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Ein glühend Herz zagt nicht beim wilden Rauschen

Vortrag von Steffi Böttger, Leipzig, vom 4. April 2023

Dem einen ist die Romantik der Inbegriff alles Schönen, dem anderen ein Gräuel. Der erste sagt, Romantik ist das große Zauberwort. Er hört das Rauschen der Wälder, das Raunen verborgener Brunnen, alle Stimmen der Nacht und die beglückende Musik des Alls.Anders der zweite: Romantik, sagt er, das ist Formlosigkeit und Unklarheit, Verworrenheit und Überschwang, Mangel an Zucht und Maß. Sie ist unheimlich und geradezu verdächtig. –

Zunächst einmal ist sie eine glänzende Epoche der deutschen Geistesgeschichte und Kunst: Caspar David Friedrich ist Romantik, Carl Maria von Weber und der junge Robert Schumann – Novalis sucht die Blaue Blume, Eichendorffs Taugenichts findet sein Glück, das er zuallererst als Anspruchslosigkeit definiert, und bei E.T.A. Hoffmann irrlichtern Gestalten aus den schlimmsten und komischsten Träumen durch die Welt. Namen wie Clemens Brentano, Achim von Arnim, Heinrich von Kleist verbinden wir damit, ja und selbst der arme Hölderlin muss in unserer Vorstellung als Romantiker herhalten.

Kunst ist für die Romantiker Religion mit den Mitteln der Poesie.

Die Aufklärung hatte zwar Licht gebracht, aber so hell, so klar, so zergliedert, so statistisch aufbereitet wollte man es nun doch nicht im heimeligen Deutschland. Geheimnisse! Wieder lief man in den Städten zusammen, um Propheten zu lauschen, die den Weltuntergang oder den Messias ankündigten. Die Welt, so predigte die Aufklärung, ist transparent und kalkulierbar, vorhersehbar und planbar – nein, war die Antwort des Lesepublikums. Man fand immer mehr Gefallen am Rätselhaften. Man zweifelte am Fortschritt, denn der brachte Kälte, Industrialisierung oder gar Terror, wie das Beispiel der französischen Revolution zeigte, die vernünftig begonnen hatte.

Geheimnisvoll und wunderbar wollte man die Literatur. Phantasien über Geheimbünde und Komplotte erregten die Gemüter in einem Ausmaß, das uns bestens bekannt sein dürfte.

Was aber ist romantisch?

Zunächst einmal kommt der Begriff aus dem Französischen, romantique, und rührt vom, ja Roman ab, nämlich der Ritterdichtung.

Romantisch bedeutet auch: einfühlsam, Gefühle der Liebe und Wärme erzeugend – und eben: die Zeit der Romantik betreffend.

Was aber ist Romantik?

Auch da müssen wir wieder in die romanischen Sprachen, denn auf Schriften, die in der lingua romana verfasst wurden bezog er sich zunächst. Daraus wurde der Roman, im Französischen. Friedrich Schlegel machte aus romanisch dann romantisch. Und das bedeutete nichts anderes als die Abwehr der Antike und alles Klassischen und eine Hinwendung zur eigenen Kultur, die man am schönsten ausgeprägt im Mittelalter zu finden glaubte.

Die romantischen Autoren übrigens bezeichneten sich nie als „romantisch“, sondern eher als „moderne Autoren“.

Die „ganze Romantik“ zu beleuchten, ist hier nicht möglich; es seien denn die Anfänge, die „Frühromantik“, die „Erste romantische Schule“, der wir hier unsere Aufmerksamkeit widmen, unter schnöder Vernachlässigung der sogenannten Heidelberger, Schwäbischen und Hochromantik.

Die Anfänge in Berlin und Jena, getragen von einer kleinen Gruppe von Dichtern, Literaturkritikern, Philosophen – und Frauen.

Zu berichten ist von einem Kreis junger Leute, von denen der älteste 37 Jahre alt war und der jüngste 20. Die Damen schwebten an der oberen Altersgrenze, aber eben kurz darunter.

Sie alle sind hier vorzustellen.

Da waren die Brüder August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Der ältere August, gerade 30, Literaturhistoriker, Übersetzer, Schriftsteller und Indologe – Friedrich, von rhetorischem Überschwang, Enthusiasmus und intellektueller Wachheit, Mitte zwanzig, Philosoph und Literaturkritiker.

An ihrer Seite ihre Frauen, die beide bereits ein bewegtes Leben hinter sich hatten.

Caroline, die Frau Augusts, geborene Michaelis, verwitwete Böhmer, nun Schlegel, eine schöne, kapriziöse Frau, sprach fließend Englisch, schon Mitte der Dreißiger.

Dorothea, die Geliebte Friedrichs, geborene Mendelssohn, geschiedene Veit. Lebensgefährtin nur, noch nicht Gattin, das ist wichtig, ein Jahr jünger als Caroline.

Nebenfiguren, aber nicht minder wichtig und verehrt, waren der Philosoph Johann Gottlieb Fichte, schon hoch in den Dreißigern; Ludwig Tieck, ein junger Dichter, und der Freiherr von Hardenberg aus dem nahen Weißenfels, besser bekannt als Novalis, zu dem man pilgerte.

Später kam Friedrich Wilhelm von Schelling hinzu, noch ganz jung an Jahren, Philosoph. Er sollte das schöpferische Ich als das einzig Reale zum Prinzip seiner Philosophie erheben – und später Schlegels Frau Caroline heiraten.

Junge Leute also, vielleicht der Gruppe 47 vergleichbar, die gegen die Moral, die Philosophie, die Literatur der Zeit revoltierten, den Buchmarkt erobern wollten und auch deshalb den Vätern Kälte, eisige Vernunft und Phantasielosigkeit vorwarfen, sich selbst als den Kern und Maßstab der Welt setzten.

Aber der Reihe nach.

Das Hauptquartier der Gruppe befand sich in Jena, von dem Alteingesessene als „Saal-Athen“ sprachen. August Wilhelm jedoch nannte es ein Lumpennest.

Der verehrte Schiller lehrte hier seit 1789, und seit 1794 hatte der Philosoph Fichte einen Lehrstuhl, von dem er aber wegen der Verbreitung atheistischer Ideen fünf Jahre später entfernt wurde; etwa 25 km entfernt lag Weimar, zu Fuß ein Spaziergang, zum angebeteten Goethe, zu Herder oder zu Wieland.

Also, im Juli 1796 kamen der Übersetzer August Wilhelm Schlegel und seine Frau Caroline in Jena an. Die Dame hatte bereits ein aufsehenerregendes Leben hinter sich. Geboren als Tochter des berühmten Orientalisten Michaelis in Göttingen, verheiratet mit dem Arzt Böhmer, der bereits nach vierjähriger Ehe starb, von dem sie aber eine Tochter, Auguste, hatte, Inhaberin eines angedichteten Verhältnisses mit Georg Forster und wegen Verbindung zu den Jakobinern von den Preußen in Haft genommen, die sie 1793 zwei Monate in Königstein und Kronberg im Taunus verbrachte. In den Tagen der Mainzer Republik hatte sich Caroline, wie es in einer Biographie aus dem Jahre 1931 heißt: „ … in der leidenschaftlichen Erregung einer Ballnacht einem blutjungen französischen Offizier hingegeben. Es war ein Rausch – und wir wissen nichts von diesem Erlebnis.“ Nun, heute wissen wir mehr, der junge Mann trug den Namen Jean-Baptiste Dubios-Crancé. August Wilhelm, den sie aus Göttinger Tagen kannte, nahm sie nach ihrer Haftentlassung auf, brachte sie nach Leipzig, später nach Lucka, wo sie einen kleinen Sohn von Dubois-Crancé zur Welt brachte, der jedoch nach zwei Jahren starb.

Caroline blieb in Deutschland als „leichtfertige Person“, „dämonische Kreatur“ und Demokratin unerwünscht. Der Besuch ihrer Heimatstadt Göttingen wurde ihr verboten, und selbst die Residenzstadt Dresden durfte sie nicht betreten.

Auch aus finanziellen Gründen heiratete sie August Wilhelm 1796, und 1931 konnte man lesen: „Die tiefe Dankbarkeit Carolines für ihren Retter…war gewiss nicht das Einzige, was ihr Verhältnis zu ihm gestaltete.“

August Wilhelm selbst, nach einer Hauslehrerstelle in Amsterdam, war nun als Kritiker, Rezensent und Übersetzer tätig und erhielt 1798 eine Professur an der Universität in Jena.

Gut, die ersten Personen waren eingetroffen, aber es fehlten noch einige. Die folgten.

In Berlin lebte sein jüngerer Bruder Friedrich, Philosoph, Kritiker und Literaturhistoriker. Der schrieb seit einigen Jahren für die Zeitschrift Deutschlanddes wie er ebenfalls von der französischen Revolution begeisterten Johann Friedrich Reichardt. Das sicherte ihm seinen Lebensunterhalt.

In dieser Zeitschrift erschien 1796 aus seiner Feder eine scharfe Kritik der Gedichte Friedrich Schillers, für dessen Musenalmanach „Horen“ auch August Wilhelm ständiger Mitarbeiter war, und den Friedrich in seinen Studententagen eigentlich verehrte. Schiller antwortete mit einem Angriff in den „Xenien“, Friedrich attackierte daraufhin die „Horen“ – ein Jahr später war der Bruch Schlegel – Schiller perfekt. Später hieß es, Schiller habe angefangen, in den „Xenien“ sachte geplänkelt, Friedrich einen „kalten, unbescheidenen Witzling“ geheißen. Egal, man kann wohl einfach davon ausgehen, sie mochten sich nicht, und Schiller schrieb an August Wilhelm: „Es hat mir Vergnügen gemacht, Ihnen …zu einer Einnahme Gelegenheit zu geben, wie man sie nicht immer haben kann, da ich aber annehmen muss, dass mich Herr Friedrich Schlegel zu der nämlichen Zeit, da ich Ihnen diesen Vorteil verschaffe, öffentlich deswegen schilt,…, so werden Sie mich für die Zukunft entschuldigen. Und um Sie, einmal für allemal, von einem Verhältnis frei zu machen, das für eine offene Denkungsart und eine zarte Gesinnung notwendig lästig sein muß, so lassen Sie mich überhaupt die Verbindung abbrechen…“

Wir verehren und lieben Sie so aufrichtig, schrieb ihm daraufhin Caroline, daß diese grade und feste Gesinnung uns auch auf einen graden Weg führte, wenn noch so viele anscheinende Kollisionen da waren.“ Das war eine handfeste Lüge, denn sie mochte Schiller nicht und er die „Madame Luzifer“, wie er sie nannte, noch weniger.

Goethe hingegen mochte August Wilhelm, ließ sich seine Übersetzung von Shakespeares „Romeo und Julia“ sehr gefallen, urteilte: „ein sehr guter Kopf, lebhaft, tätig und gewandt. Die Gegenwart August Wilhelm Schlegels trägt nicht wenig dazu bei, die Gesellschaft in Jena lebhaft und unterhaltend zu machen.“ Parteinahme war nicht Goethes Sache, Streitigkeiten mochte er nicht, aber hier ließ er sich Zeit, um wenigstens den Frieden zwischen August Wilhelm und Schiller wieder herzustellen, so dass eine Zuarbeit für die Horen gesichert war.

Aber zurück zu Friedrich Schlegel, wir wollen doch die Gruppe endlich in Jena vereinigt sehen.

Nein, noch nicht, noch saß Friedrich in Berlin. Wie nebenbei erlernte er nicht nur verschiedene alte europäische Sprachen, sondern auch Sanskrit. Gerade hatte er Dorothea Veit kennengelernt. Im Salon von Henriette Herz.

Dorothea war die zweite Tochter von Fromet und Moses Mendelssohn (also die Tante von Felix Mendelssohn Bartholdy) und hieß eigentlich Brendel. Mit vierzehn wurde sie verlobt, mit achtzehn verheiratet. Der Gatte, Simon Veit, zehn Jahre älter. Gerade zwei Söhne von vieren überlebten ihre Kindheit.

Auch in ihrer Ehe gab es eine „Affaire“, mit einem jungen gutaussehenden Franzosen, Eduard d`Alton (selbst Goethe war von ihm bezaubert), in den auch ihre jüngere Schwester Henriette verliebt war. D´Alton reiste weiter, zurück blieb Dorothea, ungeliebt in ihrer kühlen und schalen Vernunftsehe, oder, wie Rahel Levin es ausdrückte: „Und nun wohin, mit dem entsetzlichen Vorrat, mit dem Apparat von Herz und Leben!“

Und da begegnete ihr nun eines Tages Friedrich Schlegel, schlank, noch, das Haar geschnitten, ungekräuselt und ungepudert (das zeigte seine republikanische Gesinnung), wechselhaft und polemisch. Sein Freund, der Theologe Schleiermacher beschrieb ihn als einen Mann, dem das Sanfte und Schöne wenig Eindruck machte, bei Frauen, er liebte große starke Züge. Da musste ihm die Veit schon auffallen, denn die war weder schön, noch sanft. Ihn also zog das Männlich-Starke an Dorothea an, sie liebte seine Mädchenhaftigkeit, seine femininen Züge, seine Kindlichkeit.

Zwei Jahre später ließ sie ihre Ehe mit Veit vor einem Rabbinatsgericht aufheben und verließ ihn mit ihrem jüngsten Sohn. Das war übrigens keine Seltenheit, viele der jüdischen Salondamen ließen sich im Ausgang des 19. Jahrhunderts scheiden – aber keine war eine Tochter Moses Mendelssohns.

Inzwischen aber arbeiteten August Wilhelm und Friedrich, noch räumlich getrennt, an ihrer Zeitschrift, dem „Athenäum“, einem ehrgeizigen Vorhaben, das das deutsche Geistesleben verändern sollte. Über zwei Jahre gingen Briefe und Sendungen mit Druckfahnen zur Korrektur, Berichte über die Arbeit zwischen Jena und Berlin hin und her. Erst sollte die Zeitschrift „Herkules“ heißen, später „Schlegeleum“ – man einigte sich auf „Athenäum“. Ein wildes Aufbegehren der Phantasie gegen die Vorherrschaft der Rationalität, eine Ohrfeige den zopfigen Vertretern der Spätaufklärung, die, das darf man nicht vergessen, den Buchmarkt beherrschten.

Ja, wie ging es nun weiter?

Dorothea saß allein in einer halbleeren Wohnung am Rande Berlins („Mein Mut hat etwas von der Spargelnatur an sich; je öfter er abgeschnitten wird, desto dicker wächst er.“), Friedrich bastelte am Athenäum, so gut allein sein konnte er nicht, aber Dorothea heiraten? „Uns bürgerlich zu verbinden, ist eigentlich nie unsere Absicht gewesen…“ – zumal sie nicht die einzige Frau in seinem Leben in Berlin war.

Er schrieb erst einmal die „Lucinde“, ein langatmiges, unleserliches Roman-Monstrum ohne Handlung, das aber von vielen Literaturwissenschaftlern sehr geschätzt wird, weil, wie Günter de Bruyn es ausdrückt, „es den interpretationslüsternen unter ihnen viele Möglichkeiten zu gelehrten Anmerkungen bietet.“ Friedrich verwertete darin sein Liebeserlebnis mit Dorothea, einer Frau, die Mann und Kinder verlässt, um in Libertinage mit einem Jüngeren zusammenzuleben.

Ein Skandal! Die Welt verurteilte den Roman und den Verfasser. Noch dreißig Jahre später überlegten Dresdner Damen, ob sie Schlegel empfangen dürfen.

Ein Ausbund der Schamlosigkeit, so hieß es, Lucinde ohne jene „fatalen Kleider“, die „Julius oft von der Geliebten gerissen“; Lucinde mit ihren „schwellenden Umrissen“, dem Gestammel in den Armen des Geliebten – jeder Eingeweihte sah die hingegossene Veit vor sich.

Und als Brentano zwei Freunden den Roman vorlas, äußerten die tiefe Abscheu gegen „Madame Veit, das gemeine, hässliche Judenweib“.

Die Arbeit am Athenäum drängte, August Wilhelm und Caroline wollten Friedrich endlich bei sich in Jena haben, und so schien es das Klügste zu sein, zunächst ihn und wenige Wochen später Dorothea aus dem Schussfeld in Berlin zu bringen.

Am 6.10.1799 – in Europa tobte der Zweite Koalitionskrieg Frankreichs gegen das Heilige Römische Reich (mit Ausnahme Preußens) – also am 6. Oktober kam Dorothea in Jena an, und da haben wir sie im Kern beisammen: die Clique. Die Romantiker.

Und jetzt wurde es lustig.

Im Döderleinschen-Haus am Löbdergraben wohnten im Parterre Dorothea mit ihrem Sohn Philipp, die Schlegels über ihnen und Friedrich oben im Dachgeschoß.

Das Haus existiert nicht mehr, heute findet man in der Straße eine Städtische Begegnungsstätte, eine Fahrradwerkstatt, mehrere Friseure und, jawohl, einen Büro- und Sprachenservice.

In der bereits zitierten Biographie von 1931, verfasst von der Philosophin Margarete Susman, liest man: „ In diesem Haus, in dem sich damals der ganze Romantikerkreis konzentrierte, lernte sie (Dorothea) erst das eigentliche romantische Leben kennen.“

Was aber war das „eigentliche romantische Leben“?

Der verehrte Ludwig Tieck erschien im Winter mit seiner Frau Amalie, der zwanzigjährige Clemens Brentano studierte (nach Bergwissenschaften) nun Medizin an der Universität Jena und war oft zu Gast, und mit dem aus dem nahen Weißenfels oft anreisenden Friedrich von Hardenberg waren nun endlich alle Protagonisten der Frühromantik in Jena versammelt.

Man schrieb tagsüber, gut, die Frauen mussten sich auch um die Haushalte kümmern, und am Gelde mangelte es an allen Ecken, aber am Abend fand man sich zu heiterer Geselligkeit, las vor, was man am Tage produziert, und was andere veröffentlicht hatten.

Schillers Glocke fand Zuhörer, die, wie Caroline ihrer Tochter schrieb, vor Lachen fast von den Stühlen gefallen sind. Und flugs wurde von August und Tieck eine Parodie ersonnen, die eine andere Institution der deutschen Literatur, nämlich Thomas Mann, „…unangebracht bis zur Schnödigkeit“ fand.

Kritik des Küsters

Wir Küster, würd´ger Herr, sind hoch erfreut,

Daß Sie so schön der Glocken Lob gesungen;

Es hat uns fast wie Festgeläut geklungen.

Nun haben Sie sich etwas weit zerstreut,

Und dabei doch den Hauptpunkt übergangen:

Die Klöpfel mein ich, die darinnen hangen.

Denn ohne Zung im Munde – mit Respekt

Zu sagen – müsste ja der Pfarrer selbst verstummen.

So, wenn kein Klöpfel in den Glocken steckt,

Wie sehr man auch am Seile zerrt und reckt,

Man bringt sie nicht zum Bimmeln oder Brummen.

Überhaupt hatten sie es auf den armen Schiller abgesehen: hier ein Epigramm mit dem Titel Gesicherte Unsterblichkeit:

So lang es Schwaben gibt in Schwaben

Wird Schiller stets Bewundrer haben.

Oder:

Wenn jemand „Schoße“ reimt auf „Rose“,

Auf „Menschen“ „wünschen“ und in Prose

Und Versen schillert: Freunde wißt:

Dass seine Heimat Schwaben ist.

Oder zum Erscheinen der Briefe Goethes und Schillers:

Gar schön grüßt Goethe Schillers liebe Frau;

Die Gute grüßt; sie grüßt und hört nicht auf zu grüßen,

Dreihundertsechzigmal! Ich zählt es ganz genau:

Vier Bogen füllt es an, der Käufer muss es büßen.

Den Gipfel der Parodienstreiche stellt wohl ihre Erwiderung auf Schillers Lob der Frauen dar:

Ehret die Frauen! Sie stricken die Strümpfe,

Wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe,

Flicken zerrissene Pantalons aus;

Kochen dem Manne die kräftigen Suppen,

Putzen den Kindern die niedlichen Puppen,

Halten mit mäßigem Wochengeld Haus.

Doch der Mann, der tölpelhafte

Findt am Zarten nicht Geschmack.

Zum gegorenen Gerstensafte

Raucht er immerfort Taback,

Brummt, wie Bären an der Kette,

Knufft die Kinder spat und fruh;

Und dem Weibchen, nachts im Bette,

Kehrt er gleich den Rücken zu.

Goethe, Goethe hingegen wurde verehrt. Natürlich kursiert die Geschichte, Tieck habe beim Besuch in Weimar, als Goethe zu einem Gespräche nicht bereit war, gefragt, was denn dann seine Besichtigung koste.

Dennoch, man liebte Goethe, und Rezensionen in den Athenäums-Nummern fielen stets jubelnd und geradezu marktschreierisch aus. Den Meister freute es, wenn er wieder einmal so vorzüglich und seinem Range entsprechend verstanden wurde. Und natürlich wurde das Leben in Jena um ein Vielfaches anregender. Zudem empfand es der alternde Dichter, dem es periodisch an Inspiration fehlte, motivierend, mit den jungen Leuten umzugehen (na gut, so jung waren sie alle nicht mehr, aber vom Impetus her schon). An seinen Freund Meyer, Kunscht-Meyer, schrieb er:

Denn freilich auf junge Leute müssen wir denken, mit denen man sich in Rapport und Harmonie setzen kannvon älteren ist nichts zu hoffen.

Doch zurück zu unserer leidigen Frage, wie lebte man denn nun „romantisch“? Aus den Briefen kann man ersehen, dass ständig Leute an- und abreisten. Man kann den Briefen auch entnehmen, woran man gerade arbeitete. Aber gibt es ein „romantisches“ Alltagsleben?

Bei Dorothea lesen wir:

Ja, lieber Freund, Sie sollten herkommen; wenn es so recht kunterbunt hergeht mit Witz und Philosophie und Kunstgesprächen und Herunterreißen. Dabei war es gerade für sie aus der großen Stadt Berlin in der doch recht kleinen thüringischen Stadt nicht einfach – Wachparaden, Schloss, Oper, breit angelegte Straßen und hohe Bürgerhäuser gab es hier nicht. Das Essen war anders – grüne Klöße, Bratwürste, Glitschkuchen, was aber gar nichts über die Qualität der Berliner Küche aussagt! – und der Dialekt! Weitestgehend unverständlich.

Caroline wurde da schon etwas konkreter. Da ist die Rede davon, dass sie täglich 15-18 Leute beköstigen müsse. Aber: meine Köchin ist gut, ich aufmerksam, und so geht alles aufs Beste. Bevor Gäste kommen, schrieb sie, muss man große Wäsche halten und Vorhänge aufstecken, bis zum lahm werden. Erlaubten es Haushalt und Kinder schrieben die beiden Frauen: Caroline half beim Übersetzen, Dorothea schrieb an ihrem Roman.

Jeder Spaß, der am Abend beim Wein ersonnen worden war, kam flugs in die nächste Nummer des Athenäums und wurde von Kollegen, Neidern und Gegnern gelesen. Natürlich konnte dies unziemliche Treiben nicht unbeobachtet bleiben. Jede Nummer des Athenäums, versehen mit Beiträgen befreundeter Kollegen, erregte größeres Aufsehen.

Im August 1800 erschien das letzte Heft des Athenäums, angegriffen von allen Seiten, aus Weimar von Schiller: „Egoistische und widerwärtige Ingredienzien“, und von Goethe „allgemeine Nichtigkeit“. Voss warnte vor dem: „litterarischen Freibeuternest, das sich in Jena eingenistet hat und vor dem Umgang mit dem nichtigen und niedrig handelnden Friedrich Schlegel“. Und selbst der alte Wieland im nahen Oßmannstedt resignierte: „Es sind grobe, aber witz- und sinnreiche Patrone, die sich alles erlauben, nichts zu verlieren haben, nicht wissen, was erröthen ist, und mit denen man sich beschmutzen würde, wenn man auch den Sieg über sie erhielte, welches doch beinahe unmöglich ist, da sie, auch geschlagen und niedergeworfen, gleich wieder aufstehen und es nur desto ärger machen würden.“

Selbst die tapfere, und doch einiges gewöhnte Caroline hatte mittlerweile solche Angst vor jenem öffentlichen Zetermordio, dass es ihr unmöglich war, die neue Lieferung des Athenäums aufzuschlagen. Kurz, es war ein entsetzlicher Krieg.

Dazu August Wilhelm: „Man haßt uns – gut! – man schimpft auf uns – desto besser! – man schlägt Kreuze vor uns wie vor Lästerern, Jakobinern, Sittenverderbern – Gott sey gepriesen! Das gelingt über alle Erwartung. Diese Kontensionen, in denen sich´s denn doch verräth, dass man sich leider vor uns fürchtet, unterhalten uns zwischen ernsten Arbeiten. So benimmt sich ein goldenes Zeitalter, sagen wir uns, dem sein Untergang angekündigt wird.“

Dem publizistischen Scharmützel folgten Prozesse und Prozessandrohungen, es kam zu weiteren Gerüchten aus dem Hinterhalt und zu amtlichen Vorgängen und Verlautbarungen, wie etwa dem Hannover Reskript vom September 1800, das namentlich dem Sittenverderber Friedrich Schlegel jeglichen Besuch Göttingens untersagte.

Wahrscheinlich hätte ein Kreis wie der am Löbdergraben solche Invektiven ausgehalten, wäre er im Kern gefestigt gewesen. Aber immer größere interne Spannungen, Intrigen und Eifersüchteleien begannen, die schöne Eintracht zu zerstören. Die schöne Eintracht, die es vielleicht so nie gegeben hatte.

Da war zunächst August Wilhelms Korrektheit, das Penible seines Wesens, der Hofmeisterton, der allen auf die Nerven ging. Da war Friedrichs Unfähigkeit, sich zu mäßigen, sein völlig unentwickelter Sinn für Praktisches und Geld (Herr Friedrich mit der leeren Tasche nannte ihn Brentano).

Novalis war inzwischen an seiner Tuberkulose gestorben, und Tieck, den man verehrte – dessen Frau Amalie, Malchen aber, wie Caroline es ausdrückte, missfiel, sie machte eine schlechte Figur, man hielt sie allenthalben für das Unbegreifliche an Tieck, kurz, Tieck fühlte sich nicht angenommen.

Es waren zuvörderst, man muss es leider sagen, die beiden Frauen, die dem herrlichen Miteinander ein Ende bereiteten.

Caroline verliebte sich in Schelling. Der, 12 Jahre jünger, fand nichts dabei, sie dem verehrten August Wilhelm abspenstig zu machen – wir erinnern uns: das Ich als Mittelpunkt der Welt.

Tieck, der glaubte, sein Arkadien in Jena gefunden zu haben, wurde in die Spannungen mit einbezogen:

Sonst macht Schelling der Schlegel die Cour, dass es in der ganzen Stadt einen Skandal gibt, die Veit dem Wilhelm Schlegel und so alles durcheinander. Friedrich ist allen mit der „Lucinde“ lächerlich … Es ist zu bedauern, dass diese Menschen von den göttlichen Anlagen zu wahren Affen durch die abgeschmackten Weiber werden, denn sei nur überzeugt, dass die Schlegel eigentlich die Ursach aller Zänkereien ist, in welche die beiden jetzt verfangen sind… Die Veit ist unbeschreiblich brutal…man könnte ordentlich juvenalisch über diese abgeschmackten Huren werden.“

Eiligst brach er auf, weg aus Jena, nach Hamburg, zu einem zehnjährigen unsteten Wanderleben.

Die sensiblen Schöngeister schlugen aufeinander ein, als seien sie soeben von der nächsten Baustelle entronnen. Die kleine Republik von Despoten, urteilte Dorothea, dieses Haus voller Originale, die sich immer zanken, wie kleine Buben.

Die Damen, so verschieden voneinander, entdeckten plötzlich einen Hass, als hätte es das vergangene Jahr nie gegeben.

Caroline, die ebenso wie Dorothea den philosophischen Diskursen nie ganz folgen konnte, an Novalis schrieb sie einmal: „Sie glauben nicht, wie wenig ich eigentlich von Eurem Wesen begreife, wie wenig ich eigentlich verstehe, was sie treiben“ – Caroline konnte dies stets besser überspielen als Dorothea, die nicht so recht klarkam mit den Begriffen, der es von jeher mangelte an jenem Selbstbewusstsein und jener Dreistigkeit, die nur schöne Frauen besitzen, und die auch die Religionsexperimente nicht nachvollziehen konnte.

Sie war empört, als sich Caroline Schelling zuwendete und erkannte, dass August Wilhelm wohl nie so geliebt wurde, wie es ihm zustünde. Zudem betrachteten sich auch Auguste, Carolines Tochter, mit Schelling als so gut wie verlobt – so ganz klar ist nicht, wer nun mit wem. Allen Schmutz, allen Klatsch, den die Tochter Moses Mendelssohns in Berlin als geschiedene Frau und Lucinde über sich ergehen lassen musste, häufte sie nun auf Caroline.

Hätte Wilhelm sich nicht vor Friedrich geschämt“, so schrieb sie an Schleiermacher, „so wäre zwischen den dreyen alles recht friedlich und aufgeklärt zugegangen, Caroline hätte heute einem, morgen dem anderen zugehört, und irgendein hübsches Stubenmädchen oder gar Auguste selbst, hätte die Ehe en quatre vollständig gemacht.“

Caroline, über Dorothea geifernd: „Wenn sie nur jemand totschlagen würde, ehe ich stürbe“, reiste Schelling nach, gemeinsam mit ihrer Tochter, schrieb verständnisfordernde Briefe an ihren Ehemann, die gar nicht nötig gewesen wären, hatte doch erstens ihre Ehe stets auf gegenseitiger Freiheit beruht, und befand sich doch August Wilhelm zweitens gerade mit seiner Geliebten, der Schauspielerin Friederike Unzelmann, in Berlin.

Friedrich mischte sich ein, ohne Mandat, keiner hatte ihn zum Anwalt seines Bruders berufen: Caroline wolle doch nicht etwa mit beiden Männern… da starb Auguste, Carolines fünfzehnjährige Tochter an der Ruhr.

August Wilhelm liebte das letzte von Carolines Kindern über alles. Er hatte ihr Rechnen beigebracht, hatte ihr beim Griechischen geholfen – nun wurde er fast wahnsinnig bei der Nachricht. Alle am Löbdergraben liebten Auguste und entsetzten sich über ihren Tod.

Denken Sie sich“, aber teilte Dorothea Schleiermacher mit, „die gute Auguste musste zum Sühneopfer so viel fremder Schuld werden. Die Mutter … ist gefasster und gesunder, als es uns möglich schien. O diese Frau!“

Und im Frühjahr 1801, als Caroline in ein leeres Haus am Löbdergraben zurückkehrte, Friedrich und Dorothea hatten sich inzwischen eine andere Unterkunft gesucht, geriet das Ganze zu einem makabren Streit über zerbrochene Tassenhenkel, gesprungene Gläser und zerschlagenes Porzellan. Es fehlte ein Buch – Friedrich musste es entführt haben – das Klavier sei mit Flecken übersät und auf den Möbeln seien Kratzer.

Noch Jahre nach dem Gezänk, Caroline war schon tot, beharrte Dorothea immer noch darauf, Caroline habe damals nicht die Wahrheit gesagt, „Hausrath und Möbel seien nicht verdorben, alle Zimmer sauber und ordentlich!“

Aber, hatte Caroline gemeint, das läge eben an Dorotheas „starkem Mißgefühl ihrer Nationalität“ – also an ihrem Judentum – und mittlerweile genügte ihr einfaches Erschlagen nicht mehr. Nein, nun möge man Dorothea ersäufen.

In jenem Sommer 1801, nachdem mit dem Frieden von Lunéville für das Heilige Römische Reich der Zweite Koalitionskrieg beendet wurde und endlich in Europa der Weg für einen allgemeinen Frieden gebahnt schien, in jenem Sommer erlebte Jena den Exodus seiner fruchtbarsten und berühmtesten Gelehrtenköpfe: Novalis, der als Erster forderte: Die Welt muss romantisiert werden, war tot.

Friedrich und Dorothea zogen nach Paris. Einfacher wurde es nicht für sie mit ihm. Sie musste ihn mit Freundinnen teilen, wurde ins Vertrauen über seine Liebeshändel gezogen, er besuchte Gesellschaften, sie musste die Gläubiger hinhalten. Langweilig wurde es nie mit ihm, aber seine Kälte und Anmaßung setzten ihr zu. Dennoch heiratete man und trat gemeinsam zum katholischen Glauben über. Zunächst Publizist im Dienste der Habsburger, geisterte er noch auf dem Wiener Kongress als antipreußisches konservatives Schreckgespenst durch die Salons und propagierte mit größtem Eifer sein Ideal eines deutschen Ständestaates. Wirklich berühmt machten ihn erst seine Vorlesungen in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts zur Philosophie der Geschichte, und über die Jenaer Zeit meinte er: es sei einem damals ergangen wie immer, wenn das Blut und die ganze Lebenskraft zu sehr zu Kopfe steigen.

Ludwig Tieck, der „König der Romantik“, wie ihn Hebbel nannte, übersetzte in späteren Jahren, gemeinsam mit seiner Tochter Dorothea, die neben Spanisch auch Englisch und Griechisch vorzüglich lesen und sprechen konnte, die letzten Werke Shakespeares, in Dresden, auch ein Schlangennest, aber ein königliches, wurde er der Dichterfürst genannt – eine wahre Heimstatt jedoch konnte er nicht mehr finden.

August Wilhelm und Caroline trennten sich, und ließen sich mit der tätigen Beihilfe Goethes scheiden. Caroline heiratete Schelling, und wie die oben bereits zitierte Margarete Susman wusste: „Vom Augenblick ihrer Verbindung an Schelling herrscht in ihr vollkommene Ruhe. Jeder ihrer Briefe drückt diesen Frieden aus. In Leben und Arbeit mit ihm erblüht sie noch einmal zu ihrer letzten und doch überschwänglichsten Blüte.“

Clemens Brentano, eben 22-jährig, ging nach Göttingen zum Studium, wo er Achim von Arnim kennenlernte, mit dem er später eine vom Vorbild Jena geprägte ähnliche Wohn- und Arbeitsgemeinschaft bildete.

Als er, so notierte Gustav Schwab später Brentanos Erinnerungen, als Jenenser Student Tieck das erste Mal gesehen habe, hätte er vor Respekt geweint, und wenn die beiden Schlegel, Tiecken in der Mitte, über die Straße gegangen, wäre es ihm vorgekommen, als ob Gott der Vater von Gott dem Sohn und Gott dem heiligen Geist spazierengeführt würde.

Und August Wilhelm? Den ereilten verschiedene neue Leidenschaften. In Berlin verliebte er sich zunächst in die Schwester Tiecks, Sophie, die gerade mit dem Sprachwissenschaftler Bernhardi verheiratet war. Nach seiner Ablösung durch einen estnischen Gutsbesitzerssohn, wurde er Begleiter und Freund der Madame de Stael, Hauslehrer ihrer Kinder und bezog mit ihr Schloß Coppet, auf dem sie sozusagen unter Hausarrest lebte.

Mit dem Alter wuchs seine Eitelkeit und er wurde immer mehr zur Zielscheibe des Spottes.

Seine erstmalig 1797 erschienenen Übersetzungen der wichtigsten Werke Shakespeares gehören jedoch zum Revolutionärsten der Übersetzungsgeschichte. Anhand seiner Übersetzung des Sommernachtstraums und im Vergleich zu früheren Übersetzungen, ist nachzuvollziehen, worin das Epochale seiner Übersetzungen bestand.

Schon in früheren Jahren hatte er gemeinsam mit Gottfried August Bürger an einem Sommernachtstraum-Rudiment gearbeitet, und zwar im Geschmack seiner Zeit, nämlich in Alexandrinern, dem damals gültigen Versmaß hoher Dichtung.

In seiner eigenen Übersetzung gelang es ihm, auch im Gegensatz zur vier Jahrzehnte älteren Wielandschen Blankvers-Übersetzung, das Fremde als Fremdes anzuverwandeln zur Bereicherung des Eigenen, nämlich im Versmaß des Originals, verwandelt in die eigene Sprache – das stammt nicht von mir, es ist ein Zitat des wohl wichtigsten zeitgenössischen Shakespeare-Übersetzers, des 2020 verstorbenen Frank Günthers.

Andererseits aber, und hier tun sich Abgründe auf, meinte August Wilhelm in einem Brief an Tieck:

Ich hoffe, Sie werden in Ihrer Schrift unter anderm beweisen, Shakespeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unter die frostigen, stupiden Seelen auf dieser brutalen Insel!

Zwanzig Jahre später kam es abermals zu einer Zusammenarbeit mit Tieck: das Großprojekt der 1825 erstmals erschienenen Schlegel-Tieckschen-Shakespeare-Gesamtausgabe wurde in Angriff genommen. Wobei Tieck nicht selbst übersetzen durfte. Das besorgten seine Tochter Dorothea und Wolf Graf Baudissin.

Nicht einmal ein Jahr hatte die Gemeinschaft der Frühromantiker gehalten, und dennoch hatte sie enorme Ausstrahlung auf die weitere Entwicklung der Literatur, Malerei und später auch der Musik Europas. Eine Erfolgsgeschichte – trotz aller Missklänge und Irritationen. Geschmäht von den einen, zitiert, benutzt und weitergedacht von den anderen.

Gartenkunst in Weißensee

Maria Pawlowna – russische Zarentochter am Weimarer Hof

Vortrag von Dr. Annette Seemann, Weimar, Vortrag 06. September 2022

Maria Fjodorowna von Württemberg und Pawel Petrowitsch, sie hatten zehn Kinder, unter ihnen Maria Pawlowna.Bei den Heiratsverhandlungen ging es darum, den Titel Kaiserliche Hoheit und Großfürstn von Russland zu wahren. Die Verhandlungen zur Heirat von Maria Pawlowna und Carl Friedrich, dem Sohn von Herzog Carl August, zogen sich zwei Jahre hin. Alle Töchter des Zaren wurden übrigens in Herrscherhäuser Deutschlands oder der Niederlande verheiratet. Es ging um die dynastische Ausweitung des Zarenreiches nach Westeuropa hinein. Vermittler Wilhelm von Wolzogen reiste mehrfach nach Russland. Eine Million Rubel nebst einer Frau, nebst Juwelen und einen hohen Rang, schrieb sinngemäß-ironisch Königin Luise von Preußen hinsichtlich der Vorteile für den Thronfolger von Sachsen-Weimar-Eisenach. In der Tat. Eine Million Rubel floss in die klammen Weimarer Kassen, eine jährliche Apanage von 10000 Rubel, weitere geldliche Zuwendungen aus der Zarenfamilie, kostbare Geschenke. Nach dem Willen des Zaren sollte seine Schwester in jeder Lebenslage versorgt, finanziell gesichert sein. Dies bezog sich auch auf ihre Kinder. Maria Pawlowna durfte weiterhin ihrem russisch-orthodoxen Gluben anhängen, ihre Kinder sollten aber protestantisch erzogen werden. Carl Friedrich wurde aufgefordert, Russland für zwei Monate zu besuchen. Am 22. Juli 1804 wurden sie verheiratet. War auch nicht unbedingt Liebe im Spiel, so doch ein gegenseitiges Verständnis und Freundschaft.

Der Brautschatz, der in Weimar anrollte war beträchtlich: 79 Fuhrwerke, darunter allein sechs für Spiegel, eine orthodoxe Kapelle, eine komplette Küchenausstattung, Porzellan, Kleidung, Pelze (Zobel und Hermlin).

Goethe sollte eine Huldigung auf die neue Herrscherin schreiben, zeigte sich jedoch indisponiert. Schiller sprang ein. Innerhalb von neun Tagen schrieb er das Gedicht „Huldigung der Künste“.

Maria Pawlowna erwies sich als überaus kunstsinnig. Sie zeigte sich in Musik und bildender Kunst überaus bewandert. Sie brachte auch ein Klavier und ihre Harfe mit. Am 9. November 1804 wurde Schillers Huldigung aufgeführt. Von hiesigen Literaten kannte sie jedoch nur Schillers „Don Carlos“. Sie beherrschte Deutsch nur unvollkommen.

Im Hofprotokoll ist sie als Nr. 1 aufgeführt, aber nicht als Herzogin, sondern als Kaiserliche Hoheit und Großfürstin Maria Pawlowna nebst Gemahl. Carl Friedrich rangierte also hinter ihr. Die ‚Herzoginmutter hatte ihr ans Herz gelegt, die Dichter an den Hof zu bitten und deren Situation zu rezipieren. Doch sie kamen nicht immer dieser Aufforderung nach, mussten an ihren Werken arbeiten, hätten daher eine gewisse Zeit ihre Behausung zu hüten, was Maria Pawlowna verdross: Wie kann man sich dem Befehl der Regentschaft widersetzen. Und sie machte sich lustig über die Geistesgrößen. So urteilte sie sinngemäß, Goethe halte seinen Hut senkrecht vor den Bauch wie einen Blumentopf und Wieland hielte sie wegen seines Käppchens zunächst für einen Juden“.

Sie besuchte oft die Bibliothek, interessierte sich insbesondere für die Stammbuchsammlung. Sie wandte viel Geld auf, um weitere Stammbücher zu beschaffen. Diese Tätigkeit wird heute fortgesetzt. Sie besuchte Berlin, traf die Humboldts, die Brüder Grimm, in Leipzig den Maler Tischbein, in Weimar den preußischen Prinzen Ferdinand.

Ihre Hauptaufgabe war jedoch die Wohltätigkeit gegenüber Alten, Schwachen, Kindern. Ihre Fürsorge war jedoch darauf gerichtet, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Alexander empfiehlt ihr, der Kriegsläufte wegen zu emigrieren. Sie kommt dem Befehl ihres Bruders nach, emigriert ins dänische Schleswig. Sie blieb dort ein Jahr lang – gegen Napoleons Willen. Alexander will Napoleon in die Schranken weisen. Der Rheinbund wird nach Napoleons Siegen gegründet. Franz II. dankt 1806 als Kaiser ab, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist Geschichte. Die 4. Koalition gegen ein überlegenes französisches Heer wird gebildet.

In Weimar hat Herzogin Luise Napoleon gebeten, das Herzogtum bestehen zu lassen. Herzog Carl August muss 2,2 Millionen Francs Kriegstribution zahlen, Kriegsdienstverpflichtungen eingehen, demzufolge Landeskinder für das französische Heer rekrutieren.

Im September 1807 trifft Maria Pawlowna das zweite Mal in Weimar ein. Sie erwartet ihr zweites Kind, reist daher nach St. Petersburg. Doch der wahre Grund ist die wachsende Kriegsgefahr.

Doch 1812 bleibt sie endgültig in Weimar. Sie übernimmt wie ihre Schwestern außenpolitische Aufgaben, fungiert als diplomatischer Außenposten ihres Bruders. Er schickt sie nach Prag, Wien, Teplitz. Darüber schreibt sie in ihr Tagesbuch. Ihr Sohn Carl Alxander ist der einzige Mensch, der es lesen darf. Sie trifft Goethe in Teplitz, vergießt Tränen bei dieser Begegnung.

Carl August wechselt die Fronten, teilt dies in einem Brief an Alexander I. mit. Währenddessen ist Maria Pawlowna auf Reisen, erlebt in Frankfurt/Main die Krönung von Franz II. zum Österreichischen Kaiser.

Nach dem Wiener Kongress kehrt sie nach Weimar zurück, darf jetzt voll und ganz ihren Idealen frönen. Darin erfährt sie eine immer größere persönliche Befriedigung, trotz der vielen Pflichten.Sie unternimmt kunsthistorische Exkursionen, bringt Goethe schöne Dinge ihrer Reisen mit. Die Bevölkerung leidet große Armut. Sie holt Kinder von der Straße, beschafft ihnen Lehrstellen, sorgt für ihre christliche Erziehung. Und sie gründet das Patriotische Institut der Frauenvereine.Viele Außenstellen werden in Thüringen geschaffen.

Auch liest sie schon mal den „Werther“.Gegenüber Goethe hegte sie schon immer sehr viel Respekt. Bevor sie ihn traf, legte sie sich immer einen begrenzten Themenkreis zurecht. Goethe nimmt wachsend Anteil an ihrem Leben. Das kleine Fürstentum gab sich liberale Gesetze. Hier gab es die meisten Zeitschriften. In Jena ertönte laut der Ruf nach Freiheit. Maria Pawlowna fand das studentische Treiben in dieser Hinsicht nicht so gut. Die Karlsbader Beschlüsse setzten dem zunächst ein Ende.

Währenddessen kümmerte sich Maria Pawlowna auch um den Musiksektor, holte berühmte Leute nach Weimar wie Johann Nepomuk Hummel. Später kam Franz Liszt an die Ilm. Ihr Interesse galt ebenso der Park- und Landschaftsgestaltung. Sie mochte Bäume sehr gern. Die Alleen, bislang schattenlos, wurden nun bepflanzt. Sie gründete Baumschulen und Gartenbauschulen.

Carl Augusts Gemahlin Luise wurde nach der Erhebung des Landes zum Großherzogtum nun Großherzogin, Maria Pawlowna blieb Großfürstin. Sie widmete sich wie einst Anna Amalia dem kulturellen Sektor. Daher suchte sie immer donnerstags Goethe auf, um sich mit ihm zu beraten.Es blieben vertrauliche Gespräche. Von Goethe gibt es darüber keine Notizen. Doch aus ihrem Tagebuch geht beispielsweise ein wichtiges besprochenes Thema hervor: die Gründung einer Gewerbeschule.Es ging vornehmlich aum Baugewerke auf hohem fachlichem Niveau.

Sie ließ ein Lesemuseum im heutigen Nike-Tempel einrichten, wo man sich abonnieren konnte, um günstig die teuren Zeitschriften zu lesen. Goethe fand allerdings, dass dies den guten Geschmack verletzen würde.

Eine Woche vor seinem Tod trifft sie ihn das letzte Mal. Da sprachen sie wieder einmal über die Französische Revolution., tauschten literarische Neuigkeiten aus. Sein Tod traf sie auf sehr schmerzliche Weise.

1853 starb ihr Gemahl.Sie nahm Schloss Belvedere als ihren Witwensitz. Carl Alexander regierte im Geiste seines Vaters und Großvaters, Er übernahm den Auftrag seiner Mutter, Maria Pawlowna, die Wartburg zu restaurieren. Sie starb 1859 in Belvedere und ruht dort in geweihter russischer Erde.

Von Marburg bis Aschaffenburg

Mehrtagesfahrt im September

Fahrt mit der Goethegesellschaft vom 08.09.-11.09.2022
Gemeinsam mit den Freunden der Goethegesellschaft Erfurt fuhren die Geraer Mitglieder der
Goethegesellschaft am 08.September mit dem Bus nach Marburg.
Auf der Fahrt machte uns Bernd Kemter mit Schriften von Wieland bekannt.
Gegen 14.00 Uhr erreichten wir Marburg. Marburg ist die acht größte Stadt Hessens und ist
Universitätsstadt. Wir besuchten das Romantikerhaus in Marburg.
Dort hörten wir einen Vortrag über die Romantiker des ausgehenden 18.Jahrhunderts.
Es war der Freundeskreis rund um Bettina und Clemens Brentano, die Grimms und Savignys, die in
Marburg die Epoche der Frühromantik prägten. Sie trafen sich im Salon, diskutierten, schrieben
Briefe, entwarfen neue Bilder von Liebe, Ehe und Freundschaft.
In den Ausstellungsräumen im Gebäude Markt 16 erzählte uns die Leiterin des Hauses im „Roten
Salon“ vom Leben der Marburger Romantiker und auch von den Romantikern des Jenaer Salons
der Romantiker – von den Gebrüder Schlegel, Novalis und Caroline Schlegel-Schelling.
In Marburg erfuhren wir auch einiges über das Leben der Heiligen Elisabeth. Elisabeth wurde
bereits als Kleinkind dem ältesten Sohn des Landgrafen Hermann von Thüringen versprochen. Den
Heiratsplänen lagen machtpolitische Erwägungen zu Grunde. Als sie ins heiratsfähige Alter
gekommen war, musste sie sich schlimme und unverhohlene Gehässigkeiten von den Verwandten,
Vasallen und Ratgebern ihres Verlobten und späteren Gemahls gefallen lassen. Diese drängten ihn
auf jede Weise, sie zu verstoßen und sie ihrem königlichen Vater zurückzuschicken. Es wurde
behauptet, sie habe eine weniger reiche Mitgift erhalten, als dem hohen Rang des Schwiegervaters
und des zukünftigen Schwiegersohnes entspreche. Aber Ludwig liebte Elisabeth und ihre Ehe war
glücklich. Er war seiner Ehefrau mit einer Treue und einem Feingefühl zugetan, die sich von den
Gepflogenheiten seiner Standesgenossen unterschieden. Bei den Mahlzeiten saß Elisabeth entgegen
den Konventionen ihrer Zeit neben ihrem Mann. Regelmäßig begleitete sie ihn auf seinen Reisen.
Aus der Ehe zwischen Elisabeth und Ludwig von Thüringen gingen drei Kinder hervor. Bereits
während ihrer Lebensjahre als Landesfürstin verrichtete Elisabeth im Dienst um Kranke und
Bedürftige schwere und damals als entwürdigend geltende Tätigkeiten. Sie spann Wolle und webte
mit ihren Dienerinnen daraus Tücher, die sie unter den Armen verteilte. Sie wusch und bekleidete
Verstorbene und sorgte für ihre Beerdigung. Ab dem Jahr 1226 half sie außerdem in dem Spital, das
sie am Fuß der Wartburg errichten ließ, persönlich bei der Pflege der Kranken und widmete sich
gezielt denen, deren Krankheiten besonders entstellend waren. 1227 hatte Ludwig das Gelübde
abgelegt, am Fünften Kreuzzug teilzunehmen und brach mit umfangreichem Gefolge auf. Die
schwangere Elisabeth begleitete ihren Mann noch bis zur Grenze Thüringens und nahm erst dort
von ihm Abschied. Ludwig zog über Hessen, Franken, Schwaben und Bayern nach Italien, um dort
mit dem Kreuzzugsheer von Kaiser Friedrich II. zusammenzutreffen. Am 12. September, kurz nach
der Einschiffung in Ortrantos, starb er an einer Infektion. Elisabeth verließ daraufhin, gemeinsam
mit ihren unmittelbaren Dienerinnen, die Wartburg. Der Priester Konrad von Marburg, ihr
Seelsorger, missbrauchte sein seelsorgerliches Amt gegenüber Elisabeth in grausamer Weise. Er
nahm ihr die Kinder weg und isolierte sie, indem er ihr ein Kontaktverbot zu ihren Freundinnen
befahl. Da Elisabeth sich durch Gelübde an ihn gebunden hatte, mochte sie sich nicht dagegen
wehren. Er peitschte sie aus und bespitzelte sie. Die Gesundheit der jungen Frau war dem nicht
lange gewachsen. Sie starb 1231 mit nur 24 Jahren. Elisabeth wurde in Marburg begraben und
deshalb gibt es in Marburg eine Elisabethkirche.

Wir fuhren an diesem Tag noch nach Wehrshausen, um dort zu übernachten.
Am nächsten Tag, am 09.September, fuhren wir nach Frankfurt am Main. Seit dem Mittelalter
gehört Frankfurt am Main zu den bedeutenden städtischen Zentren Deutschlands. Im Jahr 794
erstmals urkundlich erwähnt, war es seit 1372 Reichsstadt. Bis zum Ende des Heiligen Römischen
Reiches 1806 wurden die meisten deutschen Könige in Frankfurt am Main gewählt und seit 1562
auch die Kaiser gekrönt. Von 1815 an war die Freie Stadt Frankfurt Mitgliedsstaat des Deutschen
Bundes und zugleich dessen politisches Zentrum. Sie war Sitz der Bundesversammlung sowie
1848/49 der Nationalversammlung und der Provisorischen Zentralgewalt.
Wir besuchten zunächst die Paulskirche. Sie ist ein als Ausstellungs-, Gedenk- und Versammlungs-
ort genutzter ehemaliger Kirchenbau. In dem klassizistischen Rundbau des Architekten Johann
Friedrich Christian Hess tagten 1848 bis 1849 die Delegierten der Frankfurter National-
versammlung, der ersten Volksvertretung für ganz Deutschland. Die Paulskirche gilt damit neben
dem Hambacher Schloss als Symbol der demokratischen Entwicklung Deutschlands. Aus dieser,
für die Paulskirche und die deutsche Demokratiegeschichte bedeutendsten Epoche, ist von der
Innenausstattung jedoch fast nichts mehr erhalten. Am 18.März 1944 brannte die Paulskirche nach
einem Luftangrifft aus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie 1947/48 als erstes historisches
Gebäude Frankfurts mit Hilfe von Spenden aus allen deutschen Ländern äußerlich bis auf das
Kegeldach wieder aufgebaut. Im Inneren entstand, anstelle des früheren Kirchenraumes mit
Emporen, eine niedrige Wandelhalle mit darüberliegendem Versammlungsraum in Plenarsaal-
Bestuhlung. Der Innenraum wurde sehr schlicht gestaltet. Zum hundertsten Gedenktag der
Nationalversammlung wurde sie am 18. Mai 1948 als Haus aller Deutschen wiedereröffnet. Vom
31. März bis zum 3. April 1848 war die Kirche Versammlungsort des Vorparlaments, das die Wahl
zur Frankfurter Nationalversammlung vorbereitete. Am 18. Mai 1848 trat die Nationalversammlung
zum ersten Mal zusammen. Am 28. März 1849 verabschiedete die Nationalversammlung eine
Verfassung für das deutsche Reich, die als Vorbild für die Verfassungen der Weimaer Republik und
der Bundesrepublik Deutschland diente. Die Abgeordneten boten dem preußischen König Friedrich
Wilhelm IV. die deutsche Kaiserkrone an. Er lehnte aber ab, weil er die Kaiserkrone nicht vom
Pöbel erhalten wollte. Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche Tafeln und Denkmäler an der
Außenfassade der Kirche angebracht, um an bedeutende Personen oder Ereignisse der deutschen
Geschichte zu erinnern. Neben dem Nordeingang der Paulskirche wurde 2002 eine Plakette des
deutschen Turnerbundes angebracht. Damit wird aus Anlass des 150. Todestages des Turnvater
Jahns die historische Verbindung zwischen der Turnbewegung und der Nationalversammlung
geehrt. An der Südwestseite der Kirche folgen weitere Gedenktafeln für Carl Schurz sowie für den
Präsidenten der Nationalversammlung Heinrich von Gagern.
Bevor wir zum Romantikerhaus und zum Goethemuseum gingen, besuchten wir ein Café und
pünktlich 13.00 Uhr waren wir im Romantikerhaus. Das Deutsche Romantik-Museum präsentiert
einzigartige Originale mit neuen modernen Ausstellungsformen, die die Zeit der Romantik
erfahrbar machen. Es ist weltweit das erste Museum, das sich der Epoche der Romantik als Ganzes
widmet. Im Dialog mit dem benachbarten Goethe-Haus sind Manuskripte, Graphik, Gemälde und
Gebrauchsgegenstände zu sehen. Das Deutsche Romantik-Museum bietet eine multimediale – im
romantischen Sinn synästhetische – Umsetzung von Ideen, Werken und Personenkonstellationen.

Das Goethe-Haus im Großen Hirschgraben war bis 1795 der Wohnsitz der Familie Goethe. „Mit
dem Glockenschlage zwölf“, wie Johann Wolfgang Goethe in „Dichtung und Wahrheit“ berichtete,
kam er am 28. August 1749 zur Welt und verbrachte hier seine Jugendjahre.
1795 verkaufte Goethes Mutter das Haus.
Nach der Kriegszerstörung am 22.03.1944 wurde das Elternhaus Goethes wiederaufgebaut und mit
den erhalten gebliebenen alten Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Das Goethe-Haus ist typisch
für die bürgerliche Wohnkultur im Spätbarock und lohnt einen Besuch nicht nur wegen seines
berühmten Bewohners. Der Besuch bietet einen interessanten Einblick in den Lebensstil des 18.
Jahrhunderts. Zwar entspricht die Einrichtung nicht mehr dem Original, aber man hat versucht, die
einzelnen Zimmer möglichst originalgetreu wieder herzurichten. Goethes Studierzimmer im
zweiten Obergeschoss ist ausgestattet, wie es einst war. Hier schuf der Meister den „Götz von
Berlichingen“, den „Urfaust“ und „Die Leiden des jungen Werther“. Das Goethe-Haus ist im Besitz
der Stiftung Freies Deutsches Hochstift, die auch das mit dem Goethe-Haus verbundene Goethe-
Museum betreibt. Wir besichtigten die Staatszimmer im ersten Stock, das Musikzimmer, die
Bibliothek des Vaters, das Studierzimmer im zweiten Stock und das Geburtszimmer des
Dichterfürsten mit der Taufanzeige.
Nach der Besichtigung des Goethemuseums fuhren wir nach Aschaffenburg und übernachteten im
„Goldenen Ochsen“. Nachdem wir unsere Zimmer im Hotel bezogen hatten, wanderten wir
gemeinsam zur Gaststätte „Fegerer“. Gemeint ist der Schornsteinfeger. Wir liefen vorbei am
Schloss, hatten einen wunderschönen Blick vom Schlossberg aus auf den Main und freuten uns
schon jetzt auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt. Im Garten der Gastwirtschaft nahmen wir unser
Abendbrot ein. Nach dem Abendbrot gönnten wir uns noch einer Stunde eines gemütlichen
Beisammenseins uns wanderten danach gemeinsam zurück zu unserem Hotel.
Am nächsten Tag, am 10.September, fuhren wir nach Miltenberg. Miltenberg liegt zwischen dem
Odenwald und dem Spessart. Die Stadt liegt am Main und wir hatten eine Schiffstour auf den Main
gebucht und zwar eine Kurzfahrt von Miltenberg nach Freudenberg. Auf der Fahrt bewunderten wir
die Buntsandsteinfelsen, sahen Schwäne, Graureiher, Kormorane und zahlreiche Enten. Schön war
auch der Anblick der Burg Freudenberg. In der sehr gut erhaltenen Burg finden im Sommer
Aufführungen statt. Bestimmt hat man von der Burg aus einen fantastischen Ausblick auf
Freudenberg und den Main. Auch die Buntsandsteinfelsen bieten einen schönen Anblick. Der
Buntsandstein aus den umgebenden Bergen war bei Baumeistern sehr gefragt, zumal sich dieser auf
dem Main leicht verschiffen ließ. Am Mainufer sind auch die Weinberge zu sehen. Zu Zeiten der
Römer verlief hier der Limes. Der Main ersetzte Palisaden und Wälle. Der Main bildete einen
„nassen Limes“. Der Fluss diente genauso wie heute dem Transport, der Fischerei und dem
Holzwirtschaft. Mit den Römern kam auch der Weinbau ins Land. Nach der Schiffstour besichtigen
wir Miltenberg. Die Stadt Miltenberg entwickelte sich seit Beginn des 13. Jahrhunderts im Schutze
der Mildenburg. Die prachtvollen Fachwerkbauten in der Altstadt sind sehenswert. Erhalten ist auch
ein großer Teil der alten Stadtmauer und ihrer Wehrtürme.
Mit dem Bus fuhren wir nach Aschaffenburg zurück. Aschaffenburg liegt an der Nordwestecke des
Mainvierecks an der Mündung der Aschaff in den Main und am Westrand des Spessarts. Der
Erzbischhof und Kurfürst von Mainz, Albrecht von Brandenburg, residierte anfangs in Halle und
verlegte 1541 infolge der Reformation seine Residenz nach Aschaffenburg. In Aschaffenburg

befinden sich das Stadttheater, das unter Großherzog Karl Theodor von Dalberg 1811 erbaut
wurde.
Am Nachmittag dieses 10. Septembers besichtigten wir das Museum der Stiftskirche. Gezeigt
werden archäologische Funde von der Jungsteinzeit, der Römerzeit und des Mittelalters.
Erwähnenswert ist die beachtliche Sammlung römischer Funde aus den Limeskastellen am
Untermain mit einem eingerichteten Lapidarium. Präsentiert werden auch reiche Bodenfunde aus
alemannischen und fränkischen Reihengräbern des 6. bis 8. Jahrhunderts. Bedeutend ist ebenfalls
der mittelalterliche Staatsschatz mit wertvollen Objekten aus Silber, Gold und Bergkristall.
Wir bewunderten die Rekonstruktion des Magdalenenaltars aus der Werkstatt Lucas Cranach des
Älteren (Stiftsschatz). Die Altartafeln stammen aus dem Mainzer Domschatz St. Martin. Der Patron
des Bistums Mainz ist in kostbare, perlenbesetzte bischhöflichen Gewänder gehüllt. Der Kontrast
zu der armseligen Gestalt des verkrüppelten Bettlers ist recht groß. Der Bischof wirft dem Bettler
ein Almosen in die Schale und blickt dabei über den armen Bettler hinweg.
In der Stiftskirche befindet sich noch heute das prachtvolle Bronzegrabmal Albrechts von
Brandenburg, das Albrecht sich von dem berühmten Nürnberger Bildhauer und Erzgießer Peter
Vicher dem Jüngeren anfertigen ließ.
Bedeutend sind auch die erhaltenen historischen Räume des Stifts: der Kapitalsaal des 12./13.
Jahrhunderts, der „Gotische Saal“ (13. Jahrhundert), der „Paramentenraum“ mit einer farbigen
Stuckdecke aus dem Jahr 1723 sowie der ehemalige Stiftskarzer, das Kanonikerzimmer und der
neue Kapitelsaal, in dem Teile der originalen Ausstattung aus der Zeit um 1620 zu sehen sind.
Albrecht von Brandenburg wirkte in Aschaffenburg als Mäzen bildender Künstler, wobei er
besonders Lucas Cranach den Älteren umfangreich mit Aufträgen bedachte. Aus Brandenburg
brachte er viele seiner der Kirche gestifteten Kunstschätze mit. So wechselten mehrere Cranach-
Bilder und ein Reliquien-Kalender, in welchem zu jedem Tagesheiligen eine seiner Reliquien
gesammelt wurde, in den Besitz der Stiftskirche. Aus seiner neuen Residenz führte Albrecht auch
den berühmten Schriftwechsel mit Martin Luther zum Ablasshandel.
Im Anschluss an die Besichtigung des Stiftmuseums besuchen wir die „Stiftskirche St. Peter und
Alexander“. Die Stiftskirche war ein Teil eines Stifts, dessen Gründung auf den Herzog Liudolf
von Schwaben im10. Jahrhundert zurückgeht. 1814 wurde Aschaffenburg bayrisch und gehört zum
Bistum Würzburg. 1958 erhob der Papst Pius XII.das Gotteshaus zur Basilika. Im Jahr 1516 gaben
die Stiftsherren von St.Peter und Alexander bei Mathis, dem Maler, der später als Matthias
Grünewald berühmt geworden ist, Altarbilder in Auftrag. Grünewalds „Beweinung Christi“ ist ein
Meisterwerk. In fahler Todesfarbe stellt Grünewald den gemarterten Leichnam mit der Dornenkrone
dar. Parallel zum Haupt Christi sind die in Verzweiflung gerungenen Hände Marias zu sehen. Zu
Füßen von Jesus Christ sitzt Maria Magdalena, die das Leid Marias teilt. „Die Beweinung Christi“
zählt zu den herausragenden Kunstwerken der Renaissance in Deutschland. Sehenswert sind auch
der wunderschöne Kreuzgang aus dem 13. Jahrhundert, das ottonische Kruzifix aus dem 10. Jahr-
hundert und der „Maria-Schnee-Altar“.
17.30 Uhr gingen wir gemeinsam zur Gaststätte Fegerer“. Heute war es regnerisch, deshalb wurden
wir im Keller der Gasstätte untergebracht.

Für den Abend war ein Kabarettbesuch gebucht. Vince Ebert trat als Alleinunterhalter auf und
verglich die Deutschen und die Amerikaner miteinander. Nach der Pause machte er mit witzigen
Bemerkungen den Zuschauern den Unterschied zwischen Männern und Frauen klar.
An unserem Abreisetag, dem 11.September, trafen wir uns früh um 8.00 Uhr, um das Pompejanum
zu sehen. Wir liefen durch den Schlossgarten, der von Friedrich Ludwig Sckell angelegt wurde und
sich vom Schloss Johannisburg bis zum Pompejanum erstreckt. Wir bewunderten den
wunderschönen Arkadengang, den Blick auf den Main und den herrlichen Fernblick. Auf dem
kurzen Spaziergang kamen wir auch an dem Frühstückstempel vorbei.
Wir wussten, dass wir um diese Zeit das Pompejanum noch nicht besichtigen konnten, aber nach
dem Frühstück war das Pompejanum geöffnet. Wir wanderten also noch einmal zu dem reizvollen
Nachbau eines römischen Hauses, das sich auf dem Weinberg über dem Main erhebt und auf
Veranlassung Ludwigs I. vom Architekt Friedrich von Gärtner geschaffen wurde. Angeregt durch
die Ausgrabungen in Pompeji ließ König Ludwig I. diese ideale Nachbildung eines römischen
Wohnhauses von 1840 bis 1848 bauen, nicht als Villa für sich selbst, sondern als Anschauungs-
objekt, das Kunstbegeisterten auch hierzulande das Studium der antiken Kultur ermöglichen sollte.
Um zwei Innenhöfe, das Atrium mit seinem Wasserbecken und das begrünte Viridarium im
rückwärtigen Hausteil, sind im Erdgeschoss die Empfangs- und Gästezimmer, die Küche und die
Speisezimmer angeordnet. Für die prachtvolle Ausmalung der Innenräume und die Mosaikfußböden
wurden antike Vorbilder kopiert oder nachempfunden.
Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, konnte das Pompejanum seit 1960 in mehreren Phasen
wieder restauriert und vervollständigt werden. Seit 1994 sind hier nun zusätzlich originale römische
Kunstwerke aus den Beständen der Staatlichen Antikensammlungen und der Glyptothek in
München zu sehen. Neben römischen Marmorskulpturen, Kleinbronzen und Gläsern zählen zwei
Götterthrone aus Marmor zu den wertvollsten Ausstellungsstücken. Zusätzlich finden jährlich
wechselnde Sonderausstellungen zu archäologischen Themen statt. Um das Pompejanum erstreckt
sich eine kleine, ebenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts angelegte Gartenpartie. Hier sollte eine
»mediterrane Ideallandschaft« entstehen. Wärmeliebende Gehölze wie Feigen, Araucarien,
Mandelbäume, Wein, Säulenpappeln und Kiefern prägen zum Großteil noch heute das Bild dieses
südländisch anmutenden Gartens.
Nach der Besichtigung des Pompejanums war ein Frühschoppen geplant. Wir saßen noch einmal
gemütlich beisammen, unterhielten uns bei Bier oder Wein über all das Erlebte dieser Reise.und
dankten Angelika und Bernd Kemter für die große Mühe, die sie sich mit der Organisation dieser
Fahrt gemacht hatten.
Auf der Heimfahrt las uns Bernd Kemter wieder Gedichte von Wieland vor. Dann bedankten wir
uns bei unserem Fahrer Klaus. Er hat uns hervorragend kutschiert, durch enge Gassen der
verschiedenen Städte geschleust und er verstand es auch, einem Fahrern auszuweichen, der uns
unsachgemäß von rechts überholte.
Die Fahrt hat uns allen viel gegeben. Wir haben viel gesehen und auch viel gelernt.
Unser Dank gilt vor allem Angelika und Bernd Kemter, die uns auf der ganzen Reise hervorragende
Führer waren und auch durch ihr Wissen beeindruckt haben.

Wir hoffen, dass wir noch viele schöne Fahrten mit der Goethegesellschaft erleben können.

Erika Seidenbecher

Beinahe beste Freunde – Alexander von Humboldt und Johann Wolfgang von Goethe

Vortrag von Dr. Dieter Strauss, Offenbach, am 4. Mai 2022

„Alexander nötigt uns zur Naturwissenschaft“. Dieses Lob stellt das wichtigste Verhältnis zwischen Goethe und Alexander von Humboldt ins Licht. Im März 1794 besuchte der Dichter in Jena die beiden Brüder Alexander und Wilhelm, der wiederum mit Friedrich Schiller befreundet war. Aus dem Zusammentreffen dieser vier Geistesgrößen entstand die „Kleine Akademie“; ein reger Gedankenaustausch insbesondere zu naturwissenschaftlichen Fragen.

1799 bis 1804 unternahm Alexander von Humboldt seine Südamerika-Reise. Goethe hat diese Unternehmung leidenschaftlich verfolgt, alles über sie gelesen. Humboldt erkletterte den Chimborazo in Ecuador. Er gelangte im Urwald bis an die Grenze Brasiliens, das er nicht betreten durfte. Er musste sich auf die Westküste der spanischen Kolonien bis Lima beschränken. Doch durch diese Reise wurde er gewissermaßen ein Weltstar, gemäß „Faust“ (Manto in der Klassischen Walpurgisnacht): „Den lieb‘ ich, der Unmögliches begehrt!“ Hier wäre auch die große Brasilien-Expedition des Georg Heinrich von Langsdorff zu nennen, der dieses Land zwischen 1822 und 1829 bereist hat. Bei Strauss‘ Remake in den 90-ern waren wie bei Langsdorff Künstler dabei, die ihre Eindrücke in Zeichnungen und Installationen festgehalten haben. Humboldt kam 1829 auch nach Russland, bis an die mongolische Grenze.

Zurück zu Südamerika. Er reiste auch durch Venezuela, östlich von Caracas: „Ich fühle es, dass ich hier sehr glücklich sein werde.“ Es ging ihm nur um Erkenntnis, nicht um Geld und Gold. Humboldt hat seine Forschungsreise selbst finanziert, nur für die Russlandreise kam Zar Alexander auf. Humboldt reiste auf dem Amazonas und dem Rio Negro. Er wollte experimentieren und fragen, fühlen und schmecken. Beispiel: Die Indios konnen 15 Baumrinden-Arten mit verbundenen Augen auseinander halten. Sein Credo gemäß „Faust“:

Geheimnisvoll am lichten Tag
Lässt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.

Es sollen aber auch poetisch-künstlerische Darstellungen zu ihrem Recht kommen. So sieht Goethe den Alexander von Humboldt als einen Augenmenschen mit Gefühl.

Humboldt gelangt in Einbäumen bis zum Amazonas, muss aber abbrechen. Er besucht Kuba, den Nordwesten Südamerikas, Mexiko bis Washington, weilt zu Besuch beim US-amerikanischen Präsidenten Jefferson. Er folgt im Juni 1799 dem Ruf des spanischen Königs nach Teneriffa, besteigt dort den Vulkan Teide. Er ahnt schon: Alles ist in Bewegung, alles hängt ab vom Klima und von der Bodenbeschaffenheit. Wenn nicht gottgegeben, bleibt die Erde gottentvölkert und der Himmel leer. Er verurteilt die Sklaverei als Schande und Unfug. Er kauft zwei Sklaven und lässt sie frei. Er bricht zum Orinoco und Rio Negro in Richtung Amazonas auf. Auch besuchte er die Curacao-Hato-Höhlen in der Karibik, die entflohenen Sklaven als Zufluchtsort dienten. Dort beobachtete er Vögel und Eulen. Den Indios gelten die Höhlen als Ort der Seelen ihrer Vorfahren, und Humboldt respektierte dies. Er besuchte die fruchtbaren Aragua-Täler und den Valenciasee in Venezuela. Dort kommt er zu dem Schluss, dass die Zerstörung der Urwälder durch die europäischen Ansiedler die Quellen versiegen lässt; zumindest nehmen sie stark ab. Er ahnt den Klimawandel. Das Gebiet wird später zum Nationalpark Venezuelas.

Im März 1800 besucht Humboldt den Orinoco, den zweitgrößten Fluss Südamerikas, die Katarakte von Atures und Maipone im Orinoco. Er besucht Höhlen, stellt dort Skelette fest, die in Körben hängen. Er stiehlt einen Schädel, schickt ihn zum Göttinger Prof. Blumenbach zur Analyse. Er stellt sich die Frage, ob es eine direkte natürliche Verbindung zwischen Rio Negro und Orinoco geben müsse. Die Geographen verneinen. Es liege ein Gebirge dazwischen. Aber offensichtlich entdeckt Humboldt einen Kanal. Auf Kuba kritisiert Humboldt das Zurückdrängen der Subsistenzwirtschaft zugunsten von Monopolpflanzen wie Kaffee und Zuckerrohr. Nun besichtigt er den Magdalenenstrom und gelangt nach Bogota.

Die großen Mühen fordern ihren Tribut. Geschwüre, Verletzungen, Atemnot stellen sich ein. Dem Chimborazo kommen sie, er und der Arzt, Botaniker Bonpland auf 5000 Metern nahe Die Träger laufen davon. „Mit der Natur lässt sich nicht spaßen.“ Beim Abstieg erblicken sie den Gipfel des Chimborazo. Es entsteht eine Zeichnung. Im Oktober 1802 gelangt Humboldt über Lima nach Guayaquil; Stadt mit dem wichtigsten Hafen Ecuadors. .Er erforscht dort den späteren Humboldtstrom. Die weitere Reise führt ihn 1803/04 nach Mexiko. Er bewundert den dortigen Botanischen Garten, verurteilt nochmals die Sklaverei. Anfang August 1804 gelangt er nach Bordeaux, seine Reise ist zu Ende. Exemplare von 2000 neuen Pflanzenarten und Hunderte Gesteine bringt er mit. Er verfasst zwischen 1807 bis 1827 dreißig Bände über seine Reise, zunächst auf französisch. Die deutsche Übersetzung ist schlecht. 1827 muss er nach Preußen zurück, er fürchtet Berlin wie die kurische Sandwüste. Aber er mischt Berlin auf. Er hält gut besuchte Vorlesungen in der Singakademie, regt die Gründung des Botanischen Gartens an. Und er organisiert 1828 in Berlin einen wissenschaftlichen Kongress. Goethe begleitet diesen Kongress „im Geiste“. Das letzte Treffen mit Goethe findet 1831 statt. 1828 war allerdings das wichtigste Treffen.

Goethes Reisen in die Neue Welt haben sich hingegen nur in sdessem Kopf abgespielt.

Kastratengenies im 18. Jahrhundert

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen am 5. April 2022

Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert

Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.

Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)

Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.

Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.

Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,

„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).

Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).

Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.

Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:

In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die

Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“

Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.

Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.

Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.

Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)

Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:

Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.

Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.

Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.

Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.

In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.

Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.

Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.

Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.

Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.

Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:

Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,

Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.

[…]

Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,

Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]

Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,

Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]

Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,

Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.

Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.

Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:

„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!

Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?

Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?

Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.

Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).

Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.

Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.

***

Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.

Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:

„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“

Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.

Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde

Ein Geschlecht das mir gleich sei

Zu leiden, weinen

Genießen und zu freuen sich

Und dein nicht zu achten

Wie ich!“

In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:

Spude dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Zaudern.

Frisch, holpert es gleich,

Ueber Stock und Steine den Trott

Rasch in’s Leben hinein!

Und die letzte Strophe:

Töne, Schwager, in’s Horn,

Raßle den schallenden Trab,

Daß der Orkus vernehme: wir kommen,

Drunten von ihren Sitzen

Sich die Gewaltigen lüften.

Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.

Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.

***

Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.

In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.

Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.

Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).

Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.

***

Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.

Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert

Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.

Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)

Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.

Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.

Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,

„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).

Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).

Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.

Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:

In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die

Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“

Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.

Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.

Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.

Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)

Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:

Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.

Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.

Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.

Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.

In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.

Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.

Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.

Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.

Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.

Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:

Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,

Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.

[…]

Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,

Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]

Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,

Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]

Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,

Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.

Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.

Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:

„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!

Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?

Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?

Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.

Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).

Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.

Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.

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Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.

Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:

„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“

Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.

Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde

Ein Geschlecht das mir gleich sei

Zu leiden, weinen

Genießen und zu freuen sich

Und dein nicht zu achten

Wie ich!“

In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:

Spude dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Zaudern.

Frisch, holpert es gleich,

Ueber Stock und Steine den Trott

Rasch in’s Leben hinein!

Und die letzte Strophe:

Töne, Schwager, in’s Horn,

Raßle den schallenden Trab,

Daß der Orkus vernehme: wir kommen,

Drunten von ihren Sitzen

Sich die Gewaltigen lüften.

Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.

Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.

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Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.

In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.

Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.

Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).

Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.

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Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.

Wenn man kein Liebchen hat, gibt’s keine Nacht mehr

Wenn man kein Liebchen erwartet, gibt’s keine Nacht mehr – Goethe und die Liebe

Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar

Zunächst gab der Referent einen Überblick über die vielfältigen Frauenbekanntschaften und Liebschaften Goethes. Der Dichter wohnte zwar am Frauenplan, so führte der Referent seinen amüsanten Vortrag weiter aus, aber er hatte keinen „Frauenplan“.

In vielen Werken spielte die Liebe eine maßgebende Rolle.Frauen und die Liebe waren für ihn stets eine Quelle literarischer Inspiration

Markantes Beispiel ist Frau von Stein. Wir können uns ein Bild von dieser Liaison machen, weil zumindest Goethes Briefe an sie erhalten sind. Die Stein hat Goethes Werben jedoch stets in die Schranken gewiesen. Offenbar war ihre Beziehung rein platonischer Natur gewesen. Aber hierzu regte sich Widerspruch. Einige Autoren vermuten, dass es dennoch eine körperlich erfüllte Liebe gab. 1781 soll sich Goethes asketisches „Noviziat“ erledigt haben. Es bleibt ebenso eine Hypothese, wie die Annahme einer verbotenen Liebe zu Anna Amalia. Die Herzoginwitwe beförderte immerhin Goethes Schaffen, im Liebhabertheater wurde Goetes „Fischerin“ uraufgeführt. Auch komponierte die Herzogin, schenkte Goethes Lustspiel „Erwin und Elmire“ ihre Musik, ebenso zum „Jahrmarktfest von Plundersweilern“ und „Paleophron und Neoterpe“.

Seine erotischen Abenteuer in Italien verarbeitete Goethe beispielsweise in den „Römischen Elegien“ und „Venezianischen Epigrammen“. Zu Ersteren, in Schillers „Horen“, erschienen merkte Gymnasialdirektor Karl August Böttiger entrüstet an, die „Horen“ müssten jetzt eigentlich mit einem „u“ geschrieben werden.

Am 12. Juli 1788 traf Goethe im Park an der Ilm eine hübsche, braungelockte 23-Jährige, in die er sich sofort verliebte: Christiane Vulpius. 28 Jahre dauerte ihre Verbindung, die ersten zehn als Liebesverältnis, die restliche Zeit als Ehebündnis. „Lass dich, Geliebte, nicht reun, dass du mir so schnell dich ergeben! Glaub‘ es, ich denke nicht frech, denke nicht niedrig von dir“, versicherte er. Sie war sein „Bettschatz“ und er verbrachte viele „Schlampampsstündchen“, in ihrer intimen Geheimsprache „Schäferstündchen“ mit ihr. Sie selbst bekundete oft, sie sei „hasig“, liebeslüstern. 1792, während der Kampagne in Frankreich pries er die dortigen schönen breiten Betten. Die Betten zu Haus hatten oft zu leiden, wie diverse Handwerkerrechnungen bezeugen. Dort heißt es beispielsweise: „Bett beschlagen, 6 Paar zerbrochene Bänder.“ – Kurz darauf: „Noch ein neues Bett beschlagen zum Unterschieben.“ Goethe schreibt: „Uns ergötzen die Freuden desd echten nacketen Amors/Und des geschaukelten Betts lieblich knarrender Ton.“

Der Hof war entrüstet, dass Goethe ein einfaches Mädchen aus dem Volke geheiratet hatte. Es blühte der Klatsch, so hieß es von „Goethes dicker Hälfte“, von „Mägdenatur“ und „Blutwurst“. Nur Goethes Mutter, die von Christiane in Frankfurt/M. besucht wurde, fand Gefallen an ihr. Auch Adele Schopenhauer, die in Weimar einen Salon unterhielt, fand Goethes Frau akzeptabel, so dass man der nunmehrigen „Frau Geheimrätin zumindest eine Tasse Tee anbieten“ könne..

In ihrem Briefwechsel pflegten Beide ihre Geheimsprache. Flirten hieß „Äugelchen machen“. Christiane war oft eifersüchtig. Andererseits war es auch Goethe, denn seine Christiane war lebenslustig, tanzte gern. Als sie zur Kur weilte, mahnte Goethe: „Mit den Äugelchen geht es, merke ich, ein wenig stark, nimm Dich nur in Acht, dass keine Augen draus werden.“

Am 25. Dezember 1789 wurde Sohn August geboren. Herzog Carl August übernahm allen Klatsch zum Trotz die Patenschaft. Vier weitere Kinder starben kurz nach der Geburt.

Nach Christianes Tod 1816 fand der Dichter in Ulrike von Levetzow seine letzte Liebe. Sie sei „die lieblichste der lieblichen Gestalten“. Er, der 74-Jährige, wollte sie 1823 heiraten. Ihr wurde vom Großherzog ein reichliches Jahressalär von 10 000 Talern versprochen, sie könne die erste Dame am Hofe werden. Am 28. August 1823, zu Goethes Geburtstag, kam es zur letzten Begegnung in Karlsbad. Goethes Antrag wurde abgelehnt. Ein schmerzlicher Abschied. Aus diesem Schmerz heraus entstand die berühmte „Marienbader Elegie“. Er betrachtete sie als sein Heiligtum wie auch Ulrikes Handschuhe, die er von ihr geschenkt bekam. Ulrike von Levetzow starb 1899 mit 95 Jahren.