Rückblick

Goethes Romantik-Kritik

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 1. April 2015

„Das Klassische nenne ich das Gesunde und das Romantische das Kranke“. Dieser Goethe’sche Ausspruch stammt aus einem Gespräch mit Eckermann, und zwar am 2. April 1829. Ähnliches findet sich in den „Maximen und Reflexionen“ (Nr. 863, ca. 1822).
Goethe spricht nicht von d e r Klassik oder d e r Romantik, er hat also nicht die Epochenbezeichnungen im Sinn, die wir heute verwenden. Solche Bezeichnungen entstehen ja immer auch erst später.
Hinsichtlich der Romantik findet sich bei Novalis folgende berühmte Formulierung: „Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen den unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.“ Davon später.
Zunächst sei daran erinnert, dass sich der Begriff des „Romantischen“ auch als Bezeichnung für das Mittelalter findet – als Gegenpol zur Antike. Am Anfang des 19. Jahrhunderts hält August Wilhelm Schlegel in Berlin Vorlesungen. Auf die „Geschichte der klassischen Literatur“, die ausschließlich die Antike zum Thema hat, folgen 1802/03 die Vorlesungen zur „Geschichte der romantischen Literatur“. Hier geht es um das Mittelalter, wozu nicht nur die „Rittermythologie“ (wie etwa das Nibelungenlied), die Romanzen und Volkslieder gehören, sondern auch die frühe italienische Literatur (Dante, Petrarca, Boccaccio, Ariost, Tasso). „Romantisch“ sind alle diese Texte wegen ihrer Universalität des Geistes, der Darstellung des Universums im Geiste des Mittelalters und wegen ihrer Richtung auf das Unendliche hin. Merkwürdigerweise nennt Schlegel jedoch nicht nur mittelalterliche Texte, sondern auch Zeitgenossen, ja sogar Goethe (!), der sich mit zahlreichen Versuchen dem Mittelalter angenähert habe, so etwa mit dem „Faust“ oder dem „Götz von Berlichingen“.
Wie verhält es sich aber nun mit Goethes Diktum „gesund“ versus „krank“?
Dazu eine ausführliche Äußerung Goethes, und zwar vom 28. August 1808 (also an seinem 59. Geburtstag). Riemer notiert, am Abend habe man sich „über das antike Tragische und das Romantische“ unterhalten. (Nirgends verwendet Goethe hier den Begriff des „Klassischen“, aber wir können den Begriff des „Antiken“ als Synonym ansehen.) Goethe setzt also das „Romantische“ mit dem „Modernen“ gleich. Damit meint er jedoch nicht nur seine Zeitgenossen.
„Das Antike“ sei „noch bedingt (wahrscheinlich, menschlich), das Moderne willkürlich, unmöglich.“
Weiter: „Das antike Magische und Zauberische hat Stil, das Moderne nicht. Das antike Magische ist Natur, menschlich betrachtet, das Moderne dagegen ein bloß Gedachtes, Phantastisches.“
„Das Antike ist nüchtern, modest, gemäßigt, das Moderne ganz zügellos, betrunken. Das Antike erscheint nur ein idealisiertes Reales, ein mit Großheit (Stil) und Geschmack behandeltes Ideales; das Romantische ein Unwirkliches, Unmögliches, dem durch die Phantasie nur ein Schein des Wirklichen gegeben wird.“
„Das Antike ist plastisch, wahr und reell; das Romantische täuschend wie die Bilder einer Zauberlaterne […] Nämlich eine ganz gemeine Unterlage erhält durch die romantische Behandlung einen seltsamen wunderbaren Anstrich, wo der Anstrich eben alles ist und die Unterlage nichts.“
Und noch schärfer und unwilliger, geradezu grimmig schreibt er:
„Das Romantische ist kein Natürliches, Ursprüngliches, sondern ein Gemachtes, ein Gesuchtes, Gesteigertes, Übertriebenes, Bizarres, bis ins Fratzenhafte und Karikaturartige. Kommt vor wie ein Redoutenwesen [erlernt], eine Maskerade, grelle Lichterbeleuchtung, ist humoristisch (das heißt ironisch, vergleiche Ariost, Cervantes; daher ans Komische grenzend und selbst komisch) oder wird es augenblicklich, sobald der Verstand sich daran macht, sonst ist es absurd und phantastisch.“
Jetzt wird es klar: Ganz in dem Sinne, wie es auch die Vorlesungen August Wilhelm Schlegels getan haben, setzt Goethe den Begriff des „Romantischen“ mit dem Neuen gleich, und neu ist alles, was auf die Antike folgt.
Immerhin nennt er auch Texte und Autoren, die er nicht in Bausch und Bogen verurteilt, obwohl auch sie „romantisch“ sind. Ariost ist der Verfasser des „Orlando furioso“, deutsch „Der rasende Roland“. Nicht zu vergessen: Wielands im ironisch gebrochenen Stil gehaltenes Zaubermärchen „Oberon“ wurde unter Goethes Regie am Weimarer Hoftheater als Oper aufgeführt.
Trotz einiger Missbilligung („Geschmack“ wird vermisst), hat Goethe das Nibelungenlied zumindest zeitweise geschätzt und sich intensiv mit ihm beschäftigt. Es fehlt ihm dort zugleich eine humane Projektion. Diese mittelalterliche Dichtung enthalte zwar starke Charaktere, jedoch keine kultivierte, ausgebildete Menschlichkeit; kurz nichts Musterhaftes, Vorbildliches. Da müsse man immer zu den alten Griechen zurückgehen.
Und was die zeitgenössische Literatur angeht: Hier erweist sich Goethe als übermächtige Autorität gegenüber den „Jungen“, die er ablehnt oder mehr oder weniger milde kritisiert – und die gegen ihn aufmucken.
Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat dabei immer eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension.
Dabei pflegte Goethe Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts einen durchaus guten Umgang mit der jungen Generation; es fand ein lebhafter Austausch mit den Schlegels, Schelling, Tieck, Novalis und anderen statt. Und auch umgekehrt. Dennoch kam es zur Entfremdung.
Warum? Die Neuorientierung und die Bekämpfung des „Alten“ verbanden sich mit einer Tendenz, die sich immer mehr auswuchs, nämlich die Tendenz, den Wert der eigenen Vergangenheit immer stärker hervorzuheben und ihre Qualität zu behaupten. Diese Tendenz mündete anfangs des 19. Jahrhunderts in den deutschen Kleinstaaten immer mehr in national-patriotische Bestrebungen ein, die mit einer völlig unhistorischen und somit falschen Mittelalterverehrung einher gingen. Diese Tendenz musste Goethes Widerstand, geradezu Abscheu hervorrufen.
Er wendet sich gegen das Postulat einer glanzvollen deutschen Vergangenheit, die sich nicht hinter den Griechen oder Römern verstecken muss.
Angesichts der gegenwärtigen Zersplitterung wächst die deutsche Einheitssehnsucht an; man glaubt, mit dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation schon einmal ein einheitliches Deutschland gehabt zu haben.
Insofern ist die Wiederbelebung und zugleich Glorifizierung der mittelalterlichen Literatur nicht verwunderlich. Die Auflehnung gegen Napoleon, die in den Befreiungskriegen endete, sah Goethe skeptisch, weil er zum einen einer nationalen Bewegung misstraute, zum anderen kriegerische Auseinandersetzungen als barbarisch ansah.
„Alle Freiheitsapostel, sie waren mir immer zuwider
Willkür suchte doch nur jeder am Ende für sich.“ (Venezianische Epigramme)
Im Zusammenhang mit der Betonung des Deutschen als etwas Eigenem steht die romantische Bevorzugung des Volkshaften und Volkstümlichen, die sich in Sammlungen von Märchen (Brüder Grimm) und Volksliedern (Des Knaben Wunderhorn) niederschlug. Hatten Goethe, Herder und andere noch selbst in ihrer Jugend Volkslieder gesammelt und ihnen einen ursprünglichen Zauber entdeckt, so distanzieren sie sich jetzt von den romantischen Produktionen, die ihnen übertrieben und affektiert vorkommen und sich mehr und mehr in den Dienst nationalistischer Ideen stellten.
Eine weitere Ursache für die Entfremdung zwischen Goethe und den Romantikern ist auch in deren mystisch-katholisierenden Bestrebungen zu sehen. Diese standen durchaus in Zusammenhang mit der genannten politischen Idee.

„friede ernert, unfriede verzert“

Ausflug nach Gotha am 14. März 2015

An diesem Sonnabend meinte es das Wetter nicht gut mit uns. Es nieselte, und es war kalt.
Dennoch sollte es ein ereignisreicher, interessanter Tag werden. Der Auftakt erfolgte im
Museum von Schloss Friedenstein. Wir erlebten eine sehr interessante und informative
Führung mit Frau Kretschmann. Die Geschichte des Schlosses Friedenstein ist von ihrem
Ursprung her mit Herzog Ernst, dem Frommen, verbunden. Er sorgte für den Bau der
imposanten barocken Schlossanlage, und er ließ 1650 im Westflügel eine eigene Münzstätte
einrichten. Der Name des Schlosses ist Programm. Es tobte ja noch der Dreißigjährige Krieg,
dem der fromme Souverän mit allen Mitteln auszuweichen suchte. Seine Hoffnung gründete
sich auf einen baldigen Frieden, der ja auch wenige Jahre später geschlossen wurde. Beeindruckend ist sein Wahlspruch „friede ernert, unfriede verzert“.
Wir besichtigten zahlreiche Wohn- und Repräsentationsräume, die vom Barock bis zum
Klassizismus gestaltet sind. Sehenswert ist natürlich der Festsaal, der durch seine üppigen
Stuckarbeiten auffiel. Vier allegorische Figuren verkörpern die vier Jahreszeiten. Auch lange
Türfluchten und das Audienzzimmer, das sich im oberen Etagenbereich befand und zu dem
die Bittsteller mühsam heraufsteigen mussten, belegten, dass der Herzog sehr wohl seinen
Machtanspruch auch auf diese Weise zu bekräftigen wusste. Viel Interessantes erfuhren wir
von den nachfolgenden Herrschern sowie von den territorialen Teilungen, die die einstigen
ernestinischen Lande noch weiter zersplitterten. Als die Linie Sachsen-Gotha-Altenburg im
Mannesstamm ausstarb, ging das Schloss an die Linie Sachsen-Coburg und Gotha über.
Nun war eine kleine Lesung im Ekhof-Theater angesagt. Sie wurde bestritten von den beiden
Kulmbachern Klaus Köstner und Jürgen Kohlberger und von Bernd Kemter aus Gera. Der
Kulmbacher Literaturverein und die Geraer Goethe-Gesellschaft pflegen schon mehrere Jahre
freundschaftliche Kontakte, und es besteht die Hoffnung, dass sich auch mit den Erfurtern ein
gedeihliches Miteinander entwickelt. Dass nur zwei Kulmbacher gekommen waren, lag an
dem hohen Krankheitsstand; Oberfranken wurde gerade von einer Grippewelle geschüttelt.
Es blieb noch etwas Zeit zur Abfahrt. Manche Teilnehmer besuchten das Herzogliche Schloss,
spazierten zur Orangerie oder wärmten sich in einem Cafe auf (nicht leicht zu finden).
Am frühen Nachmittag fuhren wir nach Friedrichroda, um die weltberühmte Marienglashöhle
zu bewundern. Sie gilt als eine der schönsten und größten Kristallhöhlen Europas. Auch hier
hatten wir eine Führung gebucht.
An sich handelt es sich ja bei den Felswände überziehenden Kristallen um Gips, doch zumeist
um sehr reinen Gips. Diese wunderschönen, durchscheinenden Kristalle, die bis zu einem
knappen Meter lang werden konnten, wurden für Altarbilder zur Marienverehrung gern
genutzt. Abgebaut wurde immer, wenn Bedarf bestand. Abgebaut wurde zwischen 1778, dem
Entdeckungsjahr der Höhle, und 1903. In der unteren Sohle besichtigten wir den Höhlensee
mit seinen reizvollen Wasserspiegelungen.
Anhand ausgestellter Technik konnten wir uns ein Bild von der schweren Arbeit der Bergleute
machen. Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die verfallene Höhle wieder
hergerichtet und den Besuchern zugänglich gemacht.
Durchgefroren trafen wir in der nahegelegenen Gaststätte St. Marien ein, stärkten uns bei sehr
zu empfehlendem Essen. Es entspannen sich angeregte Gespräche, so dass die
Freundschaftsbande zwischen beiden Goethe-Ortsvereinigungen fester geknüpft wurden.
Hans Borutta, Erfurt, schrieb: danke für den schönen Ausflug nach Gotha und in die Marienglashöhle. Trotz schlechten Wetters haben wir interessante Dinge über die Grafen und Fürsten in
Gotha erfahren. Das Schloss ist schon imposant, sehr beieindruckend wenn man
bedenkt unter welchen Bedingungen so etwas gebaut wurde. Den Park schauen wir
uns im Frühjahr noch mal an.
Bernd Kemter

„Gebändigt? Ungebändigt“ – Goethe und Beethoven

Vortrag von Dr. Arnold Pistiak, Potsdam, am 3. März 2015

Beethoven und Goethe: die unangefochtenen wichtigsten Vertreter ihrer Künste in Deutschland. Vieles stand zwischen ihnen: Ihre Altersdifferenz und die daraus resultierende Zugehörigkeit zu zwei Generationen etwa, ihre Herkunft: Patrizier der eine – Plebejer der andere. Und mit Sicherheit war es dem Weimaraner nicht entgangen, dass Beethoven den schmerzhaften Prozess von Selbstbeschränkung und Anpassung an das Hofleben weder hinter sich hatte noch beabsichtigte, dergleichen Selbst-Kastrationen vorzunehmen.
Zudem mochte ihn Beethovens republikanische, demonstrativ respektlose Haltung gegenüber dem Adel auch an Lenz erinnern, an „diese Schmid, diese Richter, diese Hölderlins“ – an diese Schuberts, diese Kleists, diese Hoffmanns, diese Heines, möchte man hinzufügen: an jene jungen Künstler, deren Lebens- und Kunstauffassung von der seinen beträchtlich abwich. Auch sollten wir die Möglichkeit ganz anders gearteter Anpassungsreaktionen nicht aus dem Auge verlieren, die aus den hier nicht zu diskutierenden, sondern nur als wirkend anzunehmenden genetisch bedingten Charakterunterschieden resultieren mochten.
Und wie sah es mit dem Literatur- und Musikverständnis beider Künstler aus? Einfach scheint die Antwort mit Blick auf Beethoven auszufallen: Er war Musiker, er beschäftigte sich spätestens seit seiner Jugend intensiv mit der Literatur, er bewunderte Goethe. Die überlieferten Aufzeichnungen sprechen eine eindeutige Sprache. „Absicht, trotz dem verfluchter Krieg Ausgaben von Schiller, Göthe” zu kaufen.
Weitaus schwieriger aber ist es, eine angemessene Antwort für den Dichter zu finden. Dass Goethe musikalisch gebildet war, hat Romain Rolland 1930 in seinem wichtigen Buch „Gœthe et Beethoven” überzeugend nachgewiesen: Goethe konnte singen, konnte Noten lesen, hatte Klavier-, in Straßburg auch Cellounterricht, komponierte versuchsweise, besuchte Konzerte und Opernaufführungen; er hatte eine besondere Affinität zu Bach, Händel, Mozart; sorgte als Weimarer Theaterleiter dafür, dass ständig italienische, französische und deutsche Opern gespielt wurden; er beschäftigte sich mit akustischen und musikästhetischen Fragen (Tonlehre, Verhältnis der Dur- und Molltonarten). Vor allem ist, metaphorisch gesagt, sein poetisches Werk voll von Musik. Beethovens Musik aber blieb ihm gleichwohl fern. Warum? Wir können es nicht wissen, sind auf Vermutungen angewiesen. Mir scheinen jedoch die Antworten, die Rolland gab, sehr bedenkenswert. „Alors, Gœthe reconnaît, admirait (si l’on veut) ce grandeur. – Mais il ne l’aime pas.“ Und warum nicht? Dreierlei, meint Rolland, liebte Goethe nicht: „C’est le démesuré. Et c’est la mélancolie romantique“ und: „son oreille ne tolère point le Top de bruit!.“ Vieles stand zwischen ihnen. „Der eigentliche Differenzpunkt aber blieb das Weltverhältnis beider Künstler“, fasst Jochen Golz (Präsident der Weimarer Goethe-Gesellschaft) seine Überlegungen zusammen. Vielleicht wird man auch festhalten dürfen: Der Jüngere trat erst dann ins Blickfeld des Älteren, als der, ein über Fünfzigjähriger, fest entschlossen war, jene „Mauer“ nicht einreißen zu lassen, noch selbst einzureißen, die er mühsam und schmerzhaft genug errichtet hatte, als für ihn notwendige Bedingung der eigenen Produktivität, wenn nicht: seines Lebens überhaupt. Aber die Frage nach den inneren Berührungspunkten beider Künstler zueinander ist damit nicht abgegolten. Die folgenden Überlegungen verstehen sich als ein Schritt in diese Richtung. Sie seien als Versuch verstanden, mit Blick auf beide Künstler ungezwungen über einige Aspekte jener Problematik nachzudenken, die in den Stichworten „gebändigt“ – „ungebändigt“ mitschwingt. So – das ist meine Hoffnung – ist es vielleicht möglich, bereits Bekanntes gelegentlich in anderer, womöglich neuer Beleuchtung zu sehen, zu verstehen und zu genießen. Werfen wir zunächst ganz traditionell einen Blick auf jene legendären Begegnungen beider Künstler im Sommer 1812 in Karlsbad und Teplitz, in Badeorten der deutschen Hocharistokratie. Dazu gibt es eine reichhaltige Literatur, so dass ich mich hier auf einige Andeutungen beschränken kann. Zwei charakteristische und bekannte Zitate vorweg: „Göthe behagt die Hofluft zu sehr mehr als es einem Dichter ziemt, Es ist nicht viel mehr über die Lächerlichkeiten der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehn seyn sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.” (9. August 1812) „Beethoven habe ich in Töplitz kennen gelernt. Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt destabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genußreicher macht. Sehr zu entschuldigen ist er hingegen und sehr zu bedauern, da ihn sein Gehör verläßt, das vielleicht dem musikalischen Teil seines Wesens weniger als dem geselligen schadet. Er, der ohnehin lakonischer Natur ist, wird es nun doppelt durch diesen Mangel.” (2. September 1812) Dieses Treffen war offensichtlich nicht langfristig vorbereitet, jedoch von beiden Partnern gewünscht. Beethoven hatte seinem mehrjährigen Freund Franz Oliva einen Brief an Goethe übergeben, den Oliva am 3. Mai 1811 in Weimar übergab. Beethoven schrieb unter anderem: „Bettine Brentano hat mich versichert, daß Sie mich gütig, ja sogar freundschaftlich aufnehmen würden, Wie könnte ich aber an eine solche Aufnahme denken, indem ich nur im Stande bin, Ihnen mit der größten Ehrerbietung, mit einem unaussprechlichen tiefen Gefühl für Ihre herrlichen Schöpfungen zu nahen.“ Es war kein Zufall, dass Goethe nur wenige Tage später erneut auf Beethoven aufmerksam gemacht wurde – in einem Brief eben von der damals von ihm noch verehrten, wenn nicht: geliebten Bettina Brentano. Beethoven, meinte sie, „ist unbefangen, und reichen Seegen hat er durch Dich, mit allen Kräften einer freien Natur hat er Dich aufgefaßt, er ist ein lebendiger Zeuge Deiner Herrlichkeit.“ Für Goethe war Beethoven im Jahre 1811 kein Unbekannter mehr, aber viel wird er von dem Komponisten kaum gewusst haben, als er beide Briefe erhielt. Er, der gut zwanzig Jahre Ältere, hatte mit Götz und Werther Brandbomben geworfen, als der Andere noch nicht einmal sechs war; Beethoven war noch nicht zwanzig, als Goethe aus Italien zurückkehrte, an eine Werkausgabe ging, sich über Friedrich Schiller ärgerte; als er sich entschloss, allen Anfeindungen und Verleumdungen zum Trotz mit Christiane Vulpius zusammenzuleben. 1811 dann der Besuch aus Wien. Oliva überbrachte nicht nur den Brief, er spielte auch Beethoven. Goethe hat wohl geantwortet. Jedenfalls hat sich ein auf den 25. Juni 1811 datiertes Briefkonzept des Dichters erhalten, in dem es heißt: „[…] ich habe niemals etwas von Ihren Arbeiten durch geschickte Künstler und Liebhaber vortragen hören, ohne daß ich gewünscht hätte Sie selbst einmal am Klavier zu bewundern und mich an Ihrem außerordentlichen Talent zu ergetzen.“ Wir wissen nicht, welche Sonaten Oliva in Weimar gespielt hat – aber die drastischen Abweichungen von der Goethe vertrauten Musik der Mozartzeit sind dem Dichter nicht entgangen. „[…] was so auf der Kippe steht“, habe er bemerkt, „muß sterben oder verrückt werden, da ist keine Gnade…!“ Von Anfang an also muss Goethe Beethoven gegenüber eine ambivalente Haltung eingenommen haben. Ihre Pole: tiefes Verständnis für die artistische und sicherlich auch für die psychologische Seite der Musik Beethovens einerseits – Fremdheit und Distanz andererseits. – Dazu kommt ein anderes: In den Jahren der rasch wachsenden Berühmtheit Beethovens nicht nur als Pianist, sondern auch als Komponist war der enge Gedankenaustausch Goethes mit Carl Friedrich Zelter schon Realität. Mit einem Konservativen also. In diesen Konstellationen mag ein Schlüssel dafür liegen, dass Goethe nach Teplitz Beethoven gegenüber schweigt: Er bedankt sich nicht für die Notensendung von Meeresstille und Glückliche Fahrt – „dem Verfasser der Gedichte: dem unsterblichen Goethe hochachtungsvoll gewidmet“ –, antwortet nicht auf Beethovens Brief vom 8. Februar 1823, schweigt zu dessen Tod. Allerdings gab es auch Gegenläufiges. Egmont und Fidelio wurden in Weimar aufgeführt. In Hauskonzerten, die in Goethes Wohnung stattfanden, erklangen Beethovensonaten. Im Mai 1830 spielte Felix Mendelssohn-Bartholdy dem Achtzigjährigen den ersten Satz der 5. Sinfonie auf dem Klavier vor. „An Beethoven wollte er gar nicht heran“, berichtete Mendelssohn seiner Familie und fuhr fort: Das Stück „bewegte ihn ganz seltsam; er sagte erst ´das bewegt aber gar nichts; das macht nur staunen; das ist grandios [´], u. dann brummte er so weiter u. fing nach langer Zeit wieder an: das ist sehr groß, ganz toll, man möchte sich fürchten, das Haus fiele ein; und wenn das nun Alle die Menschen zusammenspielen! Und bei Tische mitten in einem anderen Gespräch fing er wieder damit an.“ Ganz anders liegen die Verhältnisse bei Beethoven: Die Bonner Familie Breuning, in der Beethoven verkehrte, war literaturinteressiert, und Beethoven hatte ab 1788 Kontakte zu der Bonner Lesegesellschaft; es gab Theateraufführungen nicht nur am Hoftheater (an denen er als Bratscher mitwirkte), sondern auch von wandernden Theatergruppen; wenige Jahre später schreibt er Lieder zu Goethetexten, und die erste Nachricht, derzufolge er an einer Komposition von Schillers An die Freude arbeitete, datiert vom 26. Januar 1793. Auf den Werther bezieht sich Beethoven in jenem verzweifelten, vermutlich 1812 geschriebenen Liebesbrief, der unter dem Titel „An die unsterbliche Geliebte“ in die Beethoven-Literatur eingegangen ist. Bis zu dem Treffen von 1812 schuf Beethoven mehrere Lieder zu Goethetexten und die Schauspielmusik zu dem „herrlichen Egmont“, und auch die nach dem Sommer 1812 entstandenen Kompositionen Beethovens auf Goethetexte sind auf den gleichen Ton gestimmt: die Chorstücke Meeresstille und Glückliche Fahrt; die Umarbeitung des Jahrzehnte zuvor komponierten Bundeslieds, das Beethoven nun mit einem eindrucksvollen, lebendigen Holzbläsersatz ausstattete; die dreimalige Vertonung der Eröffnungsverse von Goethes Das Göttliche: als Stammbuchblatt, als Klavierlied, als 6-stimmiger Kanon. Kurz: Die in Beethovens Brief vom 12. April 1811 ausgedrückte Goethe-Verehrung wird man nicht in Zweifel ziehen müssen. Selbst Jahre später, 1823, als der Komponist sicherlich wusste, dass es keinen Grund gab, an der künstlerischen Ebenbürtigkeit von Goethe und ihm selbst zu zweifeln, schrieb er an den Dichter: „Einige Worte von Ihnen an mich würden Glückseeligkeit über mich verbreiten. – Euer Exzellenz mit der innigsten unbegrenztesten Hochachtung verharrender Beethoven.“
Heidnisch-Pantheistisches. Ein zentraler Bezugspunkt zwischen dem Dichter und dem Musiker war beider Umgang mit dem Prometheusmythos. Goethes Prometheus-Gedicht von 1774 wie auch das gleichnamige Stückfragment, dem es zugeordnet werden sollte, standen im Kontext einer raschen und vertieften Neuerschließung des antiken Kulturguts. – Stichwortartig erinnert sei etwa an die sensationellen Funde von Pompeji und Herculaneum, an die wenig später beginnenden Ausgrabungen auch in Griechenland (Olympia, 1787), die explodierende Sammeltätigkeit und die Einrichtung von Antikenkabinetten, die kleinen Schriften wie auch die monumentale Geschichte der Kunst des Altertums Johann Joachim Winckelmanns, die ästhetischen Feldzüge Lessings und Herders, deren Kampf gegen die Gottschedsche Variante des französischen Klassizismus und die zunächst punktuelle, dann immer intensivere Aneignung der Werke Shakespeares. Es gehörte zu den kämpferischen Versuchen, neues, bürgerliches, aufklärerisches Selbstbewusstsein zu artikulieren, innerhalb derer Herder notierte, Prometheus habe „unter den Griechen den Feuerfunken des Genies vom Himmel gestohlen“. Nur zehn Jahre später ließ der junge Schiller, ohne Goethes Gedicht kennen zu können, Karl Moor verzweifelt ausrufen: „Der hohe Lichtfunke Prometheus ist ausgebrannt.“ Indem aber Goethe seinerseits mit einem gigantischen, kühnen Griff das Feld: Philosophie – Natur – Gott – Religion – Pantheismus – Materialismus – Schicksal exponierte, war sein Gedicht in Gedanke und Sprache radikaler als alle anderen vergleichbaren zeitgenössischen Äußerungen zu Prometheus. Von Lessings Abhandlungen unterschied sich sein Prometheus unter anderem durch seinen leidenschaftlichen Sprachgestus; gegenüber den Auffassungen der französischen Materialisten besaß Goethes nicht-materialistische Position den Vorteil, dass sie in Deutschland nicht von vornherein abgelehnt wurde. Allerdings hatte Goethe das Gedicht jahrelang geheim gehalten. Fürchtete er – inzwischen Weimarer Minister geworden – die Auseinandersetzung, den Eklat? Vermutlich. Aber er hatte es seinem Jugendfreund Friedrich Heinrich Jacobi gegeben (nebenbei bemerkt: zu welchem Zweck, weshalb eigentlich?), der es 1785 ohne Einverständnis des Autors in einer Schrift mit dem provokanten Titel „Über die Lehren des Spinoza“ auf einem eingelegten Blatt abdruckte. Dass Prometheus dann zum „Zündkraut einer Explosion“ wurde, wie Goethe Jahrzehnte später im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit vermerkte, dass dieses Gedicht ein Ärgernis war, als es 1785 erschien, und bis heute ein Ärgernis geblieben ist, dürfte unbestritten sein. Was die „Explosion“, was die andauernden Angriffe auf Goethe, die auf ihn zielenden Verleumdungen auslöste, war die demonstrative Einnahme eines religiösen Standpunktes, der weder biblisch-traditionell noch atheistisch akzentuiert war und der den Glauben an einen Schöpfergott ersetzte durch den Glauben an die Identität von Gott und Natur oder auch, mit Goethes Worten, an das „Göttliche“ im Menschen. Der dort auf der Erde saß und, ein Lehm verarbeitender schöpferischer Bildhauer, ein Künstler also, Menschen nach seinem Bilde formte, sah keinen Grund mehr, Zeus zu respektieren: Nicht der frühere Gefährte: er selbst, Prometheus, war ja jetzt produktiv! Mündig geworden, kein „Kind“ mehr, wendet er nun nicht mehr sein „verirrtes Aug’/ Zur Sonne, als wenn drüber wär’/ Ein Ohr“ [kursiv: A.P.]. Und vor allem: „Zeit und Schicksal“ sind nun beider Herren: Die universalen Gesetzmäßigkeiten können nicht mehr willkürlich von nur einer Seite in Anspruch genommen werden: Sie dominieren alles – uns alle. Diese Entwicklungen können Beethoven kaum fremd gewesen sein. Der 19-Jährige, der sich an der Universität Bonn einschrieb, kann weder an Prometheus, an Das Göttliche oder dem Faust-Fragment noch, ein Schiller-Fan, an den Göttern Griechenlands und jenen heftigen Auseinandersetzungen vorübergegangen sein, die im Anschluss an die Veröffentlichung des Prometheus geführt wurden. Es war auch dieser zeitgenössische Kontext, in den sich Beethoven stellte, als er sich um 1800/1801 entschloss, die Musik zu dem heroischen Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ zu komponieren. Überhaupt hat Beethoven nicht nur mit dem Rückgriff auf den Prometheusmythos, sondern auch mit der Ouvertüre zu Coriolan, mit der Schauspielmusik Die Ruinen von Athen sowie insbesondere mit seinem Opferlied (Text: Friedrich von Matthisson) tendenziell „Heidnisches“ zum Klingen gebracht. „Dieses Gedicht begleitete Beethoven sein halbes Leben […]“, schreibt Hans-Josef Irmen, und er nennt es ein „pseudo-freimaurerisches Lied“, das „von metaphysischer Wärme durchglüht ist und dem Humanitätsstil der Zauberflöte huldigt.“ Und in der Tat: Poetisches Bildmaterial, das, wiewohl germanisch gefärbt, zugleich mit jenem verwandt ist, das Goethe in seinem West-östlichen Divan benutzt (im Buch des Parsen); der Appell an den „Höchsten“, das gespendete Opfer anzunehmen; die ausdrücklich an Zeus gerichtete Bitte, „mir“ das „Schöne zu dem Guten“ zu gewähren, und zwar „als Jüngling“ wie „als Greis“: das alles ist klar und deutlich – und dies um so mehr, da Beethoven dieses Lied insgesamt viermal bearbeitet hat. Der Anrufung des Heidengottes entspricht der mehrfache Bezug auf ein durchaus antik verstandenes „Schicksal“ in Briefen und mündlichen Äußerungen Beethovens: „Zeige deine Gewalt Schicksal! Wir sind nicht Herrn über uns selbst; was beschlossen ist, muß sein, und so sey es dann!“ Und doch: Wenn auch um 1800 jedem Bezug auf die griechisch-römische Antike zumindest ein Moment des „Heidnischen“ anhaftet, so drängt sich gleichwohl die Frage auf, ob das Pantheistische bei Beethoven einen ähnlichen Stellenwert einnimmt wie bei Goethe? Die Frage wird man verneinen müssen. Dafür spricht schon jene bekannte Briefpassage, in der Beethoven mit Blick auf seine Taubheit an seinen Freund Franz Wegeler nach Bonn schreibt: „ich habe schon oft den schöpfer und mein daseyn verflucht, Plutarch hat mich zu der Resignation geführt, ich will wenn’s anders möglich ist, meinem schicksaal trozen, obschon es Augenblicke meines Lebens geben wird, wo ich das unglücklichste Geschöpf gottes seyn werde.“ Gleichwohl dürften damit die tief sitzenden aufklärerischen Zweifel des Komponisten kaum behoben worden sein. Wie anders ließe es sich erklären, dass Beethoven in der „Neunten“ auf jenen, ihn Jahrzehnte lang begleitenden Text zurückgreift, in dem die „Freude“ dem heidnischen „Elysium“ entstammt und in dem den beschwörenden Worten „muß er wohnen“ der Zweifel eingeschrieben ist? Zu dieser Vermischung von Christlichem und Heidnischem gesellt sich zudem Rein-Biblisch-Religiöses: „Doch gerecht ist Gottes Wille“, singt Florestan im Kerker, und zwar zu identifikatorischer Musik, und „Ja, ja, es ist eine Vorsehung!“ ergänzt Leonore; Beethoven nimmt damit eine Haltung ein, die man bei Goethe vergeblich suchen dürfte. Jedenfalls scheint dem Katholiken Beethoven jener konsequente Pantheismus fremd gewesen zu sein, der Goethe veranlasste, zielgerichtet nach dem Zwischenkieferknochen zu suchen, dem noch ausstehenden „Schlussstein“ zu einer entwicklungsgeschichtlichen Einordnung der Gattung Mensch in die Ordnung der Säugetiere. Goethe, nachdem er den gesuchten Knochen gefunden hatte, schrieb freudig an Herder: „Es soll dich auch recht herzlich freuen, denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit deinem Ganzen gedacht; wie schön es da wird. – “. Mit dieser Notiz Goethes wird zugleich eine Problematik angedeutet, die, so weit ich sehe, in den vergleichenden Betrachtungen zu Beethoven und Goethe bislang kaum erwähnt wurde. Ich meine den Umgang beider Künstler mit dem Satirischen. Dabei sei vorausgesetzt, dass „Satirisches“ nicht mit der Ebene des freundlich oder bärbeißig daherkommenden Humors identifiziert werden sollte, die in vielen Kompositionen Beethovens zu finden ist – mit diesen häufigen ruppigen Szforzati, diesen Synkopen und Taktverschiebungen, dem verspäteten Einsatz der Oboe in der Pastorale, oder der „polternden“ Ausgelassenheit der Wut über den verlorenen Groschen. Dies vorausgesetzt, kommt der neugierige Blick zu einem verblüffenden Ergebnis: Satirisches im eigentlichen Sinn – als scharfe, verlachende, distanzierte Gesellschaftssatire – finden wir bei Beethoven offensichtlich nur ein einziges Mal, in dem Flohlied aus der Szene „Auerbachs Keller“ (op. 75). Hingegen fehlt freundlich-harmlos-heitere Komik in der Art Beethovens bei dem reifen (nach-italienischen) Goethe weitgehend. Stattdessen blieb eine scharfe, satirisch formulierte Feudal- und Kirchen- (nicht aber: Religions-) Kritik für Goethe lebenslang ein wichtiges literarisches Thema; die Texte des „Großen Heiden Nummer I“ quellen davon geradezu über. Durchaus grotesk ist beispielsweise das Auftreten der „Pfaffenchristen“ in der wenig bekannten dialogischen Ballade „Die erste Walpurgisnacht“. In Briefen an Zelter (3. Dezember 1812) und Mendelssohn Bartholdy (9. September 1831) versuchte Goethe später, deren drastische Zielrichtung herunterzuspielen. „Der Einfall gefiel mir“, schrieb er mit Blick auf eine nicht genannte Quelle an Zelter; aber nicht der „Einfall“, sondern die Struktur des Textes ist ausschlaggebend: Die ihr Land und ihre Kultur verteidigenden („heidnischen“) Germanen, denen Goethe pantheistische, in seinem späteren Parsengedicht wieder aufgenommene Motive zugeordnet hat (Allvater, Rauch, Licht), sind durchgehend positiv, die sie attackierenden „Pfaffenchristen“ ebenso durchgehend satirisch-grotesk dargestellt. Der in dem Wechselgesang der Germanen formulierten kämpferischen Losung „Diese dumpfen Pfaffenchristen, Laßt uns keck sie überlisten!“ haben jene nur Drohungen der Gewalt und schließlich eine alberne Flucht entgegenzusetzen. Wer Opfer scheut, sagt das Gedicht, verdient seine Knechtschaft zu Recht. Und unausgesprochen schwingt die Frage mit: Was wird historisch aus diesem staatlich etablierten Christentum, aus diesem vorgeblich Neuen, das auf Brutalität, Aberglauben, Nichtwissen gegründet ist, werden? Der junge Mendelssohn übrigens, der sich mit der Komposition der Ballade ab 1830 beschäftigte, mag die „heidnische“ Tendenz des Goetheschen Textes nur am Rande wahrgenommen haben. Aber der Komponist des Lobgesangs oder des Elias, der die Kantate 1841 bis 1843 umarbeitete, kann das Nicht-Christliche, „Heidnische“ der Vorlage wohl nicht übersehen haben, hat es aber letztlich unbeachtet gelassen. Warum? Das ist ein anderes Thema. Jedenfalls verlieh er ganz im Sinne des Textes dem Schlusschor „der Druiden und des Heidenvolks“ hymnische Züge: Mendelssohn. Mit einem hymnischen Lobgesang endet auch Beethovens Schlusschor zu Kotzebues Stück „König Stephan“, das im Umkreis der „Befreiungskriege“ entstand und sich auf die Christianisierung Ungarns bezieht. Aber Kotzebue und Beethoven nehmen in diesem Festspiel eine genaue Gegenposition zu Goethe ein: Der hymnische, geradezu ekstatische Preis gilt nicht den „Heiden“, sondern – um mit Goethe zu sprechen – deren „Überwindern“, jenen, die die Christianisierung vorantrieben und durchsetzten.
Die religionsphilosophische Position des Prometheus-Gedichts ist das Eine – die in ihm artikulierte produktiv-schöpferische Kraft das Andere. Jenes berühmte „Im Anfang war die Tat“ galt zugleich dem mythologischen antiken Helden. Auch dadurch unterschied sich Goethes Prometheusfigur von anderen poetischen Figuren der „Genieperiode“; wie auch die ihr verwandte Goethesche Faustfigur geht sie über jene hinaus: Denn Götz, Prometheus und Faust räsonieren nicht nur (wie etwa Ferdinand in „Kabale und Liebe“), sondern entwickeln die (utopische) Alternative der Entfaltung der menschlichen Schöpferkraft. Hier ist bereits in der Vor-Weimarer Zeit etwas angelegt, was dann, bestärkt durch das Italienerlebnis, zu einer zentralen Dominante der Goetheschen Weltkonzeption werden wird: Das der Prometheuskonzeption anhaftende Aggressive – das Subjektivistische, „Geniehafte“, Maßlose, Militante, Machtpolitische – wird zugunsten des Produktiven, Schöpferischen immer weiter reduziert werden. Schon Werther hatte ja die „Einschränkung“ beklagt, „in welcher die tätigen und forschenden Kräfte des Menschen eingesperrt sind“ (22.5.71), und den Wunsch nach Entfaltung der Kräfte ausgesprochen, die in ihm ruhen, „die alle ungenutzt vermodern und die ich sorgfältig verbergen muß. Ach, das engt das ganze Herz so ein –“ (17.5.71). Den früh eingeschlagenen Weg, die Entfremdung der Arbeit kritisch zu reflektieren, verfolgte Goethe bis zu seinem Tod. Der Große Einzelne, das selbstherrlich handelnde Universalgenie, wird mit der Unterordnung Egmonts unter die „Sonnenpferde der Zeit“ oder mit der Akzeptanz der „ewigen, ehrnen/ Großen Gesetze“ (Das Göttliche) verabschiedet. Die Erfahrungen der Französischen Revolution verstärkten diese Tendenz ebenso wie die Zuwendung zur antiken Maß-Konzeption und die Suche nach „Gesetzen“ in der Gesellschaft und in der Kunst. Das, was an die Stelle der Heroisierung des einzig aus sich heraus handelnden Kraftgenies tritt, ist die Frage nach den Möglichkeiten schöpferischer Produktivität im Alltag, ist die Kooperation der produzierenden Individuen, ist die kleine, private oder auch die große weltumspannende praktische „Tat“ – die Umgestaltung eines Parks („Die Wahlverwandtschaften“); die Rettung von Menschen aus dem Hochwasser („Johanna Sebus“); die Ausbildung eines Menschen, der zunächst unbedingt Schauspieler werden wollte, zu einem Arzt („Wilhelm Meister“); die Entwässerung von Sümpfen („Faust“); „Schwerer Dienste tägliche Bewahrung“ („Vermächtnis altpersischen Glaubens“). Oder anders gesagt: Es ist in hohem Maße der Reflex der anbrechenden Industrialisierung und der damit verbundenen evolutionären wie revolutionären Umgestaltung des gesamten Gefüges der Gesellschaft. „Und schreib getrost: Im Anfang war die Tat“. Die Prämisse Fausts war – wenn ich die Werke Beethovens richtig höre – auch die des Komponisten. Aber in seinem Umgang mit der Prometheus-Problematik wird auch eine der großen Divergenzen zwischen Goethe und Beethoven sichtbar: Denn die weltverändernde „Tat“ hatte bei Beethoven nur gelegentlich etwas mit der Dimension der Produktion zu tun. Zwar interessiert er sich für Flugversuche wie für die „schon gegenwärtige Dampf-Schifffahrt“ und fragt verallgemeinernd, „was für ferne Schwimmer wird’s da geben, die unß Luft u. Freyheit verschaffen?!-“ Aber weder eine an Therese Malfatti gerichtete Frage („Haben sie Göthes Wilhelm Meister gelesen“) noch – und darauf kommt alles an – seine Werke lassen erkennen, dass Beethoven der materiellen Produktion oder dem Prozess der Industrialisierung eine besondere Bedeutung beigemessen hätte. Beethovens „Botschaft“, die mit seiner Prometheus-Musik verbunden ist, lautet anders: Es ist die demonstrativ, die beispielhaft vorgetragene Überzeugung, dass es möglich sei, auch „in diesen wüsten Zeiten“ nicht nur auf dem Lyrisch-Verträumten oder dem Humorvollen zu bestehen, „Dissonanzen“ nicht aufzulösen, sondern auch und immer wieder eine entschieden kämpferische Haltung einzunehmen. Nichts davon klingt allerdings an, wenn das berühmte Doppelthema, das als konzentrierter Ausdruck von Beethovens Prometheus-Musik verstanden werden darf, um 1801/ 1802 erstmalig auftritt. Leicht kommt es daher, locker, ein wenig spielerisch oder auch zärtlich, und zwar sowohl im Ballett-Finale „Die Geschöpfe des Prometheus“ (op. 43) wie auch in den 12 Contretänze(n) für Orchester (WoO 14, siebter Tanz). Noch weist nichts darauf hin, welche unbeschreiblichen Energien Beethoven ihm abgewinnen wird. Anders dann die Behandlung des Doppelthemas in den anspruchsvollen Klaviervariationen Es-Dur op. 35 sowie im 4. Satz der Eroica. Der musikalisch eher harmlose Preis des Prometheus in dem Finale des Balletts genügte Beethoven also nicht: Offensichtlich ging es ihm in den Klaviervariationen wie in der „Eroica“ darum, dem Thema samt seinen Variationen nun völlig neuartige, weitreichende Dimensionen abzugewinnen: über das Spielerische, Tänzerische, Zärtliche, Freudige hinaus auch die Haltung des Heroisch-Pathetischen, Majestätisch-Kämpferischen. Beide Werke, insbesondere die im Verhältnis zu ihren Vorläuferinnen gigantisch erweiterte, die Normen sprengende „Eroica“, atmen nun den gleichen Geist wie die Prometheus-Dichtung Goethes: Kein Gott – Prometheus ist der Schöpfer seiner „Geschöpfe“. Während aber Goethe seit der Mitte der siebziger Jahre von dem rebellischen Potenzial des eigenen Gedichts abrückte, knüpfte Beethoven gerade daran an und radikalisierte es, indem er die menschenbildende Kraft des Prometheus erneut bestätigte und pries: Nicht nur der vierte, „prometheische“ Satz der Sinfonie, sondern auch deren erster und zweiter Satz werden von sich allmählich aufbauenden großen Klangballungen bestimmt, von den mehrfach auftretenden drastischen Dissonanzen sowie von dem Anknüpfen an den Typus der Marschmusik aus der Zeit der Französischen Revolution und dessen Integration in den ersten und vierten Satz der Sinfonie. Zudem intoniert der im zweiten Satz erklingende Trauermarsch das heroische Pathos eines großen Verlustes. Die Interpretationsspielräume sind gewiss offen. „Marcia funebre sulla morte d’un Eroe“ schreibt Beethoven über den zweiten Satz seiner 1800/1801 entstandenen Grande Sonate As-Dur (op. 26) und deutet damit einen Dimension an, die wir nicht übersehen sollten. Drei Jahrzehnte später scheint genau diese Problematik in Heinrich Heines Prosagedicht „Ich bin das Schwert, ich bin die Flamme“ anzuklingen: „Rund um mich her liegen die Leichen meiner Freunde, aber wir haben gesiegt. Wir haben gesiegt, aber rund umher liegen die Leichen meiner Freunde.“ Ganz unabhängig von mündlichen und schriftlichen Äußerungen Beethovens gestattet die heroisch-pathetische Konzeption der ganzen Sinfonie die Feststellung: Nicht die Zurückweisung oder gar die Aufgabe des „Revolutionären“ zugunsten des „Evolutionären“ und „Pragmatischen“ ist in der Sinfonia „Eroica“ zu hören, sondern die Beibehaltung des Prometheischen und dessen Verknüpfung mit dem Konkret-Revolutionären und Visionären. Und zwar geschieht das wegen und trotz der „neuangehenden christlichen Zeiten“, „da sich alles wieder in´s alte Gleiß zu schieben sucht, buonaparte mit dem Pabste das Concordat geschlossen“, da die „Zeit des Revolucionfieber´s“ vorüber ist! Anders gesagt: Was sich hier vollzieht, ist eine spezifische Verknüpfung von antiken Mythen, aufklärerischen Hoffnungen und nachrevolutionärem Tatbewusstsein, von Französischer Revolution und Menschheitsgeschichte; es ist die klingende Realisierung dessen, was Romain Rolland ein „republikanisches Glaubensbekenntnis“ genannt hat.
Zu der Frage nach dem Umgang mit dem Prometheischen nach 1800 gehört auch die Frage nach dem Umgang mit der weltgeschichtlichen Persönlichkeit Napoleon. Dabei geht es mit Blick auf Beethoven sicherlich zunächst um die Es-Dur-Sinfonie: Hatte der Komponist während der Komposition (tatsächlich) zugleich an Napoleon gedacht? Noch am 26. August 1804, nur drei Monate vor der Kaiserkrönung (2. Dezember 1804), schreibt Beethoven an Breitkopf & Härtel: „die Simphonie ist eigentlich betitelt Ponaparte“. Aber hatte er von Anfang an beabsichtigt, diese Sinfonie und Napoleon explizit in Verbindung zu bringen? Verknüpfte er intentional seinen Republikanismus mit der welthistorischen Napoleon-Figur? Die nüchterne Antwort kann wohl nur lauten: Wir wissen es nicht. Belege fehlen. Klar ist jedoch: Wir können Beethovens Republikanismus ‘hören‘; was wir nicht hören können, ist ein in die Sinfonie integriertes Moment der Abgrenzung von Napoleon. Erst nach der Kaiserkrönung entwickelte sich jener schmerzhafte Zwiespalt, den Beethoven bewusst durchlebte und bewundernswert bewältigte: Bewahrung von Revolutionsbegeisterung und Republikanismus einerseits – Verurteilung der napoleonischen Eroberungspolitik andererseits. Die Titelblatt-Legende mag als erhellendes Kuriosum gelten; unabhängig davon aber äußert sich in Beethovens Werken nach 1804 seine Haltung gegenüber Napoleon in Anderem: Der auch nach 1804 hörbare heroisch-euphorische Lobgesang, gerichtet auf eine universell verstandene, revolutionär-aktiv zu erreichende Befreiung, wird nun mit der Verurteilung der napoleonischen Eroberungspolitik verbunden. Es scheint mir, dass beides in eins zusammenfällt. So ist klar, dass die Konzeption der Oper „Leonore/ Fidelio“ trotz der lächerlichen Geschichte von dem rechtzeitig eintreffenden Minister ohne den Atem der Großen Revolution schlechthin undenkbar ist. Die Freiheitssehnsucht Florestans und der übrigen Gefangenen wie auch die Tat Leonores und das an ihr festgemachte „Hohelied der Gattenliebe“ funktionieren nur in diesem Kontext. Zugleich darf nicht übersehen werden, dass, was die Dynamik der Handlung angeht, buchstäblich alles – von den vier Ouvertüren bis zum Finale – in der Befreiung von einem Tyrannen kulminiert: Das ist das, was ich unter dem „Zusammenfall“ von Revolutionsbegeisterung und Abgrenzung von Napoleon verstehe. Ganz anders gelagert und gleichwohl ähnlich ist die Egmont-Musik (1810): Hier geht es, wenn auch keineswegs ausschließlich, sehr direkt um das Problem der nationalen Befreiung und Selbstbestimmung (wieder spielt übrigens eine Frau eine wichtige Rolle). Intonation und Haltung der „Siegessymphonie“ aber korrespondieren eng mit dem heroisch-kämpferischen Schlusssatz der Fünften Sinfonie. So verwandelt Beethovens Egmont-Musik – insonderheit natürlich die Ouvertüre, das erste Lied Klärchens und die abschließende Siegessymphonie – das frühklassische tragische Schauspiel um Möglichkeiten und Grenzen individueller Selbstbestimmung tendenziell in ein antinapoleonisches Stück, in dem das nicht aufgegebene Freiheitsethos Beethovens und sein Glaube an einen möglichen Sieg über die (nicht nur napoleonische) Tyrannei utopisch zusammenklingen. In Bezug auf die „Befreiungskriege“ und die mit ihnen verbundene nationale Problematik jener Jahre empfand sich Beethoven offensichtlich eine Zeit lang als eingreifender Künstler – Goethe hingegen nicht. Gerade diesem Feld gegenüber verschrieb er sich die Haltung des zurückhaltenden, skeptischen, distanziert blickenden, nüchtern analysierenden, philosophischen Beobachters. Weder die napoleonische Eroberungspolitik noch die Kaiserkrönung von 1804 dürften bei ihm tiefgehende Hoffnungen oder Enttäuschungen verursacht haben. Wie immer man seine Huldigungsgedichte auf Napoleon und dessen Gattin beurteilen mag – auch sie gehören zur Haltung Goethes, und sie verleugnen die Faszination nicht, die von dem Kaiser der Franzosen auf ihn ausging: „Was Tausende verwirrten, löst der Eine“, heißt es in „Im Namen der Bürgerschaft von Karlsbad“. Ja, Goethe verwendet motivisches Material (Meer, Erde, Ufer), das er dann zwei Jahrzehnte später in den Zweiten Teil des Faust einarbeiten würde: „Worüber trüb Jahrhunderte gesonnen, Er übersieht’s in hellstem Geisteslicht, Das Kleinliche ist alles weggeronnen, Nur Meer und Erde haben hier Gewicht; Ist jenem erst das Ufer abgewonnen, Daß sich daran die stolze Woge bricht, So tritt durch weisen Schluß, durch Machtgefechte Das feste Land in alle seine Rechte“. Vermutlich setzte er nach und nach auf eine sich mit Notwendigkeit vollziehende Niederlage Napoleons. Und sicherlich erkannte er, nach wie vor in „Hofluft“ agierend, im Unterschied zu den begeisterten, naiven, maßlosen Sängern des antinapoleonischen Kampfes, dass die „Befreiungskriege“ wesentlich ein Gemenge unterschiedlicher, ja divergierender Interessen darstellten; dass die machtpolitischen Interessen der Herrschenden das Eine waren, die reine „vaterländische“ Begeisterung der kleinen Leute aber das ganz Andere. Zudem musste der geschürte Nationalismus und Chauvinismus dem Weltmann Goethe unangenehm sein, dem weitblickenden Intellektuellen, der bereits über das nachdachte, was er später „Weltliteratur“ nennen würde. „Übermacht, ihr könnt es spüren, Ist nicht aus der Welt zu bannen; Mir gefällt zu konservieren Mit Gescheiten, mit Tyrannen“. An wen Goethe auch denken mochte, als er diese Verse schrieb – sein dreimaliger Gedankenaustausch mit dem wirklichen Mächtigen schwingt hier sicherlich mit. Nicht nur über den Werther und die tragische Kunst hätte der Kaiser der Franzosen mit Goethe gesprochen, sondern auch über Weltpolitik. „Was will man jetzt mit dem Schicksal, die Politik ist das Schicksal“ – gleichgültig, ob Napoleon das späterhin geflügelte Wort wirklich so formuliert hat oder ob es ihm Goethe bei der Niederschrift seiner Erinnerungen an das Gespräch von 1806 in den Mund gelegt hat: „Politik ist das Schicksal“ – das ist eine präzise Zusammenfassung jenes (politischen) Chaos, über das Goethe immer wieder nachgedacht hat. „Wie lange wirst du noch Kaiser sein, wann wirst auch du untergehen?“, mochte Goethe sich gefragt haben, als er Napoleon in Erfurt und Weimar aus nächster Nähe beobachten konnte – fünf Jahre, bevor dessen „Politik“ dann tatsächlich sein „Schicksal“ wurde, seine wirkliche Niederlage, seine wirkliche Vertreibung. Goethe reflektiert diesen weltgeschichtlichen Vorgang rückblickend im „West-östlichen Divan“ mit der gnadenlosen Verurteilung des „Tyrannen“ Timur durch den Winter: „Hör’ es Gott, was ich dir biete! Ja bei Gott! von Todeskälte Nicht, o Greis, verteid’gen soll dich Breite Kohlenglut vom Herde, Keine Flamme des Dezembers.“ Die mythologische, verfremdende Darstellung verdeutlicht, dass es Goethe um weit mehr ging als darum, in die Welle der Verurteilung Napoleons einzustimmen: Vielmehr ist „Der Winter“ und „Timur“ durchaus ein weiterer seiner nicht ablassenden Versuche, sich an den großen Einzelnen der Weltgeschichte abzuarbeiten – vorgenommen etwa in „Götz von Berlichingen“, in weiten Partien des Zweiten Teils der Faust-Tragödie, in dem Umgang mit dem Prometheus-Mythos, in „Egmont“. Immer ging es – auch – darum, das ‘Wesen’ des Einzelnen zu erfassen, die seine Persönlichkeit bedingenden Konstellationen, das Widerspruchsgefüge, innerhalb dessen er sich bewegt, seine Handlungsmöglichkeiten, seine Stellung in der Weltgeschichte. Noch 1829 habe er zu Eckermann gesagt, die Dämonen stellten, „um die Menschheit zu necken“, gewaltige Figuren hin: Raffael, Mozart, Shakespeare, Napoleon (6. Dezember). Den Zyklus „Urworte. Orphisch“ können wir wahrscheinlich als ein zentrales Ergebnis der geistigen Auseinandersetzung mit dieser Problematik betrachten – den gesamten Zyklus, meine ich, nicht aber die isoliert herausgegriffene Kategorie des „Dämonischen“.
Gestatten wir uns nun einen Blick auf ein Feld, das mit Stichworten wie Partnerbeziehung, Liebe, Erotik nur höchst notdürftig angedeutet werden kann. Ich möchte allerdings lediglich einen einzelnen Aspekt herausgreifen: den Umgang beider Künstler mit dem Erotisch-Sinnlichen – einen Umgang, der widersprüchlicher kaum gedacht werden kann. Was Goethe betrifft, so wissen wir heute, dass er vielerlei und sehr verschiedenartige Beziehungen zu sehr verschiedenen Frauen hatte – Beziehungen, die zumindest annähernd mit seinen jeweiligen poetischen Texten korrespondierten. Auch wenn es keine Belege gäbe – die verschiedenen Ausprägungen des Goetheschen „Amour“-Sprechens sind unüberhörbar: die frühen Leipziger anakreontischen Gedichte und Theaterstücke, die hochgestimmte Sprache der Straßburger Lyrik und der „Leiden des jungen Werthers“, die Milde und Verinnerlichung der Sprache im ersten Weimarer Jahrzehnt, die in der nachitalienischen Zeit gewonnene souveräne Verknüpfung dieser Haltung mit freizügig-erotischem Sprechen einerseits, mit Weltbezügen andererseits; das leise ironische Sprechen in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ und „Die Wahlverwandtschaften“. Die Vielfalt und Intensität des Goetheschen Amour-Diskurses, wird man sagen dürfen, kann uns eine Ahnung von der Vielfalt und Intensität der wirklichen, „konkreten“ Partnerbeziehungen des Dichters vermitteln. Dabei wird das Erotisch-Sexuelle immer als wesentliches, geradezu zentrales Element des Menschlichen begriffen; niemals wird es, soweit ich sehe, im Zusammenhang mit der Werkidee eines beliebigen Textes irgendwie denunziert. Das beginnt in Goethes früher Lyrik (etwa mit der Verletzung des „Knaben“ im Heidenröslein) und ist in den folgenden Jahrzehnten allenthalben zu finden. An die „Römischen Elegien“ wäre hier zu denken, an die auf erotische Aktivität zielende Verwandlung Fausts („Mit diesem Trank im Leibe“), aber auch an das die Normen überschreitende „unmoralische“ Verhalten Gretchens Faust gegenüber. Hier noch ein Hinweis auf zwei weniger bekannte „sittenwidrige“ Szenen aus Goethes Romanen: zunächst auf den geheimnisvollen nächtlichen Besuch bei Wilhelm – auf einen Vorgang, der in der Wirkungsgeschichte der „Lehrjahre“ wohl nicht zufällig eine eher untergeordnete Rolle spielt und der mit Philines erstaunlichem Satz „und wenn ich dich liebhabe, was geht’s dich an?’“ korrespondiert. Dann aber auf eine Szene aus dem Roman „Die Wahlverwandtschaften“, in der der souveräne Erzähler ins Innere der Romanfiguren blickt – auf eine Szene übrigens, die vielleicht nicht genetisch, auf jeden Fall aber konzeptionell mit Mozarts Skandaloper „Così fan tutte“ verknüpft ist: In der Lampendämmerung sogleich behauptete die innre Neigung, behauptete die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche: Eduard hielt nur Ottilien in seinen Armen, Charlotten schwebte der Hauptmann näher oder ferner vor der Seele, und so verwebten, wundersam genug, sich Abwesendes und Gegenwärtiges reizend und wonnevoll durcheinander. „Ich brauche einen Text, der mich anregt; es muß etwas Sittliches, Erhebendes sein. Texte, wie Mozart komponieren konnte, wäre ich nie imstande gewesen, in Musik zu setzen. Ich könnte mich für liederliche Texte niemals in Stimmung versetzen.“ Beethoven, 1825. Damit hat er, unbeabsichtigt sicherlich, zugleich etwas Wesentliches über sein Verhältnis zu Goethe preisgegeben. Denn wenn Erotik und Sexualität aus Goethes Werken nicht wegzudenken sind, wenn wechselnde Partnerbeziehungen bis zum Partnertausch in seinen Texten immer wieder wie selbstverständlich auftreten, wenn Partner-Stabilität und „Treue“ im Selbstverständnis des Weimaraners keine große Rolle gespielt zu haben scheinen – dann befand er sich damit nicht nur in scharfem Gegensatz etwa zu Hölderlin oder Schiller, sondern auch zu Beethoven. „Sinnlicher Genuß ohne Vereinigung der Seelen ist und bleibt viehisch, nach selben hat man keine Spur einer edlen Empfindung, vielmehr Reue“, notierte der Komponist. Die drastische Ausdrucksweise ist das eine – die textgebundenen Kompositionen das andere; und auch sie sprechen in dieser Hinsicht eine klare Sprache: An Intensität steht die Beethovensche „Amour“-Musik den Texten Goethes gewiss in nichts nach, hingegen an Vielfalt. Weder „Liederliches“ vermag ich in Beethovens Liedern zu finden noch solche aufs Menschlich-Existenzielle zielenden Goethisch-Mozartische Haltungen wie erotische Leidenschaftlichkeit und Selbstbestimmung. Aber, wer weiß: Vielleicht werden speziellere, subtilere Analysen Modifikationen erbringen? Abgesehen von einigen heiteren Liebesliedern finden wir jedenfalls vor allem schmerzhafte Gesänge, in denen Liebessehnsucht ausgedrückt wird – den Zyklus „An die ferne Geliebte“, oder vier 1808 gleichzeitig vorgelegte Vertonungen des Duetts Mignon-Harfner „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Es gibt allerdings jenes gewaltige Werk, in dem Beethovens Sehnsüchte, gerichtet auf eine Partnerin, ganz andere Dimensionen erlangen als in den genannten Liedern und in dem Gemeinsamkeiten und Gegensätze zu Goethe geradezu grell hervortreten: seine einzige Oper „Fidelio”. Gewiss: Zwar ruft auch Goethes Klärchen die Männer auf, Egmont zu befreien; zwar verkündet sie, in eine Allegorie transformiert, in dem vorrevolutionären Stück jene symbolische Freiheit, für die später auch Leonore kämpft; zwar erhöhen beide Frauen den Mann: Dass aber fast zwei Jahrzehnte nach der Großen Revolution mit all ihren „dämonischen“ Folgen eine bewaffnete Frau auftritt; dass sie beschließt, einem ihr unbekannten Verfolgten zu helfen („Wer du auch seist, ich will dich retten“); dass sie den Tyrannen schließlich mit der Pistole bedroht und ihm in extremer Stimmlage und im Fortissimo zuruft „Tödt` erst sein Weib“ – dergleichen ist, scheint mir, bei Goethe unvorstellbar. Aber Leonore ist eine Ausnahme. Insgesamt gesehen dominiert in Beethovens Kompositionen wie in seinem Leben eine schwärmerische Haltung, eine Werther-Haltung, wenn man so will. Sie äußert sich auch in jenem in Beethovens Nachlass gefundenen erschütternden Brief, der unter dem Titel „An die unsterbliche Geliebte“ bekannt geworden ist. Das weibliche Geschlecht war für Beethoven vermutlich immer aufregend und anziehend – aber dennoch war es ihm nicht oder kaum möglich, Partnerschaftsbeziehungen im eigentlichen Sinn herzustellen. War das seiner zunehmenden Taubheit geschuldet? Man möchte es annehmen, aber es ist nicht ausgemacht. Jedenfalls befand sich Beethoven den Frauen gegenüber im Grunde in einer furchtbaren Isolation. Verlobungen und Heiratspläne schlugen fehl; ein Leben in einer Familie blieb Wunschvorstellung. „O geliebte J., nicht der Hang zum andern Geschlechte zieht mich zu ihnen, nein nur sie ihr ganzes Ich mit allen ihren Eigenheiten – haben meine Achtung – alle meine gefühle – mein ganzes Empfindungs vermögen an sie gefesselt –“, heißt es 1805. Die erst 1957 veröffentlichten Briefe Beethovens an Josephine Deym, geb. Brunsvik, zeigen den höchst sensiblen, vergeblich hoffenden, leidenden Mann. Noch ein Jahrzehnt später, fast fünfzigjährig, notiert er: „Nur liebe – ja nur Sie Vermag dir ein glücklicheres leben zu geben – o Gott – laß mich sie – jene endlich finden – die mich in Tugend bestärkt – die mir erlaubt mein ist.“ „erlaubt mein“! Beethoven fand sie nicht.
Eine Bemerkung zum Schluss. Die „holde Kunst“, meinte das lyrische Ich in Schuberts Lied „An die Musik“, habe „mich in eine beßre Welt entrückt“, habe „den Himmel beßrer Zeiten mir erschlossen“: Der junge Franz Schubert und sein Freund Franz von Schober bekannten, dass sie in der Kunst Trost suchten. Einer solchen Positionsbestimmung der Kunst hätten sicherlich weder Beethoven noch Goethe ohne Weiteres zugestimmt – und auch der reife Schubert nicht. Und doch ist es überaus interessant, dem Auftreten und den Stellenwert des Bekenntnishaften im Werk beider Künstler zumindest punktuell nachzugehen – so ungreifbar dieses Gebiet auch immer ist und so wenig jeder, der sich wagt, hierzu ein Wort zu sagen, darauf rechnen kann, Verständnis oder gar Zustimmung zu erlangen. Ja, sich über das Bekenntnishafte in der Kunst zu verständigen, das scheint in unseren ‚postmodernen’, ja: ‚nach’-postmodernen Zeiten ein nahezu aussichtsloses Unterfangen zu sein. Zunächst mag man allerdings prononciert fragen: Ist denn die Frage nach dem „Bekenntnismäßigen“ in der Kunst eine legitime, weil kunstgemäße Frage? Darauf mag es im Hinblick auf alte und neue, auf außereuropäische und europäische Künste und Kunstformen sehr unterschiedliche Antworten geben. Was mich angeht, so möchte ich jedenfalls die Auffassung voraussetzen, dass jeder künstlerischen Äußerung (jedem Wort, jeder Farbe, jedem Klang, jeder Bewegung in Tanz, Film oder in anderen neuen Medien) bekenntnishafte Momente eingeschrieben sind. Sie resultieren mit Notwendigkeit aus dem subjektiven Charakter der Künste: Indem er Kunst treibt, bekennt sich gerade dieser Mensch zu diesem oder jenem. Nur erscheint das Bekenntnishafte nicht immer rein, sondern auch spielerisch verhüllt oder verfremdet. Für Beethoven und Goethe aber scheint zu gelten, dass bei ihnen – in der Regel – das Explizit-Bekenntnishafte gerade den wesentlichen Inhalt darstellt. Blicken wir unter diesem Aspekt noch einmal auf die Probleme, zu denen ich mich soeben geäußert habe – Teplitz, Heidnisch-Pantheistisches, Satirisches, Tat und Kraft, Napoleon, Partnerbeziehung, Liebe, Erotik – so treten (überraschend) viele Unterschiede in das Gesichtsfeld. Demgegenüber will ich mir nun gestatten, hier abschließend auf eine gleichfalls erstaunliche Reihe von Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten aufmerksam zu machen. Das ist hier nicht auszuführen, sondern lediglich stichpunktartig zu benennen – und ich gebe hier ganz bewusst keine Beispiele, da diese Positionen eben durchgehend auftreten. Gemeinsam war ihnen, dass sich ihre Kunst, wie Goethe sagte, am „Leben selbst“ orientierte, also dem Menschlichen, Irdischen verpflichtet sind – oder, anders gesagt: dass ein durchaus human verstandener „Eros“ die zentrale Grundlage ihrer Texte, ihrer Musik bildet. Gemeinsam war Goethe wie Beethoven der die nationalen Grenzen überschreitende internationale Blick wie auch das sehr bewusste Anknüpfen an die vorliegenden Spitzenleistungen der jeweiligen Kunst; insbesondere, aber bei weitem nicht nur an die Antike und an Shakespeare. Hierzu gehört vor allem die an Shakespeare orientierte Mischung des Ernsthaften, ja Tragischen mit dem Komischen; für Beethoven war daneben das ausdrückliche Anknüpfen an Bach und Händel, an Haydn und Mozart wichtig: „daß sie Sebastian Bach’s Werke herausgeben wollen“, schrieb er an den Verleger Franz Hofmeister, „ ist etwas, was meinem Herzen, das gantz für die Hohe große Kunst dieses Urvaters der Harmonie schlägt, recht wohl thut […]” Gemeinsam war beiden die beiderseitige Hochschätzung der Volkskunst – fassbar etwa in Beethovens Tänzen wie auch in der liedhaften Dimension der Lyrik Goethes. Gemeinsam war beiden das wenn auch verschieden ausgeprägte, sich auf unterschiedliche Bereiche beziehende moderne Weltverständnis, zu dessen Grundbeziehungen Widersprüche, Polarität und Entwicklung gehören: Einheit des Zarten, Elegischen, Trauernden, Elysischen und Kämpferischen. Gemeinsam war beiden eine demonstrativ in Anspruch genommene wie verteidigte ausgeprägte künstlerische Individualität. Sich spontan entwickelnd oder ausgeklügelt fixiert, dürfte sie allerdings kaum geeignet sein, Zuschreibungen wie „klassisch“, „klassizistisch“ oder „romantisch“ zu bedienen bzw. in ihnen aufzugehen. Wir werden demgegenüber der künstlerischen Subjektivität Goethes und Beethovens wohl am ehesten gerecht, wenn wir verstehen, dass jeder von ihnen der großen Bewegung des europäischen Romantizismus eine jeweils spezifische, originelle, unverwechselbare, höchst wichtige Note hinzufügte. Gemeinsam war ihnen schließlich ihre maßgebliche Beteiligung an der Veränderung und Weiterentwicklung ästhetischer Grundpositionen, an der drastischen Überwindung der herrschenden ästhetischen Normen wie an der komplexen Veränderung der vorgefundenen Gattungen und Genres wie des poetischen und musikalischen Materials. Ja, es ist sicherlich nur wenig übertrieben zu behaupten, dass Ausmaß und Intensität der beethovenschen wie goetheschen Neuerungen ebenso wenig überblickbar sind wie ihre enormen nationalen und übernationalen zeitgenössischen und nachhaltig-langfristigen Wirkungen. „D e r kann Alles“, meinte Franz Schubert – nun, wie immer man diesen Satz betrachtet, euphorisch ist er auf jeden Fall. Aber seien wir keine Beckmesser! Akzeptieren wir, dass sich Kultur wie auch die sie immer wieder bedrängende Barbarei nicht nur aus einer Quelle speisen. „Zu dem Guten, von dem wir überzeugt sind, die Menschen zu bewegen, dürfen wir uns nicht unserer Argumente bedienen, sondern wir müssen bedenken, was ohngefähr die ihrigen wären“, hatte Goethe in jenen Jahren an Zelter geschrieben, da Beethoven an der „Eroica“ arbeitete. Eine derartige Strategie mochte Beethoven ferngelegen haben – im Einsatz für das Metaphorisch-Gute traf er sich jedoch nicht nur mit Herders Preis des „Wahren, Guten und Würklich Schönen!“, sondern eben auch mit Goethe: „Edel sey der Mensch hülfreich und gut!“ – die Eingangsverse des hymnischen Goethegedichts „Das Göttliche“ hat Beethoven gleich mehrmals in Musik gesetzt: als Stammbuchblatt, als Klavierlied, als 6-stimmigen Kanon. – Goethe und Beethoven: Der Dichter bezeichnete den Musiker als „ungebändigt“, der aber vermutete bei jenem ein Zuviel an „Hofluft“. Aber war der Eine tatsächlich „ungebändigt“ – der Andere aber womöglich ‚gebändigt’? Gefiel die „Hofluft“ dem Einen „zu“ sehr, dem Anderen aber nur ‚sehr’? Nun, derartige Charakterisierungsversuche werden nicht ganz abzuweisen sein: Wesentliches über Persönlichkeit und Werk erfassen sie mit Sicherheit nicht. Vielleicht aber dürfen wir sagen: „gebändigt“ wie „ungebändigt“ waren sie beide: „gebändigt“ – durch Krankheit und Alter, durch politische und menschliche Enttäuschungen, durch existenziell menschliche, wirtschaftliche oder politische Zwänge, durch „Hofluft“. – „Ungebändigt“ aber waren sie – zumeist – in ihrer Kunst.

Durch weiße Pracht zum Grünen Hügel

Erfurter und Geraer Goethefreunde fuhren am 14. Februar 2015 gemeinsam in die Wagner-, Liszt-, Jean-Paul- und Oskar-Stadt Bayreuth

Es war ein Experiment, dass sich Erfurter und Geraer Goethefreunde Mitte Februar erstmals gemeinsam auf eine Exkursion begaben. Würden die Landeshauptstädter, die sich erst vor wenigen Wochen zur neuen Erfurter Goethe-Gesellschaft zusammengefunden haben, und die Provinzler, die als Geraer Goethe-Gesellschaft nun schon seit neun Jahre bestehen, gut miteinander auskommen? Diese Sorge erwies sich als unbegründet, denn nicht nur das Interesse an dem großen Dichter verbindet die Mitglieder und Gäste der beiden Ortsvereinigungen, sondern auch das Bedürfnis nach angeregten Gesprächen und Aufgeschlossenheit gegenüber weiteren kulturellen Angeboten.

Eine Sorge ganz anderer Art war allerdings für die Organisatoren zunächst weitaus größer: Die Leitung des Festspielhauses Bayreuth, dessen Besichtigung der Höhepunkt unserer Fahrt sein sollte, sagte von einem Tag auf den anderen mit einer für uns fadenscheinigen Begründung den Termin für die Führung ab. Da war guter Rat teuer. Die ganze Fahrt absagen? Bus und Gasthaus abbestellen? Teilnehmerbeiträge zurück überweisen? – Nicht bei uns.
Bernd, der Vorsitzende beider Gesellschaften, rotierte, telefonierte, schrieb E-Mails, fragte hier und dort an. Landete vor weiteren Bayreuther geschlossenen Türen, stieß an Termin- und Finanzhürden, bekam Absagen, aber dann zum Glück auch Zusagen. So vom Kunstmuseum Bayreuth, das uns kurzfristig seinen Saal zur Verfügung stellte. So von den beiden Geraer Musikern Cornelius Herrmann (Cello) und Benjamin Stiehlau (Piano) sowie der früheren Schauspielerin Otti Planerer, die uns Geraer Goethefreunde schon mehrmals mit ihrem Können begeisterten. So taten sie’s auch am 14. Februar in Bayreuth.

Die vier Akteure brachten auf die Schnelle ein erstaunlich ansprechendes und kurzweiliges Programm auf die Beine.
Otti Planerer und Bernd Kemter warfen sich die textlichen Bälle zu und ließen dabei so manche lustige, ernsthafte, besinnliche oder gar skandalöse Begebenheit aus der Geschichte des großen Bayreuther Musikus Richard Wagner lebendig werden. Musik vom Feinsten entlockten Cornelius Herrmann und Benjamin Stiehlau ihren Instrumenten und begeisterten ebenfalls das Publikum.

Auf der Busfahrt zum Grünen Hügel hatten sich die Erfurter und Geraer Teilnehmer zunächst an der weißen Pracht erfreut, die im Fränkischen die vorbeiziehende Landschaft überpudert hatte. Bei einer Rast testete mancher gleich mal, ob die Konsistenz der weißen Masse sich für Schneebälle eignete. In den Genuss frischer fränkischer Luft kamen alle beim kurzen Stadtrundgang, der u. a. vorbei an der Villa „Wahnfried“ führte. Auch sie leider geschlossen, aber hier waren’s Bauarbeiten. Das efeuumwachsene Grab Wagners, also seinen letzten grünen Hügel, entdeckten wir allerdings doch noch.

Die berühmten Film-Oskars wurden erst zehn Tage später vergeben. Wir aber bekamen unseren „Oskar“ sofort, nämlich in Form von fränkischer Gastlichkeit und fränkischer Küche im gleichnamigen Traditionsgasthaus. Während wir Speise und Trank genossen, wurden viele anregende Gespräche geführt und nicht mit Anerkennung für den gelungenen schönen Ausflug gespart. -anke-

In E-Mails von Teilnehmern liest sich das so:

Vielen, vielen Dank für den schönen Tag. Wenn er auch aufregend begann, wofür ich mich nochmal entschuldigen möchte. Es war mir sehr peinlich, dass der ganz Bus auf uns warten musste, aber am Ende war alles gut und es war toll organisiert, der musikalisch-literarisch-satirische Nachmittag so aus dem Stegreif – einfach ein Genuss. Wir drei Freundinnen sind uns einig, dass wir solche Ausflüge, die einem auch geistig etwas geben, gerne wieder mit euch mitmachen wollen. Dreifache große Anerkennung! Es war eine sehr angenehme und inspirierende Goethe-Gesellschaft. – Elke L. aus Gera

Ein herzliches Dankeschön für die Organisation und fröhliche Untermalung unseres Ausflugs nach Bayreuth. Auch wenn uns das Festspielhaus nicht recht mochte, so haben Sie, Herr Kemter, es mit Geschick verstanden, doch eine interessante Fahrt daraus zu machen. Wir sind auch alle wieder gut in Erfurt gelandet… Ansonsten bleibt uns die Fahrt, durch den kalten Februar in guter Erinnerung. Annerose und Hans Borutta, Erfurt

Goethe als Naturforscher im Fichtelgebirge und in Böhmen

Vortrag von Bernd Kemter, Gera, am 3. Februar 2015

Mephistoteles Faust II, Hochgebirg
Als Gott der Herr… ich weiß auch wohl warum
Uns aus der Luft in tiefste Tiefen bannte,
Da, wo zentralisch glühend um und um
Ein ewig Feuer flammend sich durchbrannte
Wir fanden uns bei allzu großer Hellung
In sehr gedrängter, unbequemer Stellung.
Die Teufel fingen sämtlich an zu husten,
von oben und von unten auszupusten.
Die Hölle schwoll von Schwefelstank und -säure.
Das gab ein Gas! Das ging ins Ungeheure,
so dass gar bald der Länder flache Kruste,
so dick sie war, zerkrachend bersten musste.
Nun haben wir’s an einem andern Zipfel
Was ehmals Grund war, ist nun Gipfel.
Sie gründen auch hierauf die rechten Lehren.
Das Unterste ins Oberste zu kehren.
Denn wir entrannen knechtisch heißer Gruft
Ins Übermaß der Herrschaft freier Luft.
Ein offenbar Geheimnis wohl verwahrt
Und wird nur spät den Völkern offenbart.
Was hier Mephisto schildert, ist nichts anderes als die poetisch-dramatische Widerspiegelung der Ansichten der Plutonisten, die sich zu Goethes Zeiten in erbittertem Widerstreit mit den Neptunisten befanden. Die Götternamen verweisen bereits auf die konträren Deutungsmuster dieser beiden Schulen am Anfang der Geologie als Wissenschaft. So wie sich uns die Erdkruste mit all ihren Gebirgen, Tälern und Hügeln, all ihren Verwerfungen und merkwürdigen Gebilden darstellt, ist das Werk vorzeitlicher Ozeane. Sie verschwanden und ließen uns diese Welt zurück. So sagen – vereinfacht gesprochen – die Neptunisten. Alles, was entstand, ist das Werk vulkanischer Tätigkeit, halten die Plutonisten dagegen.
Dieser Streit, erbittert bis ins Persönliche ausgefochten, tobte an der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert. Es war die heroische Zeit der Geologie, in der sie als Wissenschaft entstand. Zuvor hatte es nur sehr wenige gesicherte Erkenntnisse gegeben, Leonardo da Vinci hatte sich wohl ein wenig mit versteinerten Fossilien befasst, das war aber auch schon fast alles.
Goethe griff in diesen Streit ein, neigte zuerst den Neptunisten zu, erkannte jedoch sehr rasch, dass es sich hierbei um sehr orthodoxe, festgefahrene Ansichten handelt, favorisierte daher weit später den Plutonismus, versuchte sich aber auch in Kompromissvorschlägen, weil er erkannte, was – auf philosophischem Gebiet – Kant im Urteil zur empiristisch-skeptizistischen Schule David Humes und zum Rationalismus des Rene Descartes sagte: Sie hatten beide ein wenig Recht.
Wieso aber konnte sich Goethe überhaupt in den Fachstreit der beiden gelehrten Fakultäten einmischen?
Nun, er war ja selbst vom Fach. Er kam wohl 1776 („höchst unwissend in alle Naturstudien“, wie er selbst 1824 rückblickend erwähnte) nach Ilmenau. Es war eine selten glückliche Situation, dass 1778 von Charpentiers „Mineralogische Geographie der Chursächsischen Lande“ erschienen war, zu dem der Autor eine Sammlung von etwa 100 Gesteinsproben für 100 Taler mitlieferte. Goethe erwarb 1780 diese Sammlung. Zur gleichen Zeit gelangten von Kennern des Landes kleine instruktive Sammlungen mit Erläuterungen zu Goethe. Schließlich erwarb er 1781 die „Folge der Gebirgsarten des Thüringer Waldes“ von Bergrat Voigt. Diese Sammlungen und seine Reisen in Thüringen und über den Harz versetzten Goethe in die Lage, die regionale Geologie von der Neiße im Osten bis hin zur Fulda im Westen und vom Harz bis ins Erzgebirge erstmals zu erfassen.
Entscheidend für Goethes Leistungen auf dem Gebiet der Geologie wurden jedoch seine Reisen 1785, 1820 und 1822 ins Fichtelgebirge und seine häufigen Aufenthalte in Böhmen.
Im Fichtelgebirge gelangte er zu bemerkenswerten Erkenntnissen. Schon Jahrhunderte zuvor rätselten die Menschen, wie jene merkwürdigen Granit-Blockmeere entstanden sein mochten, wie wir sie auf dem Schneeberggipfel, auf der Kösseine, am Haberstein, am Schneeberg und natürlich auf der Luisenburg antreffen. Er fand hier eine richtige, heute noch gültige Erklärung, wobei man bedenken muss, dass ja die Geologie noch in den Kinderschuhen steckte. Die früheren Granitwände sind durch Spaltenverwitterung zum Einsturz gebracht worden. An den Berghängen gerieten die Blöcke bei einem bestimmten Neigungswinkel in Bewegung, stürzten und bildeten so die Blockmeere. Begünstigt wurde die Fortbewegung durch das Gefrieren und Wiederauftauen des Untergrundes im Klimawechsel der Eiszeit, die vor 600 000 Jahren begann und vor rund 15 000 Jahren endete. Der Geologe spricht bei lehmigem Untergrund von „Fließerden“; sie waren eine besondere Voraussetzung für die Bewegung der riesigen Granitblöcke an den Hängen der Luisenburg und damit für die Bildung des Felslabyrinths.
Goethe sammelte viele Mineralien im Fichtelgebirge, auch in der böhmischen Gegend um Eger und Marienbad. Seine Sammelleidenschaft erfasste sowohl die in den Bädern weilende Aristokratie wie auch einfache Leute, die ihm schöne Stücke brachten und mit denen er einen herzlichen Umgang pflog. Begleitet wurde er von seinem Diener Karl Stadelmann. Der Bedauernswerte, schon recht Betagte musste viele Körbe schleppen; einer von ihnen, der berühmte Marienbader Korb, den Goethe wegen seiner platzsparenden Faltbarkeit in höchsten Lobestönen pries, kam gar zu literarischen Ehren.
Ich möchte nun kurz auf allgemeine Wesenszüge der Geologie des Fichtelgebirges eingehen, berufe mich hierbei auf Untersuchungen von Hans Sperber. Der Granit als Eruptivgestein bildet die Hauptmasse. Am Bibersberg bei Marktleuthen ist der älteste Granit des Fichtelgebirges aufgeschlossen. Er zeigt Feldspateinsprenglinge bis zu 12 cm. Seine Struktur ist porphyrisch (Eruptivgesteine, deren Grundmasse größere Kristalle als Einsprenglinge aufweist). Er nimmt die größte Ausdehnung ein: von der Reut bei Gefrees über Weißenstadt und Marktleuthen bis über die Grenze nach Tschechien, das sind immerhin 45 Kilometer Längenausdehnung. Auf den jüngsten Granit im Fichtelgebirge, den Zinngranit, treffen wir, wenn wir die Route über Weißenstein zum Rudolphstein und zum Fuchsbau bei Leupoldsdorf nehmen. Nach seiner Beschaffenheit ist der Zinngranit mittelkörnig, relativ weich und von heller Farbe. Am beeindruckendsten sind natürlich die Granit-Blockmeere auf der Luisenburg. Sie entstanden durch Verwitterung, wie schon Goethe richtig feststellte. Runden sich ihre Ecken und Kanten ab, so entstehen wollsack- und matratzenähnliche Gebilde, wie am Waldstein, Rudolphstein, Epprechtstein, Kornberg, Haberstein und Burgstein. Blockgebilde gibt es neben der Luisenburg auch auf den Gipfeln des Schneeberges, der Kösseine, des Habersteins.
Auf dem Höhenrücken zwischen Marktredwitz und Wunsiedel kann man recht gut die Dreigliederung des Gebirgswalles gegenüber dem Fichtelgebirge erkennen: den Granitdom des Steinwaldes, das Basalt-Mittelgebirge mit dem Großen und Kleinen Teichelberg und dem Reichsforst und die Quarzphyllitberge des Kohlwaldes bei Arzberg. Natürlich treten im Fichtelgebirge auch besonders farbenprächtige Minerale auf: Chalzedone, zum Beispiel, gebänderte Jaspise, Amethyste, Turmaline, Topase, Zinnwaldite, um nur einige zu nennen. Und natürlich fand man früher auch schöne Bergkristalle auf den Pegmatitgängen der Granitmassive: am Strehlenberg bei Marktredwitz, bei Göpfersgrün, bei Selb. Quarzkristalle fand man im Untergrund von Weißenstadt und verwendete sie zur Verzierung der Grottenwände der Eremitage. Wo zwischen Leupoldsdorf und Göpfersgrün der Wunsiedler Marmorzug an Gneis bzw. Metagranit grenzt, entstanden Kalksilikate, in deren Klüften man herrliche Minerale entdeckte: Granate, Jaspise und andere.
Einmalig ist auch die Kontaktzone zwischen Granit und Marmor im Raum Göpfersgrün-Thiersheim. Da wären zunächst prächtig ausgebildete Minerale zu nennen wie Sternquarz, Rauchquarz, Amethyste, Kalzite und Pyrit. Geologisch interessanter sind jedoch die Pseudomorphosen. Damit sind Minerale gemeint, die eine ihnen fremde Kristallform angenommen haben. In unserem Fall ist die ursprüngliche Substanz Speckstein (Steatit). Aus ihr entstanden Kristallformen der Minerale Quarz, Kalzit, Magnesit und Vesuvian. Erwähnen möchte ich noch den Granit bei Ellbogen, der große Zwillings-Feldspatkristalle beinhaltet. Von Goethe wurden sie als Karlsbader Zwillinge bezeichnet; ein Name, der in die internationale Fachliteratur Eingang fand.
Auch Basalte finden sich in der Region, im Reichsforst sind mehrere Eruptionskanäle miteinander verwachsen und zu mächtigen Basaltsäulen aufgeschlossen. Und der Wartberg zeigt uns die großartige Erscheinung eines Basaltdurchbruchs durch den Granit. Vulkanschlote existieren auch in der Region Bernstein-Thierstein-Schönwald.
Das interessanteste, zugeich problemreichste Gestein sind die Metamorphiten (Umwandlungsgesteine). Wichtig ist hierbei das Phylitt und Quarzphylitt, ein geschiefertes Gestein aus feinschuppigem Quarz und Sericit, das das Hohe Fichtelgebirge wie ein Mantel umhüllt. Aus Ton wurde Tonschiefer (Phyllit), aus Sand über das Zwischenstadium des Sandsteins Quarzit und aus Kalk Marmor. Der Phyllit ist relativ weich und ein relativ guter Ackerboden. Phyllitbildungen sind besonders schön bei Rügersberg und an der Straße von Sophienthal nach Warmensteinach zu beobachten.
Auch in der Umgebung Wunsiedels ist der Phyllit weithin festzustellen. Er umgibt die hohen Berge, bildet jedoch selbst kleine Hügel.
So wie sich das Fichtelgebirge mit einer ungeheuren Vielzahl an Gesteinen und Mineralien darstellt, wie man sie im Fichtelgebirgsmuseum in Wunsiedel bewundern kann, so gelang es Goethe einen bemerkenswerten Querschnitt mineralogischer Befunde zu erfassen. So beschäftigte er sich natürlich vor allem mit dem Granit, den er als das „Höchste und Tiefste“ pries; wir stoßen auf ihn als das Letzte, wenn wir ins Erdinnere vordringen, und wir erkennen ihn, wenn er als das Höchste in die Wolken ragt; dort, wo es schon keine Bäume, Sträucher, Moose mehr gibt, sondern nur noch ihn, den Granit. Von diesem körnigen, magmatischem Tiefengestein ausgehend, so riet Goethe den Fachgeologen, sei aller weiterer Fortschritt im Erkenntnisprozess zu erwarten. Von den Mineralien, mit denen sich Goethe beschäftigte, sei eine kleine Auswahl herausgegriffen: Phyllit, feinblättriger, kristalliner Tonglimmerschiefer von grünlich-grauer Farbe, Chrysoprasen, eine apfelgrüne Abart des Chalzedons, ein durchscheinendes Mineral aus amorpher Kieselsäure, Tremolit, ein weißes, graues oder grünliches Mineral, ein Kalzium-Magnesium-Silikat, und natürlich das Hyalith, aus dem das berühmte südböhmische schwarze Glas des frühen 19. Jahrhunderts gefertigt wurde, eine Nachahmung der englischen schwarzen und undurchsichtigen Wedgewood-Basaltware, die natürlich erst mit ihren Golddekoren ihre prächtige Wirkung entfaltete.
Goethe interessierte sich lebhaft für den Wunsiedeler Marmor, die Zinnwäsche auf dem Seeberg, für den mit weißem Felsspat durchsetzten Granit bei Marktleuthen, den Katharinenberg bei Wunsiedel, der ganz aus Glimmerschiefer besteht und mit höchst feinkörnigem Gneis große Ähnlichkeit hat, die Quarzvorkommen bei Leupoldsdorf und wieder Gneis, der sich bis auf die Höhe des Seebergs hinzieht, für die Steinbrüche bei Rehau. Und er beschäftigte sich auch mit der überregionalen Wasserscheide in dieser Gegend, besuchte mehrere Orte, so auch Alexandersbad und Sichersreuth, und notierte meteorologische Beobachtungen.
Er bestieg den Ochsenkopf (1. Juli 1785), den Nußhardt, jedoch nie den Haberstein am Schneeberg, wie mitunter zu lesen ist.
Jeder Weg in unbekannte Gebirge bestätigte die alte Erfahrung, dass das Höchste und das Tiefste Granit sei, dass diese Steinart, die man nun näher kennen und von andern unterscheiden lernte, die Grundveste unserer Erde sei, worauf sich alle übrigen mannigfaltigen Gebirge hinauf gebildet. In den innersten Eingeweiden der Erde ruht sie unerschüttert, ihre hohen Rücken steigen empor, deren Gipfel nie das alles umgebende Wasser erreicht.
Beim Abstieg vom Ochsenkopf machte Goethe auf einer leuchtenden Bergwiese eine botanische Sensation im Hinblick auf den Sonnentau. In Begleitung des Botanicus Friedrich Gottlieb Dietrich und des Kammerherrn Karl Ludwig Knebel beschäftigte sich Goethe neben der Moosbeere auch mit dem Sonnentau und erkannte, dass es sich hierbei um eine insektenfressende Pflanze handelte. Erst Jahrzehnte danach gelang es Darwin, die ignoranten Fachbotaniker von der Richtigkeit dieser Beobachtung zu überzeugen.
Auf der Platte im Schneebergmassiv fand man früher wie etwa am Seehaus den seltenen Siebenstern. Er gehört zur Familie der Schlüsselblumen, und seine weißen Blüten Ende Mai bis Ende Juli, die in einem Trichter dunkelgrüner Laubblätter stehen, fallen dadurch auf, dass sie fast stets die im Pflanzenreich ungewöhnliche Zahl von sieben Kronblättern aufweisen. Ansonsten wird man hier kaum größere Gefäßpflanzen finden.
In der Gipfelregion des Großen Waldsteins gibt es zehn verschiedene Baum- und Straucharten: Fichte, Kiefer, Tanne, Bergahorn, Rotbuche, Zitterpappel, Vogelbeere, Salweide, Schwarze Heckenkirsche und Trauben-Holunder. Von den 26 bei Vollrat angegebenen krautigen Pflanzen, sind besonders zwei bemerkenswert: zum ersten die Goldnessel, zum zweiten die Gefleckte Taubnessel. In ihrem Aussehen ähneln sie der bekannten Weißen Taubnessel, aber die eine hat gelbe, die andere karminrote Blüten. Als seltene und geschützte Pflanze sei die Korallenwurz erwähnt, ein Knabenkraut, bleich, gelblich-grün, das Chlorophyll fehlt fast gänzlich, um zu existieren, schmarotzt sie auf dem Mycel eines Pilzes. Interessant ist auch die Einbeere. Aus einem Quirl von vier elliptischen spitzen Blättern erhebt sich eine schwarze Beere in der Mitte einer grünen, sternförmigen Blüte. An sich gehört die Einbeere in die Laubwälder.
Als artenreichster Granitgipfel gilt der Große Hengstberg. Der Bibersberg bei Marktleuthen zeigt eine Flora, die an sich auf trockenen Standorten heimisch ist. Die Kiefer tritt hinzu, dazu der schwarz werdende Geißklee, ein Schmetterlingsblütler mit dreizähligen Blättern, dessen leuchtend gelbe Blüten in dichten, blattlosen Trauben stehen. Er erreicht hier die Nordwestgrenze seines südosteuropäischen Verbreitungsgebietes. Der Trockencharakter der Flora erklärt sich aus der Lage des Biberbergs im Innern des Hufeisens und damit im Regenschatten. Im Fichtelgebirge dominiert die Fichte, Reste des ursprünglichen Bergmischwaldes finden sich nur an wenigen Stellen, etwa am Hang der Kösseine, am großen Hengstberg und im Steinachtal zwischen Warmensteinach und Sophiental.
Wir finden noch das Schmalblättrige oder Wald-Weidenröschen mit seinen dunkelrosa Blütentrauben, das gern auf Kahlschlägen, an Waldwegen und Schuttflächen wächst. An Holzgewächsen haben vor allem die Birke und der Trauben-Holunder die Felsklüfte besiedelt.
In großen Höhen, wo schon kaum Leben mehr möglich scheint, können sich zumindest Krustenflechten ansiedeln. Flechten und Moose sind völlig anspruchslos, was ihren Untergrund betrifft. Hierzu gehört auch das geschützte Leuchtmoos, das man im Blockmeer der Luisenburg begegnen kann. Vermutlich ist es auch Goethe aufgefallen. Durch teilweise Reflexion des im Chlorophyll gesammelten Sonnenlichts entsteht der zauberhafte goldgrüne Schimmer in den Felsklüften.
Von hohem Wert sind natürlich die Hochmoore im Fichtelgebirge. Charakteristisch ist weniger ihre Höhenlage, mehr noch ihre uhrglasförmige Aufwölbung in der Mitte. In versumpften Mulden mit wasserundurchlässigem Untergrund gedeihen Tormoose, die in ihrem unteren Teil absterben und vertorfen. Aus den abgestorbenen Schichten wachsen die Moospflanzen weiter, so dass sich langsam das Niveau vor allem in der Mitte erhebt. Dann verliert die Pflanzendecke den Kontakt mit dem nährstoffreichen Grundwasser, ihm bleibt nur noch das nährstofffreie Regenwasser. Doch die Feinmoose sind in der Lage, lange Zeit das Wasser wie ein Schwamm speichern zu können. Nur wenige Pflanzen können sich an diese Nährstoffarmut und die sauren Böden anpassen. Ein großes Moorgebiet befindet sich bekanntermaßen am Fichtelsee.
Charakteristischer Nadelbaum hiesiger Hochmoore ist die Moorspirke, eine Art der Bergkiefer. Sie erreicht immerhin eine Höhe bis max. 12 Metern. Sie trägt kurze Zweige mit paarweis stehenden dunkelgrünen Nadeln, die Kronen sind pyramidenförmig. Am Rand der Moore kann dieser Baum überleben, da seine Wurzeln gerade noch in den nährstoffreichen mineralischen Untergrund hinabrechen. Weiter im Innern finden wir nur noch Krüppelformen. Typischer Laubbaum ist die Moorbirke. Neben Preiselbeere und Blaubeere finden wir noch die Moosbeere, ihre dünnen Äste kriechen bis 50 cm über den Boden, ihre rosa Blüten mit zurück geschlagenen Blütenblättern werden zu tiefroten Beeren. Auch die Rauschbeere wächst im moorigen Gebiet. Das sind etwa kniehohe Sträucher mit blau bereiften Blättern. Deren blau bereifte Beeren sondern im Gegensatz zur Heidelbeere keinen roten, sondern farblosen Saft ab.
Nun wenden wir uns noch dem Fichtelsee zu. Hierher gehören das Schmalblättrige und das Scheiden-Wollgras. Bei beiden sind die Ährchen mit silbrigen Haaren besetzt. Das Scheiden-Wollgras hat aufgeblasene Blattscheiden am Halm.
Vollrath beschreibt den Ruh-Berg südlich von Arzberg als das „vielleicht interessanteste Florengebiet“ Nordostbayerns. Der Boden ist hier sehr stickstoffreich. So wächst hier die Hain-Klette, die Rote und die Schwarze Heckenkirsche, der Rote Fingerhut, der bis zu einem Meter hoch werdende Wald-Ziest, die Pfirsichblättrige, die Nesselblättrige und die allseits bekannte zarte Wiesen-Glockenblume. Wir finden den Seidelbast und die Gemeine Akelei, den Frauenfarn und Türkenbund. In den Talwiesen gedeihen der rosagefärbte Schlangenwurz, die Kratzdistel und die Arnika. Viele dieser Pflanzen hat Goethe zu Gesicht bekommen, und er hat sie sehr bewundert.
Und er meinte: Der Botanik als Wissenschaft sind die buntesten und gefülltesten Blumen, die essbarsten und schönsten Früchte nicht mehr, ja in gewissem Sinne nicht einmal so viel wert, als ein verachtetes Unkraut im natürlichen Zustande, als eine trockene, unbrauchbare Samenkapsel.
Auf seinen Reisen hierher besuchte Goethe natürlich auch Marktredwitz, das Goethezimmer im Neuen Rathaus zeugt davon.
Er war zu Gast bei der Fabrikantenfamilie Fikentscher, besuchte in Begleitung eines Sohnes dieser Familie die Glashütte bei Brand. Er bewunderte dort nicht nur die Arbeiter, die riesige glühende Glasscheiben in Schwingung versetzten; man stellte ihm auch entoptische, also trübe Gläser zur Verfügung, mit denen er seine Farblehre beweisen zu können vermeinte. Dies sei hier nur kurz angerissen.
Bevor wir zu seinen mineralogischen und botanischen Forschungen im Egerland kommen, ein kleiner Text, der gut veranschaulicht, wie sich Dichter und Forscher in der Person Goethes vereinen.
Und so sag ich zum letzten Male
Natur hat weder Kern
Noch Schale
Du prüfe dich nur allermeist,
Ob du Kern oder Schale seist.
Als Geologe reiste Goethe ins Egerland, nachdem er durch die Harzreisen 1783 und 1784 unter Führung des Berghauptmanns Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra (ihm seit der beschlossenen Wiederbelebung des Ilmenauer Bergbaus 1777 bekannt und befreundet) bestens präpariert, die Granitfelsen des Ochsenkopfs und der Luisenburg, und er führte ein geologisches Tagebuch. Sein Gesprächspartner ist der Egerer Kriminalrat Grüner. Über den Haslauer Egeran, eine Silikat-Varietät, hatte er schon 1821 einen Bericht verfasst. Und diesem länglichen, schwarzen, unscheinbaren Mineral gab Goethe persönlich einen Namen: Egeran aus Dankbarkeit an seine Gastgeberstadt Eger. Die dazu gehörige geologische Karte zu Haslau vermerkt zu einem Felsen, an dem Goethe auf seinen Exkursionen zu rasten pflegte: „Quarzmasse, welche Göthe liebt und daher für immer nicht berührt werden darf“.
Der Felsen ist noch heute als Gedenkstein erhalten. Über den Egeran diskutierte Goethe aber auch am 3. Juli 1822 in Eger mit dem in Stockholm lebenden Chemiker Johann Jakob von Berzelius und dem Paläobotaniker Kaspar Graf Sternberg, seinem vertrautesten böhmischen Freund, wobei Goethe sich beklagt, sich wegen seines Alters nicht mehr im Gebrauch des Lötkolbens ausbilden zu können, der für den Nachweis von Titan nützlich war.
Aber auch ein völlig unscheinbares Objekt, der Kammerbühl bei Eger, übte eine ungewöhnliche Faszination auf Goethe aus; kein Wunder, besteht doch dieser Hügel, ganz im Gegensatz zur Umgebung aus vulkanischem Basalt. Allein 1808 sind acht Besuche bezeugt. Grund war die ungelöste Frage, ob der Hügel tatsächlich von vulkanischer oder pseudovulkanischer Beschaffenheit sei. Goethe versammelt die Produkte des „problematischen Berges“, zeichnet ihn, schreibt eine Abhandlung „Der Kammerberg bei Eger“. Er plant einen Durchstich, bespricht sich mit Berzelius, der Vulkane in der Auvergne und im Vivarais zum Vergleich heranzieht und stellt ihn 1824 zusammen mit dem Wolfsberg bei Czerlochin und dem Rehberg bei Boden und Altalbenreuth in seiner Zeitschrift „Zur Naturwissenschaft überhaupt“ als submarinen Pseudovulkan zur Diskussion.
Die mineralogische Ausbeute ist beträchtlich. Goethe sammelt, erwirbt oder lässt sich schenken: Minerale von Plau-Sandau, Pograd, Schlada-Delitz und auch von den Fundorten in Marienbad, vom Sangersberg und vom Michelsberg. Dies sind vor allem Augiten vom Wolfsberg, das sind gittermäßig gleich gebaute, schwarz glänzende und gut spaltbare Silikate. Goethe besaß eine ganze Kollektion davon.
Und er verfasste eine Schrift: „Marienbad überhaupt und besonders in Rücksicht auf Geologie“. Darin finden sich insbesondere die Abschnitte „Basalt“, „Serpentin“ und „Pechstein“. Das Serpentin aus Einsiedel, übrigens, wurde zu damaliger Zeit in Sandau zu Gebrauchs- und Ziergegenständen geschliffen. Diese erste Gesteinssammlung wird abgeschlossen, katalogisiert und mit einem „Verzeichnis der um Marienbad vorkommenden Gebirgs- und Gangarten“ versehen. Immerhin 110 Arten werden darin beschrieben. Vierundzwanzig Arten umfasst das Verzeichnis „Gebirgsarten des Wolfsberges“, dem reichlich vier Dutzend Folioblätter über Pflanzen beigefügt sind; dieses Herbarium befindet sich noch heute im Magazin des Marienbader Goethemuseums, wovon ich mich überzeugen konnte, und ein preußischer Prinz war daran nicht unbeteiligt.
Diese Sammlungen gehen teils an die ob der Mengen verzweifelnde Familie Goethe nach Weimar, an die Mineralogische Sozietät nach Jena, an den Prälaten Reitenberger ins Stift Tepl und an den Grafen Sternberg, der sie für das auf seine Anregung hin entstehende Vaterländische Museum in Prag verwenden soll.
Wie stellen sich denn die geologischen Befunde zwischen Eger, Karlsbad und Marienbad, insbesondere des Kaiserwaldes, dar?
Es sei hier nicht auf die 600 Millionen lange Geschichte eingegangen, an derem bisherigen Ende die heutige geologische Struktur mit den großen Brüchen, dem Leitmeritzer Tiefbruch, dem Marienbader Bruch mit dem parallelen Streifen des böhmischen Quarzwalls sowie dem Joachimsthaler Tiefbruch stehen, das würde einfach den Rahmen sprengen. Ich möchte nur auf die wichtigsten Vorkommen eingehen. Vom Serpentinit war schon die Rede. Gleichermaßen begegnen uns natürlich der Basalt, dunkle Steine nach Lavaerkaltung, der Quarzit, der aus feinkörnigem Quarz besteht, der wegen des hohen Quarzgehaltes ähnliche Kontakthornstein, der Erlan. Er entsteht bei Vermengung des Granitmagmas mit Gesteinen mit hohem Anteil an kohlensaurem Kalk, vor allem aber auch als Kalksilikate. Besonders sehenswert sind die Amphibolite und Eklogite, die aus den Basaltgesteinen bei hohem Druck entstehen, dann eine Metamorphose zu Eklogiten führen. Amphibolite bestehen überwiegend aus gemeiner Hornblende, Eklogite bestehen aus Mischkristallen, sie kommen als Linsen oder Bänder in Gneisen und kristallinen Schiefern nicht nur im Fichtelgebirge, sondern auch im Erzgebirge und in den Alpen vor. Der Name Eklogit hat seinen Namensursprung im Griechischen; er leitet sich von „elektos” (auserwählt, farbig) ab. 1810 wurde er erstmalig in Stammbach beschrieben. Eklogite sind kristalline Gesteine von sehr hoher Dichte, die sich sehr häufig im Erdmantel in 10 – 100 km Tiefe vorfinden. Die größten Vorkommen Mitteleuropas befinden sich im Bereich der Münchberger Gneismasse, das größte Einzelvorkommen ist Weißenstein bei Stammbach.
Die Münchberger Gneismasse ist als Teil des Böhmischen Massivs im Kambrium (vor 570 – 500 Millionen Jahren) aus Ablagerungen entstanden und während der Variskischen Gebirgsbildung im Unterkarbon (vor 350 – 280 Millionen Jahren) aufgefaltet worden. Es ist also ein sehr altes Gebirge, wesentlich älter als die Alpen. Aber das nur nebenbei. Um auf Böhmen zurückzukommen: Wir finden im Egerer und Marienbader Gebiet natürlich ebenso Glimmerschiefer, gerade im Tepler Bergland und im Nordwesten des Tillenberges, desgleichen mehrere Arten von Gneis und Graniten.
Es ist wirklich eine faszinierende, mannigfaltige Welt. Wer sich in ihr umschauen möchte, dem sei der Geologische Park in Marienbad wärmstens empfohlen. Er bietet einen sowohl lehrreichen als auch kurzweiligen Rundgang in freier Natur.
Mit vielen dieser Gesteine hat sich bereits Goethe beschäftigt. Ganz kurz nur sei auf das spätere Schicksal seiner Sammlungen eingegangen. Zunächst sei festgehalten, dass er drei Hauptsammlungen besaß, hinzu kamen Folgesammlungen. Insgesamt kommt man auf die sagenhafte Zahl von rund 18000 Einzelstücken. Auch der Geldwert ist bekannt. Nach Goethes Tod bekundete der Deutsche Bund sein Interesse, Goethes Besitz für die Nachwelt zu erhalten. Die Enkel gaben eine Schätzung in Auftrag. Es ist höchst interessant: Von den 20 200 preußischen Talern, auf die der Goethesche Besitz veranschlagt wurde, entfielen immerhin 6276 Taler auf die geologischen Sammlungen, folglich immerhin ein reichliches Drittel. Man akzeptierte ihren Wert. Viele, darunter die Sammlungen aus Böhmen, sind eigens zusammengetragen worden, sie sind auch Aufkäufe und vom Umfang sehr unterschiedlich. Manche Suiten, Folgesammlungen, enthalten nur zwei oder drei Nummern, eine die Probe des London-Tons von 1826, manche hingegen sind sehr umfangreich, wie etwa die Freiberg-Sammlung des sächsischen Oberberghauptmanns Herder. Von den beiden italienischen Reisen liegen zahlreiche Stücke vor. Bei dem Bologneser Schwerspat erkannte Goethe als Erster das Phänomen der Phosphoriszenz. Teile der ersten Sammlung, die Goethe mit dem Theologen Lenz zusammen gestellt hatte, sind heute noch in der Geowissenschaftlichen Fakultät zu Jena zu sehen und öffentlich zugänglich.
Vom wissenschaftlichen Wert der ersten Sammlungen darf man sich übrigens keine übertriebenen Vorstellungen machen. Man sammelte alles durcheinander: Stücke aus der Pflanzen- Tier- und Gesteinswelt fanden sich beisammen. Auch wurde viel Wert auf Kuriositäten gelegt. So heißt es in einer Jenaer Beschreibung von 1783 recht amüsant: „ein wurmstichiges, verrenktes Kamel im Eingangsbereich, oben drüber ein hölzerner Grönländer mit Schweineleder überzogen, dann ist eine Kuh da, die irgendwo einen Fuß zuviel hat und auf ihrem Rücken ein kleiner Seehund. Dabei ein Geschöpf, das wie eine Bank aussah, aber doch Fell und Kopf hatte. Ein kleines Pferd. Daneben ein Harlekin zum Aufziehen mit einer Trommel, auch ein Achat.“
Das war ein sehr kümmerlicher Anfang für eine Mineraliensammlung, die gut 30 Jahre später zu einer der größten ihrer Art in Europa werden sollte.
Seit 1971 kann man auch im Goethehaus in Weimar, in dessem Garten, in einem Schuppen, auf Wunsch Sammlungen besichtigen. Und auch im Wohnhaus selbst gibt es einige Stücke zu sehen. Das große Sammelzimmer existiert allerdings nicht mehr. Goethes Schwiegertochter Ottilie hatte viele Exemplare veräußert, wozu sie laut Testament auch berechtigt war.

„Goethea“ – Pflanze des Humanismus

Vortrag von Sylk Schneider, Weimar, am 6. Januar 2015

In den Jahren 1815 bis 1817 war Prinz Wied zu Neuwied auch in Brasilien. Seine Beschreibungen der Natur- und Pflanzenwelt Brasiliens mit Zeichnungen und Naturgemälden war beeindruckend. Er entdeckte in Bahia eine neue Pflanze, eine brasilianische Malvenart, die er „Goethea“ nannte. Bis heute ist damit Goethes Name als „Brasilianist“ geehrt.
Ritter von Martius, ein junger Mann, der mit seinen Werken („Flora Brasiliensis“ und „Über die Palmenarten Brasiliens) Bedeutendes schuf, war einer der wichtigsten Gesprächspartner Goethes. Er nahm, so heißt es, nur zwei Bücher nach Brasilien mit: die Bibel und Goethes „Faust“. Es gab auch einen regen Briefwechsel zwischen den beiden.
Zitat: „Die berühmte Reise in Brasilien von Johann Baptist von Spix und Carl Friedrich Phillipp von Martius ist bis in die heutige Zeit ein Referenzwerk für Historiker, Naturkundler und Brasilienforscher. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dieses große Werk auch den Dichterfürst Johann Wolfgang von Goethe in seinen Bann zog, der sich damals, schon in hohem Alter, gerade dem zweiten Teil des ,Faust‘ widmete. „Das Interesse an Brasiliens Flora und Fauna im damaligen Weimar war groß; es ist daher bezeichnend, dass auch in Goethes Bibliothek Studien zu diesen Themen zu finden waren. Dies wiederum regt uns an, darüber nachzudenken, wie sehr Brasilien die Phantasie Goethes beflügelt haben könnte …“ (Aus dem Grußwort des bras. Botschafters Correa in Deutschland)
Goethe hatte gern Gäste zu Besuch, auch Brasilien-Reisende, die er befragte, weil er im hohen Alter selbst nicht mehr reisen konnte.
1822 erklärte Brasilien seine Unabhängigkeit, die von Deutschland auch anerkannt wurde. Die deutsche Einwanderung nach Brasilien, von der österreichischen Prinzessin Leopoldina, Gemahlin von Kaiser Pedro I., gezielt gefördert, nahm 1824 ihren organisierten Anfang.
Der Dichterfürst Goethe – oder, wie es Dr. Ernst Feder 1932 ausdrückte: Goethe der Brasilianer – hätte zumindest in Gedanken einer von ihnen sein können.
„Goethea“
1932, zum 100. Todestag Goethes, wurde in Rio de Janeiro ein Naturschutzgebiet der „Goethea“ zu Ehren errichtet. In vielen Botanischen Gärten wird dieser brasilianischen Malvenart Ehre erwiesen und auf die Verbindungen zu Goethe und Goethes Brasilieninteresse hingewiesen.

„Ergetzen ist der Musen erste Pflicht. Wieland zum Vergnügen“

Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar, am 2. Dezember 2014

ausführliche Fassung, mit ergänzenden Anmerkungen eines Vortrags in Gera

Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) war Deutschlands erster Bestseller-Autor, einige Zeitlang der meistgelesene und höchstbezahlte deutsche Schriftsteller. So zahlte ihm der Leipziger Verleger Reich für den Staatsroman „Der goldene Spiegel“ 633 Taler, während Goethe für sein Trauerspiel „Stella“ von seinem Berliner Verleger Mylius lediglich 20 Taler erhielt. Wielands Werke wurden zu dessen Lebzeiten bereits in 13 Sprachen übersetzt. Bleibende Verdienste erwarb er sich als Verseerzähler, Romancier, Übersetzer (Shakespeare), Herausgeber und Redakteur (Zeitschrift: „Der Teutsche Merkur“). Er verfasste das erste deutsche Singspiel, nämlich „Alceste“, und schuf als Autor des „Agathon“ den ersten modernen psychologischen Roman in Deutschland.

Er bereicherte den Wortschatz der deutschen Sprache zum Beispiel mit Elfe, Fee, Milchmädchen, Aufklärung, Staatsbürger, Fortschritt, Weltall, Sicherheitsklausel, Wortbrecher, Clique, heimatlos, schmerbäuchig, Teufelspförtner und viele andere. Er schuf auch das Sprichtwort: Sie sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht – aus dem “Musarion”.

Er – und nicht Goethe – prägte auch zuerst den Begriff der Weltliteratur.

Er gab der deutschen Dichtkunst ihre leichte, geschmeidige und graziöse Gestalt. Erfrischend heiter wirken seine Verse heute noch, z. B.

“Ein Busen reizt, der jugendlich gebläht,

Die Augen blend’t und niemals stille steht.”

Herzogin Anna Amalia war begeistert vom Staatsroman “Der goldene Spiegel”, das die Fürsten zu Humanität und wohltätiger Staatskunst für ihre Völker verpflichtete. Er war Prinzenerzieher für die beiden Herzogssöhne, den Erbprinz Carl August und Constantin. Der junge Goethe konnte das Erscheinen des Versromans “Musarion” kaum erwarten, er besorgte sich bereits die Aushängebogen aus der Druckerei.

Wieland wurde als Sohn eines Pfarrers in dem oberschwäbischen Dorf Oberholzheim bei Biberach geboren. Die Familie zog nach Biberach. Er war Student an der Erfurter Universität. Dann sollte er in Tübingen Rechtswissenschaft studieren, verlegte sich aber auf die Dichtkunst. Hier verfasste er sein Erstlingswerk “Die Natur der Dinge oder die vollkommenste Welt”. Das 4000 Verse (Alexandriner) umfassende Gedicht erregte viel Aufsehen. Acht Jahre lebte Wieland in Biberach, lernte dort seine Verlobte, diespätere erfolgreiche Schriftstellerin Sophie la Roche (“Das Fräulein von Sternheim”) kennen. Die Verlobung ging allerdings in die Brüche. Er lebte auch eine Zeitlang in Zürich, bei dem berühmten Professor und Literaturkritiker Bodmer. Selbiger vertrat mit seinem Kollegen Breiting die Ansicht, die Poesie müsse das Schöne nicht allein im Verstand, sondern auch im Gefühl und in der Phantasie suchen. Dies stand den Auffassung des deutschen Literaturpapstes Gottsched schroff entgegen, der auf ästhetischen Regeln nach französischem Vorbild bestand.

Bei Bodmer verliebte sich die Dienstmagd Babet, “eine junge Dralle”, leidenschaftlich in Wieland. Nächtlich überfiel sie ihn in seinem Zimmer. Er rief Bodmer um Hilfe. Bodmer schilderte den Vorfall so: “Sie ward vor Liebe gegen den Faun zur Närrin. Er verriegelte jede Nacht sein Schlafzimmer und legte seinen rostigen Degen entblößt auf die Bettdecke, wenn sie auf ihn einbrach und ihn notzüchtigen wollte, um sich zu schützen.”

Wieland lebte auch eine Zeitlang in Bern, wo er als Hauslehrer tätig war und die geistreiche Patriziertochter Julie von Bondeli kennenlernte. Auch diese Verlobung war nicht von Dauer.

1760 wurde Wieland Senator und Kanzleiverwalter in seiner Heimatstadt Biberach. Er steckte dort zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Amtsschimmel und Pegasus. Oft steckte er bis über beide Ohren “in den muffigten Papieren” und stöhnte: “Wie können verse sich mit Akten vertragen?” Dennoch war es eine produktive Zeit. Er schuf dort die erste Shakespeare-Übersetzung (“Der Sturm”). Es war die erste Shakespeare-Aufführung in deutscher Sprache (1762).

Während eines Konzerts zum Cäcilienfest im November 1761 lernte er die 19-jährige Sängerin Christine Hogel kennen. Er war damals 28 Jahre alt, hatte mit ihr die erste wiklich sinnliche Liebesbeziehung.Er wollte sie heiraten, jedoch war er evangeisch, sie katholisch. Dies sorgte für einen Skandal.Auch als sie ein Kind von ihm bekam, führte dies nicht zur Aussöhnung. Er musste ihr entsagen.

1764 erschien Wielands erster Roman “Der Sieg der Natur über die Schwärmerei oder die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva”. Er bezeugt den Wandlungsprozess von einem Schwärmer zu einem skeptisch-realistischen Beobachter und zu einem Aufklärer. Bodmer höhnte enttäuscht: “Wielands Muse ist eine Metze geworden, die sich dem leichtfertigsten Leser in die Arme wirft”. Die Dichter des “Göttinger Hains” zündeten während einer Klopstock-Feier ihre Fidibusse mit dem Papier des Wieland’schen Werkes an und verbrannten wohl auch ein Exemplar des Buches. Wieland galt als großer Sünder und Sitenverderber. Die Weimarer Kirchenzensur verbot anfänglich ebenfalls seine Werke.

Wieland setzte sich vehement für Sinnenlust und natürliche Sexualität ein. Und er war ein treu sorgender Ehemann und Familienvater. Mit seiner Anna Dorothea, einer Augsburger Kaufmannstochter, hatte er 14 Kinder, aber nur neun erreichten das Erwachsenenalter. Anna Amalia: “Wieland hat schon wieder taufen lassen.” 1797 zogen sie nach Oßmannstedt. Der “Agathon”, der erste Entwickungs-, also psychologische Roman, in aufklärerischer Absicht entsteht: “Ergetzen ist der Musen erste Pflicht, und spielend geben sie den besten Unterricht.”

Agathon, ein junger Grieche, gelangt nach einem wechselvollen Leben mit allerlei Missgeschicken schließlich zu ästhetischer Moralität, gebildeter Sittlichkeit, einer humanitären Haltung und zu geistiger Unabhängigkeit. Der Roman trägt autobiografische Züge.

 

Leben und Werk des Verlegers Cotta

Vortrag von Dr. Bernhard Fischer, Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs Weimar, am 4. November 2014

Johann Friedirch Cotta wurde 1764 geboren. Er gehörte mit Bertuch und Göschen zu den damals berühmtesten Verlegern Deutschlands. Er hat viele Werke berühmter Dichter verlegt, zum Beispiel „Wallenstein“ (Schiller) und den „Faust“ (Goethe), des Weiteren Werke von Herder, Fichte, Uhland, Jean Paul und Forster. Unter seiner Regie entstanden erstmals Werksausgaben. Er verlegte Schillers Horen, gründete die „Allgemeine Zeitung“, den Musen-Almanach“ und das „Morgenblatt für gebildete Stände“ und entwickelte dabei einen rastlosen Geschäftssinn. Bei ihm versammelte sich alles, was Rang und Namen hat, so auch die Romantiker und Vertreter des „Jungen Deutschland“. Insgesamt handelt es sich um ca. 1500 Autoren. Cotta gilt als Universal-Verleger. Er erlebte einen kometenhaften Aufstieg. Er übernahm 17000 Gulden Schulden beim Kauf der Druckerei.

1819 überschreitet sein Umsatz die 1-Million-Gulden-Grenze. Im Jahr verdiente er nun 80 0000 Gulden. Er legte eiserne Disziplin, einen untadeligen Charakter und viele Talente an den Tag. Von ihm sind keine autobiografischen Zeugnisse überliefert; alles, was wir von ihm wissen, stammt aus Briefen. Seine Autoren sind ihm Geschäftspartner.

Er äußerte sich nicht zu Politik oder Klatsch. Er holte aber politische Meinungen ein. Er trieb seine Autoren nicht an. Er blieb ihnen gegenüber nachsichtig und verpflichtete sie sich durch seine Generosität. Er zahlte ihre Honorare nach deren Genialität. So erhielten beispielsweise Schiller 35000 Taler, Goethe 150000 Taler.

Er praktizierte zugleich Vertragsfreiheit. Bei jeder Neuauflage partizipierten die Autoren davon. Cotta erwies sich ebenso als Vorreiter der Autorenrechte. Er war somit entschiedener Gegner räuberischer Raubdrucke, setzte sich während des Wiener Kongresses für ein Verbot von Nachdrucken und für Pressefreiheit ein.

Seine verlegten Bücher erweisen sich sowohl als nützlich-belehrend-unterhaltend als auch als marktgünstig.

Er erwarb ebenso Landgüter, versuchte sich dort in rationalisiertem Landbau. Er trug maßgeblich zur Aufhebung der Leibeigenschaft in Baden-Württemberg bei. Er gründete auch eine Tuchfabrik, eine Flachsspinnerei und eine hochmoderne Papierfabrik. Cotta erwies sich als Pionier der Dampfschifffahrt auf Bodensee und Rhein. Dort gab es von Basel bis zur Mündung bereits Dampfschifffahrtsgesellschaften mit abgestimmten Fahrplänen.

Cotta war ebenso an der Erarbeitung einer Verfassung für Baden-Württemberg beteiligt, stand jedoch als Vermittler des Verfassungswerkes auf verlorenem Posten. Er hoffte auf den neuen König Wilhelm I., doch er wurde enttäuscht. Dennoch kam er zu hohen Ehren, wurde sogar in den Ritterstand erhoben. Er avancierte zum Mitglied des Ständigen Ausschusses zwischen den Landtagen, wurde sogar Vizepräsident des Landtages.

Cotta schlägt sich in den weiteren politischen Auseinandersetzungen auf die Seite Preußens und wirkt maßgeblich an der des des württembergisch-bayerischen, später des württembergisch-preußischen Zollvereins mit.

Nachdem die ihm wohlgesonnene Königin Katharina starb, entzog ihm der König seine Gnade. Für Bayer galt er als persona ingrata (als unerwünschte Person). Er verlor all seine Landgüter, erlitt an der Wiener Warenbörse einen herben Verlust. Cotta wirtschaftete nun am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Nur auf verlegerischem Gebiet blieb er erfolgreich. Er starb 1832.