„Und möchte gern im besten Sinn entstehn“ – Zum Bildungsprozess der Homunculus-Figur in Goethes Faust II

Vortrag von Prof. Rudolf Drux, Köln, am 6. Juni 2023

In der Szene „Laboratorium“ in Faust II stellt Goethe dar, wie der „hochgelehrte“ Magister Wagner „durch chemische Künste einen Menschen zu machen im Begriff ist“. Dessen begeisterte Schilderung ist klar zu entnehmen, was sich „in der innersten Phiole“ ereignet. Darin

Erglüht es wie lebendige Kohle,

Ja wie der herrlichste Karfunkel,

Verstrahlend Blitze durch das Dunkel.

Ein helles weißes Licht erscheint!

Sichtbar wird im Spiel der Farben, dass Wagner das Destillationsverfahren der Alchimisten zur Läuterung und Umwandlung von Stoffen anwendet: Die in der Flasche in strahlendem Rot erglühende und in ein „helles weißes Licht“ verfeinerte Kohle zeigt die Umwandlung der materia prima an, aus der sich nach anfänglicher Schwärzung (negrido) durch Aufhellung (albedo) der Homunculus (Menschlein) entwickelt, womit das alchimistische opus magnum verrichtet ist.

Klar wird die Genese des Homunkel (mit alchimistischen Fachbegriffen) beschrieben:

Es leuchtet! Seht! – Nun lässt sich wirklich hoffen,

Dass, wem wir aus vielen hundert Stoffen

Durch Mischung, denn auf Mischung kommt es an,

Den Menschenstoff gemächlich komponieren,

In einen Kolben verlutieren,

Und ihn gehörig kohobieren,

So ist das Werk im stillen abgetan.

(verlutiert – mit Lehm verschlossen; kohobiert – mehrfach destilliert)

1828, ein gutes Jahr, bevor er die Homunculus-Episode endgültig niederschrieb, gelang es Friedrich Wöhler, eine organische Substanz, den Harnstoff, synthetisch herzustellen, womit durch „Kristallisieren“ (wie damals die mechanische Veränderung anorganischer Stoffe bezeichnet wurde) das größte Geheimnis der „organisierenden Natur“ enthüllt zu sein schien.

Dass Goethe nicht viel von solch „pergamentenem“ Erkenntnisoptimismus hielt und die Überzeugung des Adepten Wagner ablehnte, auf den natürlichen Zeugungsakt zu Gunsten eines „höhern Ursprungs“ des Menschen verzichten zu können, das gibt auf der Handlungsebene des Dramas der weitere Werdegang des „Männleins“ in vitro zu verstehen: Als Galatea, der Meerestöchter Schönste, am Ende der Klassischen Walpurgisnacht erscheint, zerschellt es mit seiner Phiole „von Pulsen der Liebe gerührt“ an ihrem Muschelwagen – die Schönheit der Göttin, Signum vollkommener Körperlichkeit, nach der sich Homunculus im Bewusstsein seiner Unvollkommenheit als reines Geistwesen sehnt, treibt ihn ins Meer, wo alles Lebendige seinen Ursprung hat. Indem er so den ehernen Gesetzen der Natur gehorcht, kann er seinen dringlichsten Wunsch erfüllen und wirklich „im besten Sinn entstehn“.

Das Begehren, „weislich zu entstehn“ ist leitmotivisch mit Homunculus verbunden; dass er „voll Ungeduld“ den „geschloßnen Raum“verlassen möchte, auf den er als „künstlich“ Geschaffener angewiesen ist, rechtfertigt „der große Zweck“ völliger Menschwerdung. Zum Schluss geht das Feuer seines reinen Geistes in den Urkörper des Ozeans ein, was die Sirenen, im Duktus einer rhetorischen Frage mit Daktylen und Alliterationen als „ägäisches Fest“ hymnisch preisen:

Welch feuriges Wunder verklärt uns die Wellen,

Die gegeneinander such funkelnd zerschellen.

Im Spiel der sich vereinigenden Elemente, das zugleich mit der Verbindung von Männlichem und Weiblichem als Koitus (also wiederum sehr körpernah) konnotiert ist, wird Homunculus zur organischen Ganzheit und bringt damit das Geheimnis des Lebens zur Anschauung.

Von daher lässt sich nachvollziehen, dass bei der Suche nach der Bedeutung des Homunculus auch eine Nachlass-Notiz seines Sekretärs Riemer herangezogen wurde: Goethe habe mit dieser Figur „die reine Entelechie darstellen wollen, (…) den Geist des Menschen, wie er vor aller Erfahrung ins Leben tritt“, d. h. jene Einheit des Lebens, die das Ziel (telos) seiner Entwicklung als Anlage in sich trägt, seine materielle Form organisierend und gestaltend.

Doch auch auf der seichteren Ebene eines literaturkritischen Diskurses ist Homunculus ausgemacht worden: Das reine Geistgeschöpf, das nach einem Körper strebe, sei eine Parodie auf die romantische Universal-Poesie, die laut einem Diktum ihres Programmatikers Friedrich Schlegel beständig „im Werden“ und durch die Mischung der Gattungen („auf Mischung kommt es an“) gekennzeichnet sei. Diese Dichtung hat aber nach Meinung des alten Goethe nur theoretische Entwürfe, Schemen, Kopfgeburten statt lebendiger Werke aus Fleisch und Blut hervorgebracht.

Früherer Gewährsmann der Homunculus-Herstellung war der Hohenheimer Arzt und Naturphilosoph Paracelsus mit seiner Rezeptur, wie ein „Mensch außerhalb des weiblichen Leibes und einer natürlichen Mutter geboren werden könne“. Dabei muss „das Sperma eines Manns“ in einem dicht verschlossenen kürbisartigen Gefäß durch Einlagerung in Pferdemist einem intensiven Fäulnisprozess unterzogen werden. Wenn es „in steter gleicher Wärme“ des Dungs verbleibe und mit dem geheimnisvollen Menschenblut genährt werde, entstehe nach vierzig Wochen „ein recht lebendig menschlich Kind“, das jedoch viel kleiner sei als ein natürliches. Auf die Frau wird also verzichtet. Bis 1875 (Entdeckung der weiblichen Eizelle) galt, dass allein der Vater für die Nachkommenschaft bestimmend sei.

Insofern nun Homunculus nur aus „dem Sperma des Mannes“ bzw. aus einem spirituellen Prozess hervorgeht, der Mann aber in philosophischen Schriften etwa von Anaxagoras oder Aristoteles mit dem Verstand, mithin der prägenden Form, der strukturierenden Kraft korrelliert ist, muss der ohne stoffliche Weiblichkeit Geborene zwangsläufig geistiges Potenzial in Reinkultur aufweisen.

Und in der Tat, der frei von störender Weiblichkeit in vitro erzeugte Homunculus verfügt durchweg über herausragende geistige Fähigkeiten, die er auch bei Goethe demonstriert, wenn er als reines Geistwesen in der Phiole über die Bühne schwebt. Zum einen vermag er sich in Fausts Traum einzuschleichen und ihn als „die lieblichste von allen Szenen“ auszulegen, spielt sich in ihr doch eine weitere mythische Zeugung ab, nämlich die der schönen Helena, deren Mutter Leda von Zeus höchstpersönlich, „der Schwäne Fürsten“, beglückt wird; zum anderen ist er in der Lage, den Helena begehrenden Faust in die Antike zu geleiten. So bewährt sich Homunculus als Traumdeuter, Reiseleiter und Allheilnittel, d h. er nimmt genau die Aufgaben wahr, die die Alchemie dem Stein der Weisen zuschreibt (Homunculus wird auch als Stein der Weisen gesehen).

Dennoch empfindet er vom Augenblick seiner Entstehung an ein starkes Unbehagen an seiner Körperlosigkeit, die ihn als unvollkommenes Erzeugnis alchimistischer Laborarbeit stigmatisiert. Eben deshalb vermischt er sich, seinem „Bildungstrieb“ folgend, zum Höhepunkt des zweiten Aktes in der Klassischen Walpurgisnacht mit den Wellen des Meeres, aus dem das Leben „entsprungen“ ist, bevor es sich „in tausend, abertausend Formen entfaltet“ – und holt damit für sich die Evolution nach. So setzt Goethe der Urzeugung, der Entwicklung von Organismen aus anorganischen Stoffen im Labor das organische Wachstum „nach ewigen Normen“ in der Natur entgegen – das ist für das volle Menschsein unabdingbar.