieren konnte, um günstig die teuren Zeitschriften zu lesen. Goethe fand allerdings, dass dies den guten Geschmack verletzen würde.

Eine Woche vor seinem Tod trifft sie ihn das letzte Mal. Da sprachen sie wieder einmal über die Französische Revolution., tauschten literarische Neuigkeiten aus. Sein Tod traf sie auf sehr schmerzliche Weise.

1853 starb ihr Gemahl.Sie nahm Schloss Belvedere als ihren Witwensitz. Carl Alexander regierte im Geiste seines Vaters und Großvaters, Er übernahm den Auftrag seiner Mutter, Maria Pawlowna, die Wartburg zu restaurieren. Sie starb 1859 in Belvedere und ruht dort in geweihter russischer Erde.

Mehrtagesfahrt im September

Fahrt mit der Goethegesellschaft vom 08.09.-11.09.2022
Gemeinsam mit den Freunden der Goethegesellschaft Erfurt fuhren die Geraer Mitglieder der
Goethegesellschaft am 08.September mit dem Bus nach Marburg.
Auf der Fahrt machte uns Bernd Kemter mit Schriften von Wieland bekannt.
Gegen 14.00 Uhr erreichten wir Marburg. Marburg ist die acht größte Stadt Hessens und ist
Universitätsstadt. Wir besuchten das Romantikerhaus in Marburg.
Dort hörten wir einen Vortrag über die Romantiker des ausgehenden 18.Jahrhunderts.
Es war der Freundeskreis rund um Bettina und Clemens Brentano, die Grimms und Savignys, die in
Marburg die Epoche der Frühromantik prägten. Sie trafen sich im Salon, diskutierten, schrieben
Briefe, entwarfen neue Bilder von Liebe, Ehe und Freundschaft.
In den Ausstellungsräumen im Gebäude Markt 16 erzählte uns die Leiterin des Hauses im „Roten
Salon“ vom Leben der Marburger Romantiker und auch von den Romantikern des Jenaer Salons
der Romantiker – von den Gebrüder Schlegel, Novalis und Caroline Schlegel-Schelling.
In Marburg erfuhren wir auch einiges über das Leben der Heiligen Elisabeth. Elisabeth wurde
bereits als Kleinkind dem ältesten Sohn des Landgrafen Hermann von Thüringen versprochen. Den
Heiratsplänen lagen machtpolitische Erwägungen zu Grunde. Als sie ins heiratsfähige Alter
gekommen war, musste sie sich schlimme und unverhohlene Gehässigkeiten von den Verwandten,
Vasallen und Ratgebern ihres Verlobten und späteren Gemahls gefallen lassen. Diese drängten ihn
auf jede Weise, sie zu verstoßen und sie ihrem königlichen Vater zurückzuschicken. Es wurde
behauptet, sie habe eine weniger reiche Mitgift erhalten, als dem hohen Rang des Schwiegervaters
und des zukünftigen Schwiegersohnes entspreche. Aber Ludwig liebte Elisabeth und ihre Ehe war
glücklich. Er war seiner Ehefrau mit einer Treue und einem Feingefühl zugetan, die sich von den
Gepflogenheiten seiner Standesgenossen unterschieden. Bei den Mahlzeiten saß Elisabeth entgegen
den Konventionen ihrer Zeit neben ihrem Mann. Regelmäßig begleitete sie ihn auf seinen Reisen.
Aus der Ehe zwischen Elisabeth und Ludwig von Thüringen gingen drei Kinder hervor. Bereits
während ihrer Lebensjahre als Landesfürstin verrichtete Elisabeth im Dienst um Kranke und
Bedürftige schwere und damals als entwürdigend geltende Tätigkeiten. Sie spann Wolle und webte
mit ihren Dienerinnen daraus Tücher, die sie unter den Armen verteilte. Sie wusch und bekleidete
Verstorbene und sorgte für ihre Beerdigung. Ab dem Jahr 1226 half sie außerdem in dem Spital, das
sie am Fuß der Wartburg errichten ließ, persönlich bei der Pflege der Kranken und widmete sich
gezielt denen, deren Krankheiten besonders entstellend waren. 1227 hatte Ludwig das Gelübde
abgelegt, am Fünften Kreuzzug teilzunehmen und brach mit umfangreichem Gefolge auf. Die
schwangere Elisabeth begleitete ihren Mann noch bis zur Grenze Thüringens und nahm erst dort
von ihm Abschied. Ludwig zog über Hessen, Franken, Schwaben und Bayern nach Italien, um dort
mit dem Kreuzzugsheer von Kaiser Friedrich II. zusammenzutreffen. Am 12. September, kurz nach
der Einschiffung in Ortrantos, starb er an einer Infektion. Elisabeth verließ daraufhin, gemeinsam
mit ihren unmittelbaren Dienerinnen, die Wartburg. Der Priester Konrad von Marburg, ihr
Seelsorger, missbrauchte sein seelsorgerliches Amt gegenüber Elisabeth in grausamer Weise. Er
nahm ihr die Kinder weg und isolierte sie, indem er ihr ein Kontaktverbot zu ihren Freundinnen
befahl. Da Elisabeth sich durch Gelübde an ihn gebunden hatte, mochte sie sich nicht dagegen
wehren. Er peitschte sie aus und bespitzelte sie. Die Gesundheit der jungen Frau war dem nicht
lange gewachsen. Sie starb 1231 mit nur 24 Jahren. Elisabeth wurde in Marburg begraben und
deshalb gibt es in Marburg eine Elisabethkirche.

Wir fuhren an diesem Tag noch nach Wehrshausen, um dort zu übernachten.
Am nächsten Tag, am 09.September, fuhren wir nach Frankfurt am Main. Seit dem Mittelalter
gehört Frankfurt am Main zu den bedeutenden städtischen Zentren Deutschlands. Im Jahr 794
erstmals urkundlich erwähnt, war es seit 1372 Reichsstadt. Bis zum Ende des Heiligen Römischen
Reiches 1806 wurden die meisten deutschen Könige in Frankfurt am Main gewählt und seit 1562
auch die Kaiser gekrönt. Von 1815 an war die Freie Stadt Frankfurt Mitgliedsstaat des Deutschen
Bundes und zugleich dessen politisches Zentrum. Sie war Sitz der Bundesversammlung sowie
1848/49 der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt.
Wir besuchten zunächst die Paulskirche. Sie ist ein als Ausstellungs-, Gedenk- und Versammlungs-
ort genutzter ehemaliger Kirchenbau. In dem klassizistischen Rundbau des Architekten Johann
Friedrich Christian Hess tagten 1848 bis 1849 die Delegierten der Frankfurter National-
versammlung, der ersten Volksvertretung für ganz Deutschland. Die Paulskirche gilt damit neben
dem Hambacher Schloss als Symbol der demokratischen Entwicklung Deutschlands. Aus dieser,
für die Paulskirche und die deutsche Demokratiegeschichte bedeutendsten Epoche, ist von der
Innenausstattung jedoch fast nichts mehr erhalten. Am 18.März 1944 brannte die Paulskirche nach
einem Luftangrifft aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie 1947/48 als erstes historisches
Gebäude Frankfurts mit Hilfe von Spenden aus allen deutschen Ländern äußerlich bis auf das
Kegeldach wieder aufgebaut. Im Inneren entstand, anstelle des früheren Kirchenraumes mit
Emporen, eine niedrige Wandelhalle mit darüberliegendem Versammlungsraum in Plenarsaal-
Bestuhlung. Der Innenraum wurde sehr schlicht gestaltet. Zum hundertsten Gedenktag der
Nationalversammlung wurde sie am 18. Mai 1948 als Haus aller Deutschen wiedereröffnet. Vom
31. März bis zum 3. April 1848 war die Kirche Versammlungsort des Vorparlaments, das die Wahl
zur Frankfurter Nationalversammlung vorbereitete. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung
zum ersten Mal zusammen. Am 28. März 1849 verabschiedete die Nationalversammlung eine
Verfassung für das deutsche Reich, die als Vorbild für die Verfassungen der Weimaer Republik und
der Bundesrepublik Deutschland diente. Die Abgeordneten boten dem preußischen König Friedrich
Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone an. Er lehnte aber ab, weil er die Kaiserkrone nicht vom
Pöbel erhalten wollte. Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Tafeln und Denkmäler an der
Außenfassade der Kirche angebracht, um an bedeutende Personen oder Ereignisse der deutschen
Geschichte zu erinnern. Neben dem Nordeingang der Paulskirche wurde 2002 eine Plakette des
deutschen Turnerbundes angebracht. Damit wird aus Anlass des 150. Todestages des Turnvater
Jahns die historische Verbindung zwischen der Turnbewegung und der Nationalversammlung
geehrt. An der Südwestseite der Kirche folgen weitere Gedenktafeln für Carl Schurz sowie für den
Präsidenten der Nationalversammlung Heinrich von Gagern.
Bevor wir zum Romantikerhaus und zum Goethemuseum gingen, besuchten wir ein Café und
pünktlich 13.00 Uhr waren wir im Romantikerhaus. Das Deutsche Romantik-Museum präsentiert
einzigartige Originale mit neuen modernen Ausstellungsformen, die die Zeit der Romantik
erfahrbar machen. Es ist weltweit das erste Museum, das sich der Epoche der Romantik als Ganzes
widmet. Im Dialog mit dem benachbarten Goethe-Haus sind Manuskripte, Graphik, Gemälde und
Gebrauchsgegenstände zu sehen. Das Deutsche Romantik-Museum bietet eine multimediale – im
romantischen Sinn synästhetische – Umsetzung von Ideen, Werken und Personenkonstellationen.

Das Goethe-Haus im Großen Hirschgraben war bis 1795 der Wohnsitz der Familie Goethe. „Mit
dem Glockenschlage zwölf“, wie Johann Wolfgang Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ berichtete,
kam er am 28. August 1749 zur Welt und verbrachte hier seine Jugendjahre.
1795 verkaufte Goethes Mutter das Haus.
Nach der Kriegszerstörung am 22.03.1944 wurde das Elternhaus Goethes wiederaufgebaut und mit
den erhalten gebliebenen alten Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Das Goethe-Haus ist typisch
für die bürgerliche Wohnkultur im Spätbarock und lohnt einen Besuch nicht nur wegen seines
berühmten Bewohners. Der Besuch bietet einen interessanten Einblick in den Lebensstil des 18.
Jahrhunderts. Zwar entspricht die Einrichtung nicht mehr dem Original, aber man hat versucht, die
einzelnen Zimmer möglichst originalgetreu wieder herzurichten. Goethes Studierzimmer im
zweiten Obergeschoss ist ausgestattet, wie es einst war. Hier schuf der Meister den „Götz von
Berlichingen“, den „Urfaust“ und „Die Leiden des jungen Werther“. Das Goethe-Haus ist im Besitz
der Stiftung Freies Deutsches Hochstift, die auch das mit dem Goethe-Haus verbundene Goethe-
Museum betreibt. Wir besichtigten die Staatszimmer im ersten Stock, das Musikzimmer, die
Bibliothek des Vaters, das Studierzimmer im zweiten Stock und das Geburtszimmer des
Dichterfürsten mit der Taufanzeige.
Nach der Besichtigung des Goethemuseums fuhren wir nach Aschaffenburg und übernachteten im
„Goldenen Ochsen“. Nachdem wir unsere Zimmer im Hotel bezogen hatten, wanderten wir
gemeinsam zur Gaststätte „Fegerer“. Gemeint ist der Schornsteinfeger. Wir liefen vorbei am
Schloss, hatten einen wunderschönen Blick vom Schlossberg aus auf den Main und freuten uns
schon jetzt auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Im Garten der Gastwirtschaft nahmen wir unser
Abendbrot ein. Nach dem Abendbrot gönnten wir uns noch einer Stunde eines gemütlichen
Beisammenseins uns wanderten danach gemeinsam zurück zu unserem Hotel.
Am nächsten Tag, am 10.September, fuhren wir nach Miltenberg. Miltenberg liegt zwischen dem
Odenwald und dem Spessart. Die Stadt liegt am Main und wir hatten eine Schiffstour auf den Main
gebucht und zwar eine Kurzfahrt von Miltenberg nach Freudenberg. Auf der Fahrt bewunderten wir
die Buntsandsteinfelsen, sahen Schwäne, Graureiher, Kormorane und zahlreiche Enten. Schön war
auch der Anblick der Burg Freudenberg. In der sehr gut erhaltenen Burg finden im Sommer
Aufführungen statt. Bestimmt hat man von der Burg aus einen fantastischen Ausblick auf
Freudenberg und den Main. Auch die Buntsandsteinfelsen bieten einen schönen Anblick. Der
Buntsandstein aus den umgebenden Bergen war bei Baumeistern sehr gefragt, zumal sich dieser auf
dem Main leicht verschiffen ließ. Am Mainufer sind auch die Weinberge zu sehen. Zu Zeiten der
Römer verlief hier der Limes. Der Main ersetzte Palisaden und Wälle. Der Main bildete einen
„nassen Limes“. Der Fluss diente genauso wie heute dem Transport, der Fischerei und dem
Holzwirtschaft. Mit den Römern kam auch der Weinbau ins Land. Nach der Schiffstour besichtigen
wir Miltenberg. Die Stadt Miltenberg entwickelte sich seit Beginn des 13. Jahrhunderts im Schutze
der Mildenburg. Die prachtvollen Fachwerkbauten in der Altstadt sind sehenswert. Erhalten ist auch
ein großer Teil der alten Stadtmauer und ihrer Wehrtürme.
Mit dem Bus fuhren wir nach Aschaffenburg zurück. Aschaffenburg liegt an der Nordwestecke des
Mainvierecks an der Mündung der Aschaff in den Main und am Westrand des Spessarts. Der
Erzbischhof und Kurfürst von Mainz, Albrecht von Brandenburg, residierte anfangs in Halle und
verlegte 1541 infolge der Reformation seine Residenz nach Aschaffenburg. In Aschaffenburg

befinden sich das Stadttheater, das unter Großherzog Karl Theodor von Dalberg 1811 erbaut
wurde.
Am Nachmittag dieses 10. Septembers besichtigten wir das Museum der Stiftskirche. Gezeigt
werden archäologische Funde von der Jungsteinzeit, der Römerzeit und des Mittelalters.
Erwähnenswert ist die beachtliche Sammlung römischer Funde aus den Limeskastellen am
Untermain mit einem eingerichteten Lapidarium. Präsentiert werden auch reiche Bodenfunde aus
alemannischen und fränkischen Reihengräbern des 6. bis 8. Jahrhunderts. Bedeutend ist ebenfalls
der mittelalterliche Staatsschatz mit wertvollen Objekten aus Silber, Gold und Bergkristall.
Wir bewunderten die Rekonstruktion des Magdalenenaltars aus der Werkstatt Lucas Cranach des
Älteren (Stiftsschatz). Die Altartafeln stammen aus dem Mainzer Domschatz St. Martin. Der Patron
des Bistums Mainz ist in kostbare, perlenbesetzte bischhöflichen Gewänder gehüllt. Der Kontrast
zu der armseligen Gestalt des verkrüppelten Bettlers ist recht groß. Der Bischof wirft dem Bettler
ein Almosen in die Schale und blickt dabei über den armen Bettler hinweg.
In der Stiftskirche befindet sich noch heute das prachtvolle Bronzegrabmal Albrechts von
Brandenburg, das Albrecht sich von dem berühmten Nürnberger Bildhauer und Erzgießer Peter
Vicher dem Jüngeren anfertigen ließ.
Bedeutend sind auch die erhaltenen historischen Räume des Stifts: der Kapitalsaal des 12./13.
Jahrhunderts, der „Gotische Saal“ (13. Jahrhundert), der „Paramentenraum“ mit einer farbigen
Stuckdecke aus dem Jahr 1723 sowie der ehemalige Stiftskarzer, das Kanonikerzimmer und der
neue Kapitelsaal, in dem Teile der originalen Ausstattung aus der Zeit um 1620 zu sehen sind.
Albrecht von Brandenburg wirkte in Aschaffenburg als Mäzen bildender Künstler, wobei er
besonders Lucas Cranach den Älteren umfangreich mit Aufträgen bedachte. Aus Brandenburg
brachte er viele seiner der Kirche gestifteten Kunstschätze mit. So wechselten mehrere Cranach-
Bilder und ein Reliquien-Kalender, in welchem zu jedem Tagesheiligen eine seiner Reliquien
gesammelt wurde, in den Besitz der Stiftskirche. Aus seiner neuen Residenz führte Albrecht auch
den berühmten Schriftwechsel mit Martin Luther zum Ablasshandel.
Im Anschluss an die Besichtigung des Stiftmuseums besuchen wir die „Stiftskirche St. Peter und
Alexander“. Die Stiftskirche war ein Teil eines Stifts, dessen Gründung auf den Herzog Liudolf
von Schwaben im10. Jahrhundert zurückgeht. 1814 wurde Aschaffenburg bayrisch und gehört zum
Bistum Würzburg. 1958 erhob der Papst Pius XII.das Gotteshaus zur Basilika. Im Jahr 1516 gaben
die Stiftsherren von St.Peter und Alexander bei Mathis, dem Maler, der später als Matthias
Grünewald berühmt geworden ist, Altarbilder in Auftrag. Grünewalds „Beweinung Christi“ ist ein
Meisterwerk. In fahler Todesfarbe stellt Grünewald den gemarterten Leichnam mit der Dornenkrone
dar. Parallel zum Haupt Christi sind die in Verzweiflung gerungenen Hände Marias zu sehen. Zu
Füßen von Jesus Christ sitzt Maria Magdalena, die das Leid Marias teilt. „Die Beweinung Christi“
zählt zu den herausragenden Kunstwerken der Renaissance in Deutschland. Sehenswert sind auch
der wunderschöne Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert, das ottonische Kruzifix aus dem 10. Jahr-
hundert und der „Maria-Schnee-Altar“.
17.30 Uhr gingen wir gemeinsam zur Gaststätte Fegerer“. Heute war es regnerisch, deshalb wurden
wir im Keller der Gasstätte untergebracht.

Für den Abend war ein Kabarettbesuch gebucht. Vince Ebert trat als Alleinunterhalter auf und
verglich die Deutschen und die Amerikaner miteinander. Nach der Pause machte er mit witzigen
Bemerkungen den Zuschauern den Unterschied zwischen Männern und Frauen klar.
An unserem Abreisetag, dem 11.September, trafen wir uns früh um 8.00 Uhr, um das Pompejanum
zu sehen. Wir liefen durch den Schlossgarten, der von Friedrich Ludwig Sckell angelegt wurde und
sich vom Schloss Johannisburg bis zum Pompejanum erstreckt. Wir bewunderten den
wunderschönen Arkadengang, den Blick auf den Main und den herrlichen Fernblick. Auf dem
kurzen Spaziergang kamen wir auch an dem Frühstückstempel vorbei.
Wir wussten, dass wir um diese Zeit das Pompejanum noch nicht besichtigen konnten, aber nach
dem Frühstück war das Pompejanum geöffnet. Wir wanderten also noch einmal zu dem reizvollen
Nachbau eines römischen Hauses, das sich auf dem Weinberg über dem Main erhebt und auf
Veranlassung Ludwigs I. vom Architekt Friedrich von Gärtner geschaffen wurde. Angeregt durch
die Ausgrabungen in Pompeji ließ König Ludwig I. diese ideale Nachbildung eines römischen
Wohnhauses von 1840 bis 1848 bauen, nicht als Villa für sich selbst, sondern als Anschauungs-
objekt, das Kunstbegeisterten auch hierzulande das Studium der antiken Kultur ermöglichen sollte.
Um zwei Innenhöfe, das Atrium mit seinem Wasserbecken und das begrünte Viridarium im
rückwärtigen Hausteil, sind im Erdgeschoss die Empfangs- und Gästezimmer, die Küche und die
Speisezimmer angeordnet. Für die prachtvolle Ausmalung der Innenräume und die Mosaikfußböden
wurden antike Vorbilder kopiert oder nachempfunden.
Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, konnte das Pompejanum seit 1960 in mehreren Phasen
wieder restauriert und vervollständigt werden. Seit 1994 sind hier nun zusätzlich originale römische
Kunstwerke aus den Beständen der Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek in
München zu sehen. Neben römischen Marmorskulpturen, Kleinbronzen und Gläsern zählen zwei
Götterthrone aus Marmor zu den wertvollsten Ausstellungsstücken. Zusätzlich finden jährlich
wechselnde Sonderausstellungen zu archäologischen Themen statt. Um das Pompejanum erstreckt
sich eine kleine, ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Gartenpartie. Hier sollte eine
»mediterrane Ideallandschaft« entstehen. Wärmeliebende Gehölze wie Feigen, Araucarien,
Mandelbäume, Wein, Säulenpappeln und Kiefern prägen zum Großteil noch heute das Bild dieses
südländisch anmutenden Gartens.
Nach der Besichtigung des Pompejanums war ein Frühschoppen geplant. Wir saßen noch einmal
gemütlich beisammen, unterhielten uns bei Bier oder Wein über all das Erlebte dieser Reise.und
dankten Angelika und Bernd Kemter für die große Mühe, die sie sich mit der Organisation dieser
Fahrt gemacht hatten.
Auf der Heimfahrt las uns Bernd Kemter wieder Gedichte von Wieland vor. Dann bedankten wir
uns bei unserem Fahrer Klaus. Er hat uns hervorragend kutschiert, durch enge Gassen der
verschiedenen Städte geschleust und er verstand es auch, einem Fahrern auszuweichen, der uns
unsachgemäß von rechts überholte.
Die Fahrt hat uns allen viel gegeben. Wir haben viel gesehen und auch viel gelernt.
Unser Dank gilt vor allem Angelika und Bernd Kemter, die uns auf der ganzen Reise hervorragende
Führer waren und auch durch ihr Wissen beeindruckt haben.

Wir hoffen, dass wir noch viele schöne Fahrten mit der Goethegesellschaft erleben können.

Erika Seidenbecher