Rückblick

Schöne Welt, wo bist du? Schillers Gedichte in Schuberts Liedern

Vortrag von Dr. Arnold Pistiak, Potsdam, am 5. September 2017

Haben Schuberts Schillerlieder feste Plätze in Liederabenden und Medien? Doch wohl kaum. Gewiss, Schubert vertonte deutlich weniger Texte von Goethe als von Schiller, aber es waren gerade Gedichte von Schiller, für die sich schon der 14-/15-jährige Schubert begeisterte. Dies hielt an.

Es gibt auch heutzutage keinen Grund, Schuberts Schillerlieder stillschweigend hintanzustellen. Sie sind vielmehr auch in unserer Zeit interessant, und es gibt zahlriche Möglichkeiten, ihre beeindruckende Kraft der Erfidnung und ihre poetisch-musikalische Originalität zu konstatieren, zu erleben und genießend aufzunehmen. Zwei Schillerlieder sind in diesem Sinne ausgewählt: „Dithyrambe“ (1817), „Die Götter Griechenlands“ (1819) und „Der Alpenjäger (vermutlich 1826).

Schillers dreistrophiges Gedicht „Dithyrambe“ erschien 1796 in dem „Almanach auf das Jahr 1797“, hieß dort aber „Der Besuch“; erst später gab der Dichter ihm die endgültige Überschrift.

In dem kurzen balladesken Gedicht wechseln die Sprecher mehrfach. Zunächst erklärt ein selbstbewusster Sprecher einer ihm vertrauten Menschengruppe, dass er fähig sei, die antiken Götter, auf die es ihm ankommt – die Götter des Weines, der Liebe, der Schönheit: Bacchus, Amor, Phöbus – gemeinsam zu beschwören: „Nimmer, das glaubt mir/Erscheinen die Götter allein/Nimmer allein.“ Und tatsächlich: Sie kommen alle, erfahren wir, und sie füllen die „irdische Halle“ mit ihrer Anwesenheit. Die Freude darüber drückt unser Sprecher, ein Dichter übrigens, geradezu jubelnd-ekstatisch in der zweiten Strophe aus und verbindet sie mit einer weitreichenden Bitte: „Leihet mir euer unsterbliches Leben/Götter!“ Und die Götter reagieren. In der folgenden, letzten Strophe sprechen sie zunächst selbst – wenden sich aber nicht direkt an unseren Dichter, sondern an Hebe, ihre Mundschenkin. Dann wechselt der Sprecher erneut – ein Außenstehender, ein kommentierender Beobachter spricht nun das balladeske Schlussurteil:

Reich ihm die Schale!

Schenke dem Dichter,

Hebe, nur ein.

Netz ihm die Augen mit himmlischem Taue

Dass er den Styx, den verhassten, nicht schaue.

Einer der Unser sich dünke zu sein.

Sie rauschet, sie perlet,

Die himmlische Quelle,

Der Busen wird ruhig.

Das Auge wird helle.

Allerdings wendet sich der Widerspruch, der zwischen der Bitte des Dichters um Unsterblichkeit und der Unmöglichkeit ihrer Erfüllung besteht, gegen den Dichter selbst. Der diesen altersweise-heiteren Text schrieb, war natürlich nicht der „Dichter“, sondern Schiller selbst, der Realist, der gelernt hatte, die eigenen, allzu hoch fliegenden Träume kritisch zu sehen oder gar zu verlachen. Der „Styx“ ist eben doch allgegenwärtig. Er muss in bitterem Wissen akzeptiert werden.

„Der Besuch/Dithyrambe“ ist mehrfach vertont worden. Scbubert hat den Text zweimal komponiert. Erst 16-jährig, benutzte er 1813 den Text als Vorlage für den Entwurf eines heroischen Allegro molto in D-Dur für vierstimmigen Chor mit gemischten Stimmen.

Ganz anders ging der reife Künstler Jahre später mit dem Schillertext um. 1826 entstand hierzu ein Lied. In beiden Fassungen verzichtet Schubert völlig auf das Heroische und setzt alles auf den Titel: „Dithyrambe“. Heraus kam ein Schwungvolles; „geschwind, feurig“, eben „dithyrambenhaft“, soll es gespielt und gesungen werden. Dabei gestaltet Schubert diesen Jubel nicht glatt, nicht seicht, sondern setzt hochinteressante, geradezu erregende Akzente.

„Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“, hatte Goethe gedichtet, bevor August Wilhelm Schlegels Zeitschrift „Athenaum“ erschien und bevor das Motiv der leidvollen unerfüllbaren Sehnsucht zu einem Hauptmotiv der europäischen romantischen Bewegung wurde. Den Gedanken von der prinzipiellen Uneinlösbarkeit weitgespannter Vorstellungen vertrat auch Schiller. Und Schubert wählt etwa ein Dutzend Schillergedichte aus, in denen dieser Gedanke anklingt oder gar explizit ausgesprochen wird: „Elysium“, „Eine Leichenfantasie“, „Gruppe aus dem Tartarus“, „Die Götter Griechenlands“, „Der Pilgrim“, „Thekla“, „Die Bürgschaft“, „Der Taucher“, „Das Mädchen aus der Fremde“, „Hoffnung“. Jeweils handelt es sich um Texte, die man als Weltanschauungsdichtung beziechnen könnte, in denen jedenfalls die Utopie einer Versöhnung von Ideal und Wirklichkeit thematisiert wird. Davon, dass das Ideal verwirklicht werden könnte, findet sich nichts. Aber dennoch geht es um Realität, zeichnet sich hinter der Kunstwelt dann doch die Hoffnung auf eine bessere Wirklichkeit ab. Diese Gedichte bestehen auf dem Recht auf Hoffnung. In anderen Gedichten bezieht sich Schiller viel direkter auf die banale irdische Wirklichkeit; ihr Grundgestus ist der der Klage. Dies betrifft auch „Die Götter Griechenlands“, aus dem Schubert eine Strophe auswählte.Es gab heftige Kritik wegen der unterschwellig angedeuteten Weltsicht, die die Vorstellung eines biblisch verstandenen personalen Gottes ablöste durch den Glauben, dass Gott und Natur eins seien. Die Nähe zu Spinoza ist offensichtlich. So konnte auch Schuberts Lied erst nach dessem Tod veröffentlicht werden. Denn dass Schubert dieses Gedicht aufgriff, stellt angesichts der katholischen österreichischen Verhältnisse – vor allem wegen der soeben verabschiedeten Karlsbader Beschlüsse – einen politischen Affront ersten Grades dar.

Schubert konzentriert sich auf einen, ihn bewegenden Gedanken, den er in der 12. Strophe fand:

„Schöne Welt, wo bist du? Kehre wieder

Holdes Blütenalter der Natur!

Ach, nur in dem Feenland der Lieder

Lebt noch deine fabelhafte Spur.

Ausgestorben trauert das Gefilde,

Keine Gottheit zeigt sich meinem Blick,

Ach, von jenem lebenswarmen Bilde

Blieb der Schatten nur zurück.

Auch in dieser Strophe nimmt Schiller eine Klagehaltung ein. Schubert verwandelt die streng alternierenden fünfhebigen Verse Schillers in eine zarte, trauernde, schwebende Melodie in langsamem Dreivierteltakt, bei der die Schillerschen Versgrenzen respektiert werden, die Binnenrhythmisierung der Verse jedoch aufgehoben ist. Die ganze Komposition wird beherrscht von einem spezifisch musikalischen Klagegestus – von der eingangs artikulierten sehnsuchtsvollen Klage bis zu dem Schluss mit seiner kaum noch hörbaren Wiederholung der Frage „Wo bist du?“

Es dominiert die Trauer, als könne wiederkehren, was doch niemals gewesen ist, ein „holdes Blütenalter der Natur“, eine schöne, heile Welt; und es mündet in eine Klage, der zugleich die Distanz gegenüber der christlich-modernen Welt eingeschrieben ist. Dies löst eine tiefe Betroffenheit aus, eine Nachdenklichkeit, die vor dem kritischen Blick auf unser Heute nicht zurückschreckt.

Blicken wir nun auf das Lied „Der Alpenjäger“; ein Lied, dessen Gegenstand die Beziehung zwischen Mensch und -Natur ist. Im Zusammenhang mit der Arbeit an „Wilhelm Tell“ entstanden, wurde das Gedicht 1804 in zwei geringfügig voneinander abweichenden Fassungen veröffentlicht. Wieder haben wir einen balladesken Text vor uns, in drei kurzen dramatischen Szenen.

Die erste besteht in einem Dialog zwischen Mutter und Sohn. Dreimal schlägt die Mutter ihrem „Knaben“ vor, ein traditionell friedliches Leben zu führen. Ihre Stichworte sind: Lämmlein,fromm, sanft, Blüten, Gras, Bach, Kuhglocken, Wald, Blümlein, Beet, Garten. Vergeblich. Dreimal bestürmt sie der „Knabe“, sie gehen zu lassen. Er will auf den „wilden Bergeshöhen“ schweifen und jagen. Die zweite Szene wird von einem Erzähler bestimmt: „rastlos“ sei der Knabe, erfüllt von „blindem Wagen“ halte er sich „am finstern Ort“ auf und vor allem: Mit seinem Todesbogen will er „verwogen“ (verwegen) die Gazelle jagen! Es geht hierbei nicht um eine Jagdgeschichte. Es geht um den Umgang des Menchen mit der Natur. Die Gazelle, die in schöner Übereinstimmung mit der Natur lebt, wird vorgeführt als das unschuldige Opfer des sinnlosen Wütens des Menschen – des „Feindes“. Denn nur Jagdlust treibt den „Knaben“, nur die Gier der Macht und des Tötens. Das Tier ist dem „Knaben“ ebenso gleichgültig wie zuvor Lämmlein, Bach und Wald. Dass die Gazelle in höchster Not ihn anfleht, rührt ihn nicht. Er ist der wahre Alpenjäger! Er ist der Herrscher.Soweit der Realist Schiller. Dies führt weiter zur Feststellung: „Und es herrscht der Erde Gott, das Geld“.

Nun aber meldet sich der Moralist. Im knappen Finale des Gedichts, in der dritten Szene also, lässt Schiller den „Berges-Alten“ auftreten, die Gazelle schützen und die Ansprüche des „Knaben“ zurückweisen. Es erscheint die großartige Sentenz „Raum für alle hat die Erde“, die plötzlich das Gedicht mit einer unverändert gütigen, humanistischen, weltgeschichtlich und phiosophisch bedeutungsvollen Idee auflädt.

Der Gang der Ballade drängt nach einer Lösung, die zunächst offen bleibt. Schiller hätte den „Knaben“ abstürzen oder eine Bekehrungsgeschichte inszenieren können. Schiller gibt seinen finsteren Realismus nicht auf. Die Gazelle wird gerettet, was aber wird mit dem „Knaben“, wie wird er künftig handeln? Dies bleibt offen.

Der „Berges-Alte“ lässt sich übrigens Zeit. Die Gazelle zu retten, tritt er erst im allerletzten Moment auf. Ahnte Schiller etwas von unseren globalen Problemen? Wusste er, dass die „geduldige Natur“ erst provoziert werden muss, ehe sie sich äußert – und rächt?

Schubert komponierte das Lied „Der Alpenjäger“ 1817, 20-jährig. Der Komponist folgt dem Versbau. Es wechseln höherstufiges Dur und Moll, jegliche Ruhepunkte werden weitestgehend vermieden. Einmal weicht der Komponist von Schillers Bauplan ab. Denn während Schiller sein Formschema – die Strophenstruktur – unangetastet lässt, unterbricht Schubert das „zweite Strophenlied“ radikal durch eine Generalpause., und zwar gerade in dem Augenblick, da die Strophe die Tonart Ges-Dur erreicht und beim „Todesbogen“-Part zu einem Fortissimo explodiert. Ohne auch nur die Andeutung einer Modulation vorzunehmen, rückt Schubert die Tonart nach der Pause von Ges auf G; dies ist ein innovativer, gar ungeheurer, bis dato nie erlebter Vorgang. Selbst Beethoven hätte einen solchen kühnen Sprung nicht vermocht.

Der Schiller-Schubertsche „Alpenjäger“ ist ein Lied, dessen verblüffende Moderinität und Aktualität daraus resultieren, dass es quer zur Forderung der Genesis an den Menschen, über die Tierwelt „zu herrschen“ steht und in der Tradition der Zivilisationskritik Rousseaus sich bewegt.

„Nichts charakterisiert Schillers Gedichte so sehr wie die Einheit von Philosophie und Poesie, von Reflexion und Einbildungskraft, von seelischer Empfänglichkeit und energischer Gestaltung sowie der Versuch, im Individuellen das Allgemeine, im einzelnen Menschen das Gattungswesen zur Erscheinung zu bringen“, meint der Germanist und Philosoph Ernst Osterkamp. Dies lässt sich auch auf Schubert beziehen. So mag man diese durchaus nicht „romantischen“ Lieder des europäischen Romantizismus genießen. Häufig genug sind in ihnen ein Reichtum an Gedanken zu finden, ein berührendes modernes Weltverständnis, beeindruckende originelle Erfindungen, sehr Persönliches, sehr Kluges, sehr Artifiziell-Souveränes; glückliche, kühne Modernität und frappierende Aktualität; freier Umgang mit angeblich ewig gültigen, Akzeptanz heischenden Normen und immer wieder: Bekenntnisse zur Kunst und zum Leben – Bekenntnisse, die ungeachtet so vieler modischer theoretischer Konstruktionen auch weiterhin existieren und die womöglich heute wichtiger, ja notwendiger sind als vor zweihundert Jahren.

Sommertagung in Schillers Garten

Zwei Tage vor Goethes Geburtstag, am 26. August 2017,  führten wir unsere Sommertagung im Garten von Schillers Gartenhaus in Jena durch. Wir waren sehr glücklich über die Erlaubnis der Museumsleitung. Ihr gebührt unser nochmaliger Dank!

Tags zuvor hatten wir unser großes Festzelt errichtet, das uns während des vormittäglichen Regenschauers am Sonnabend vortreffliche Dienste leistete. Herr Schlotter führte die Erfurter und Geraer Goethefreunde in zwei Gruppen durch das Haus.

Benita Rockstroh, Iris Kunert  und Bernd Kemter lasen aus Schillers „Wallenstein“, entstand doch dieses Werk vornehmlich an diesem Ort. Es schloss sich ein Vortrag zu diesem Drama an. Renate Kette, Frau Müller und Dieter Schumann erfreuten mit musikalischen Beiträgen. Mittagessen und Kaffeetrinken gab es im Theatercafe. Sodann begrüßten wir eine „alte“ Bekannte, die Berliner Schauspielerin Cora Chilcott. Sie begeisterte uns mit Rezitationen und a-capella-Gesang „Erlkönigs Töchter“, mit Balladen von Goethe, Schiller, Herder, Bürger.

Ein gemütliches Beisammensein der ca. 40 Teilnehmer schloss sich an.

Stützerbach, Langewiesen, „Volle Rose“

Tagesausflug am 17. Juni 2017

Unsere zweite Fahrt in die Ilmenauer Region führte uns zunächst ins Goethehaus Stützerbach. In diesem Museum informierten wir uns über die Aufenthalte Goethes zwischen 1776 und 1779. Insgesamt verbrachte er 15 Tage an diesem Ort, mehrere Übernachtungen sind bezeugt. Es handelt sich um das Wohnhaus des Glashüttenbesitzeres Gundelach, bei dem Goethe und der Herzog Carl August Unterkunft fanden. Gern verweilten wir im „Goethezimmer“ mit Goethes Bildnisbüste, geschaffen von keinem Gerinegeren als dem Bildhauer Christian Daniel Rauch. Es handelt sich allerdings nicht um das Original, sondern um einen Gipsabguss. Das Interieur vermittelt einen schönen Eindruck von der Wohnkultur um 1800.

Wahre Schelmenstreiche sind überliefert. So ließen Goethe und der Herzog Weinfässer des Hausherrn den Hang hinabrollen. Eitel, wie er war, ließ Gundelach ein Porträt von sich malen. Goethe schnitt dessen Kopf heraus und steckte den seinigen hindurch. Er und der Herzog hatten ihren Spaß daran, Gundelach weniger. Einmal waren sie in der Gegend unterwegs und fragten in einem Bauernhaus, ob sie ein Glas Milch bekommen könnten. Die Bäuerin wusste nicht, wen sie vor sich hatte, und forderte sie auf, ihr beim Buttermachen zu helfen. Der Herzog in höchsteigener Person schlug die Butter. Währenddem entdeckte Goethe einen räudigen Kater. Nicht faul, warf er das Tier in das Butterfass. Tage später erschienen die Beiden wieder und legten reumütig ein Geständnis ab. Sie bedauerten den Kater und die verdorbene Butter. Die Bäuerin lachte nur und gab niederschmetternde Auskunft. „Ach, de Botter, die hach off Weimer getrohn, bei Hofe, die frassen alles!“

Das 2015 neu gestaltete Museum zeigt auch Exponate der traditionellen Papier- und Glasherstellung jener Zeit. Goethe zeigte sich – nicht zuletzt im Hinblick auf seine Farbenlehre – fasziniert. Er untersuchte Farbphänomene, wie sie beispielsweise bei einfallendem Licht durch schnell abgekühlte Glastropfen entstehen. Aus Stützerbach bezog Goethe auch veschiedene Papiere.

Viele Zeichnungen Goethes sind in und um Stützerbach entstanden. Manche widmete er Charlotte von Stein. In dieser Gegend arbeitete er an der Prosafassung des Schauspiels „Iphigenie auf Tauris“ und hing ersten Ideen für „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ nach. Natürlich sind literaturinteressierte Einheimische stolz darauf, dass in ihrer Heimat einige Goethe-Gedichte entstanden, so „Ilmenau“, „Dem Schicksal“ und „Einschränkung“.

An sich führten dienstliche Verpflichtungen die hohen Gäste in die Ilmenauer Gegend. Goethe begleitete den Herzog bei amtlichen Inspektionen und auf der Jagd. Trotz aller Späße und ausgelassenen Tanzvergnügungen mit hiesigen „Miseln“ (Mädchen) blieben Goethe die dürftigen, ja armseligen Lebensbedingungen der Menschen nicht verborgen. Er äußerte sein Mitgefühl und bedauerte seine geringen Einflussmöglichkeiten, die Lage der Menschen im Thüringer Wald verbessern zu können.

Unsere zweite Station war das Heinse-Museum in Langewiesen. Der heute weitgehend vergessene Dichter wurde in diesem Ort 1746 als Sohn des Organisten, Stadtschreibers und späteren Bürgermeisters geboren. Er erwies sich frühzeitig als großes Talent in den Naturwissenschaften, in sprachlicher und musikalischer Hinsicht. Er lernte Christoph Martin Wieland kennen, über ihn befreundete er sich mit Ludwig Wilhelm Gleim in Halberstadt, der sein Mäzen und väterlicher Freund wurde. Heise gründete mit Freunden den „Halberstädter Dichterkreis“. 1774 erschien sein erster Roman „Laidion oder die „Eleusinischen Geheimnisse“. Im gleichen Jahr wurde er bei den Brüdern Jacobi in Düsseldorf Redakteur der Frauenzeitschroft „Iris“. Ebenfalls im gleichen Jahr kam es bei Wuppertal zu einer Begegnung mit Goethe. Der spendete dem „Laidion“ höchstes Lob: „Es ist so vieles darin, das nicht anders ist, als ob ich’s selbst geschrieben hätte!“

In dieser Zeit verfasste Heinse seine „Düsseldorfer Gemäldebriefe“, die Wieland in seiner Zeitschrift „Teutscher Merkur“ veröffentlichte.

1780 trat Heinse seine dreijährige Italienreise an. Hier entstand sein wohl berühmtester Roman „Ardinghello und die glückseligen Inseln“.

Nach seiner Rückkehr bekleidete Heinse das Amt des Vorlesers und Bibliothekars des Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal in Mainz. Hier lernte er den Mediziner und Naturforscher Samuel Thomas Sömmering, den Universitätsabibliothekar, Weltreisenden und Jakobiner Gorg Forster sowie den Schweizer Historiker und Kanzler von Kurmainz, Johannes Müller, kennen. In Mainz schrieb Heinse seinen Musikroman „Hildegard von Hohenthal“. 1803 entstand sein letzter Roman „Anastasia und das Schachspiel“. Heinse starb 1803 in Aschaffenburg. Wie groß man ihn seinerzeit schätzte, wird schon an der Tatsache deutlich, dass ihm der bayrische König Ludwig I. einen Ehrenplatz – eine Büste – in der Walhalla zu Regensburg einräumte.

Den Museenbesuchen schloss sich eine Fahrt ins Schaubergwerk „Volle Rose“ sowie eine Fahrt in der Feldbahn durch idyllische Schortental an. Ein gemütliches Beisammensein in der Ausflugsgaststätte „Riechheimer Berg“ beschloss den ereignisreichen Tag.

Der Koran ist groß, streng und furchtbar – zur Aktualität des Goethe’schen Islam-Verständnisses

Vortrag von Dr. Manfred Osten, Bonn, am 6. Juni 2017

Friedrich Nietzsche behauptete, Goethe sei „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen“. Dies stimmt natürlich so nicht. Er hat sich auch im 21. Jahrhundert keinesfalls „ausgelebt“, er hält vielmehr zahlreiche Überraschungen bereit. Und er favorisierte eine Lernkultur im Hinblick auf fremde Kulturen. Ganz in diesem Sinne ist sein „West-Östlicher Divan“ geschrieben, der 1819 erschien.

Der Koran spielt darin eine große Rolle. Er ist nach Goethes Ansicht groß, furchtbar, stellenweise aber auch erhaben. Divan heißt ein Gespräch weiser Menschen. In diesem Sinne gilt es, die hiesigen Bildungszustände bei uns zu bewahren.

Aber es gibt große Probleme, kommt bei diesen „weisen Gesprächen“ der Koran ins Spiel. In der 2. Sure heißt es nämlich: „Es gibt keinen Zweifel an diesem Buch.“ Der Mensch müsse sich also der Weisheit dieser Schrift unterwerfen. Ursprünglich gab es gar keine schriftliche Überlieferung, denn Koran heißt „Mündlicher Vortrag“. Ein autonomer Leser bleibt ausgeschlossen. Es handelt sich um ein theopoetisches Werk, dichterische Aspekte spielen also eine wesentliche Rolle. Dennoch bleibt der Koran in allen Belangen verbindlich.

Die absolute Dominanz des Mündlichen ist das eigentliche Problem. Ohne diakritische Zeichen wäre die arabische Schrift überhaupt unverständlich, sie bleibt unvollkommen, nur die mündliche Wiedergabe ist eindeutig. Bei der Niederschrift sind daher viele Fehler entstanden. Aus diesem Grund hat Atatürk die arabische Schrift abgelehnt, weil sie solche Probleme verursacht. Diese Tatsache wurde auch schon von Goethe erkannt.

1798 gab es eine große Schlacht der Mamelucken gegen napoleonische Truppen. Trotz zahlenmäßiger Übermacht erlitten die muslimischen Streitkräfte gegen die modernen westlichen Kanonen und Gewehre eine vernichtende und zugleich beschämende Niederlage. Sie bedeutete eine große Kränkung des Islam. Dies setzte sich fort über andere Debakel bis hin zum Sechs-Tage-Krieg. Schon zu Goethes Zeiten folgte auf diese Trauma eine radikale Reaktion. So forderte der arabische Gelehrte Wahhab nach der Schlacht bei den Pyramiden nicht etwa eine Modernisierung, wie sie China und Japan in Szene setzten, sondern eine Rückbesinnung auf die siegreiche Geschichte des Propheten. Dabei sollte der Koran wieder streng ausgelegt werden. In jüngster Zeit fügte der Terrorist Abdul Rahman al-Kaduli zu den fünf Glaubenspfeilern des Islam einen sechsten hinzu: den kriegerisch verstandenen Dschihad. Alle Gewaltexzesse sind somit legitimiert durch das Wort des Propheten.

Vor 200 Jahren gab es schon Vermittlungsversuche. So wandte sich Wilhelm von Humboldt gegen die eurozentristische Belehrungsgesellschaft hin zu einer universalen Lerngesellschaft. Und Goethe sah im Islam auch das Erhabene, Bewundernswerte. Er anerkannte den Propheten als große schöpferische Gestalt. Er verfasste einen Hymnus, der Prophet entspringe einem reinen Quell im höchsten Gebirge, aus dem sich in der Ebene ein Fluss bilde, an dessen Ufern große Städte und Reiche entstehen.

Goethe plante auch ein Schauspiel: „Mahomet“. Damit wollte er zugleich Front gegen das schmähende Werk „Mahomet“ von Voltaire beziehen. Goethe zeigte sich empört: Voltaire habe kein Recht zur Blasphemie. Im deutschen Strafrecht gibt es übrigens bis heute einen entsprechenden Paragrafen (166). Dennoch hat Goethe Voltaires Werk übersetzt, allerdings diffamierende Stellen weggelassen oder geglättet.

Durch seine Bekanntschaft mit dem persischen Dichter Hafis, wobei Hafis ein Ehrentitel ist und soviel bedeutet wie „der den Koran auswendig kennt“, wurde Goethe zum „West-Östlichen Divan“ inspiriert. In der Rangerhöhung der Vernunft (Aufklärung) sah Goethe eine Gefahr für die Welt. Sie habe den Glauben zerstört. Der Glaube sei aber das Mittel gegen die „Krankheit zum Tode“. Symbolisiert ist dieser Sachverhalt im „Faust“ in der Figur der Sorge. Sie erscheint Faust und lässt ihn erblinden. Sorge lässt also „blind“ werden für elementare Existenzbedingungen des Menschen. Aber in Gottes Haus führen viele Wege, nicht nur die Vernunft, sondern gerade und auch der Glaube. Aber der Glaube wurde mutwillig zerstört. Dagegen nimmt nun Goethe einen Gedanken aus der zweiten Sure auf, wenn er schreibt:

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.

Goethe übernahm den Toleranzgedanken in seinen Maximen und Reflexionen sowie in den Noten und Abhandlungen aus dem Divan. Toleranz heißt für ihn Anerkennen, denn bloßes Dulden sei eine Beleidigung.

Im Gegensatz zum orientalischen Raum werde bei uns die Macht erodieren. Das christliche Memorial werde abgeschafft, wie es im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses Anfang des 19. Jahrhunderts tatsächlich geschah. Somit befürchtet Goethe sinngemäß: Ohne Herkunftskenntnisse gibt es keine Zukunftskompetenzen. Hierzu spricht Nietzsche von „gedächtnislosen Legionären des Augenblicks“. Ins Heutige formuliert: Memorialkultur wird ersetzt durch digitale Demenz.

Es entsteht eine gefährliche Situation, wenn wir all diese Dinge aufgeben. Entscheidend für Goethe war im Hinblick auf Hafis: Jener war Poet, ihm fühlt sich daher unser größter deutscher Dichter eng verbunden. Das Poetische eröffnet hierbei die Chance auf eine Humanisierung der koranischen Lehre. Hafis hat dies selbst erlebt. Verherrlichte er in seinen Gedichten solche anrüchigen Dinge wie Eros, Wein und Rausch, wusste ihn eine religiöse, wohlmeinende Autorität immer wieder zu retten. Und schließlich gibt es die Vertreter persischer Mystik, die ohne Koran und Propheten den Weg zu Gott finden. Die Sufis gehören dazu. Hier kommt auch die Symbolik des Atemholens ins Spiel, das lebenserhaltende göttliche Wirkungen beschreibt:

„Im Atemholen sind zweyerlei Gnaden:

Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich presst.

Und dank‘ ihm, wenn er dich wieder entlässt.“

Wielands mexikanische Geschichte von Koxkox und Kikequetzel

 

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen, am 2. Mai 2017

Die bezaubernde mexikanische Wieland-Geschichte von Koxkox und Kikequetzel war als kommentierte Neuausgabe ein Gemeinschaftswerk zwischen Dr. Bertold Heizmann und Bernd Kemter, Vorsitzende der Goethe-Gesellschaften in Essen und Gera/Erfurt. Dr. Heizmann hatte zur Erzählung selbst einen Aufsatz „Wielands Rousseau-Schriften“ verfasst, der an die Erzählung anschloss. Kemter besorgte das Vorwort, das Glossar und die satztechnische Herstellung, Elke Sieg, Geschäftsführerin der Geraer Goethe-Gesellschaft, steuerte Scherenschnitte bei.

Dr. Heizmann ging in seinem Vortrag zunächst auf Wielands Geheime Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens ein. In dieser Reihe findet sich gleich an erster Stelle die mexikanische Geschichte. Es folgen: Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen, Über die von J. J. Rousseaus vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken, Über die Behauptung, dass ungehemmte Ausbildung der menschlichen Gattung nachteilig sey, Über die vorgebliche Abnahme des menschlichen Geschlechts, Reise des Priesters Abulfauaris ins innere Afrika, Die Bekenntnisse des Priesters Abulfauaris gewesenen Priesters der Isis in ihrem Tempel zu Mefis in Nieder-Ägypten.

Unter „Geheim“ wurde zu damaliger Zeit das verstanden, was sich empirischer Forschung entzieht, mithin spekulativen Charakter entfaltet. Wieland pflegte wiederum einen humorvollen Stil – dies bei durchaus ernster Absicht. Die Frage nach dem Ursprung des Menschengeschlechts durchzog in intellektueller Debatte das gesamte 18. Jahrhundert. Daher ist Rousseau so eminent wichtig.

Dabei wandte sich der französischsprachige Genfer Philosophe durchaus gegen aufklärerische Absichten. Um seine Auffassungen darlegen zu können, nutzte er die Gelegenheit, sich an zwei Preisschriften zu beteiligen. Die erste Frage lautete, ob der Aufstieg der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen haben, die Sitten zu reinigen (mithin, den menschlichen Fortschritt zu befördern). Während Aufklärer dies bejahten, wurde die Frage von Rousseau verneint. Dies war zu damaliger Zeit durchaus ein skandalöses Unterfangen.

Die zweite Preisfrage eröffnete den Diskurs über den Ursprung des Menschengeschlechts und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.

Wieland schuf hierzu besagte Erzählung, gestaltete sie als heitere Plauderei. Er ging dabei der Frage nach, welcher Zustand denn vor jeglicher Staatsordnung herrschte und wie die Gründung von Staaten später verlief. Exotische Länder rückten immer mehr in den Blickpunkt. Dabei entstand auch der Begriff vom „guten“ oder „edlem Wilden“. Hierzu verwies Heizmann auf den romantischen Roman Atala von Chateaubriand, auf die Persischen Briefe Montesquieus, Diderots Diskurs Supplement au voyage de Bougainville und Voltaires Roman L’ingenu.

Ihre Gedanken waren von Überzeugungen der Dekadenz bestimmt: Vormals war das Leben besser, nunmehr seien die Sitten verkommen. Es müsste jedoch im Abendland einmal ein Zustand geherrscht haben, in dem der Mensch seine positiven Eigenschaften leben konnte. Dies müsse der status naturalis gewesen sein. Archaische Vorstellungen erinnern daran: Paradies, Goldenes und silbernes Zeitalter, aber auch Menschenalter- und Jahreszeiten-Analogien: Frühling, Sommer, Herbst und Winter des Lebens eines Menschen.

Bei dem englischen Philosophen Thomas Hobbes liest sich das allerdings völlig anders. Er betrachtete den status naturalis als etwas Schlechtes, als einen Zustand, der überwunden werden müsse. Hier sei der Mensch des Menschen Wolf gewesen, es habe Krieg aller gegen alle geherrscht. Allmählich seien die Menschen jedoch vernünftig geworden, hätten sich, um zu überleben, Gesetze gegeben und Staaten gegründet, die nun die alleinige Macht ausübten: die Möglichkeit des Missbrauchs durch den jeweiligen Souverän eingeschlossen. Falle der Mensch in den Naturzustand zurück, könne er auch nicht mehr im Bunde mit der Gottheit sein.

Der deutsche Philosoph Immanuel Kant meinte, der vorherige Zustand sei tierisch gewesen, der Mensch habe sich am „Gängelwagen des Instincts“ befunden. Der Mensch stand unter Vormundschaft der Natur, befand sich im Zustand der Unfreiheit. Erst nach dem Sündenfall habe er zur Vernunft gefunden. Somit sei der Sündenfall notwendig gewesen, er habe das Licht zur freiheitlichen Entwicklung des Menschengeschlechts angezündet.

Welche Rolle spielt nun Wieland in dieser Debatte?

Seine Geschichte beginnt mit einer Überschwemmung (Sintflut) in Mexiko, die nur sehr wenige Menschen überleben, die zudem lange Zeit nicht zueinander finden können. So bleibt Koxkox zunächst allein. Nun versteckt Wieland seine Ansichten über die eingangs erwähnten Preisfragen hinter seinem erfundenen Gewährsmann, den mexikanischen Philosophen Tlantlaquakapatli. Koxkox erweist sich als gut, naiv, von keiner Gesellschaft verdorben. Auch Kikequetzel ist Naturkind, auch, wenn sie wie Koxkox durchaus nicht bei Punkt Null beginnt. Schließlich haben sie schon unter Menschen gelebt, einiges an Kenntnissen und Erfahrungen mitgenommen. Beide finden sich und fassen Zuneigung zueinander. Nun entwickelt Wieland den Gegensatz zwischen Natur/Natürlichem und Kunst/Künstlichem/Gekünsteltem. Er versucht zu vermitteln: „Es gibt eine Kunst, welche die Werke der Natur wirklich verschönert und eine andere, welche sie unter dem Vorwande der Verbesserung oder Ausschmückung verunstaltet.“

Rousseau vetrat die Ansicht, der Mensch sei dem Tier in vielen Belangen unterlegen, allerdings verfüge er über die Fähigkeit zur Vervollkommnung.“ Andererseits übe die Vernunft auch einen verhängnisvollen Einfluss auf den Menschen aus, sie entfremde ihn immer mehr von der Natur.

Dies zeigt sich ebenso an der Sprache. Der Naturmensch kommt mit der „Sprache des Herzens“ aus. Erst im Zusammenleben wächst die Notwendigkeit, eine begriffliche Sprache herauszubilden.

Der „glückliche Naturzustand“ währt nicht ewig. Daher muss Wieland die Handlung erweitern, um die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft darzustellen – beispielsweise die Entstehung des ersten Krieges.

Ein anderer Mann betritt also die Szene. Kikequetzel fühlt sich sofort zu ihm hingezogen, der so ganz anders ist als ihr Koxkox. Ist jener roh, barbarisch, von herkulischer Gestalt, so ist dieser empfindsam, zart von Gefühl und Wuchs. Der Anlass des Streits ist ein denkbar lächerlicher: Während sich Koxkox mit blauen Federn schmückt, bevorzugt sein Widersacher gelben Kopfschmuck und bekommt ihn von Kikequetzel auch sogleich verpasst. Es entsteht Eifersucht, wie sie nur in monogamen Gesellschaften möglich sind. So verfällt die kleine Gesellschaft in den Hobbe’schen Kriegszustand. Beide Männer schlagen sich, Koxkox unterliegt und flieht. Nach geraumer Zeit kommt er zurück, allerdings in Begleitung von zwei Mädchen und ihrer Tante, die ihm unterwegs begegnet sind. Mittlerweile hat Kikequetzel ihr Tun bereut. Es entsteht eine vergrößerte Gemeinschaft, in der Zwietracht und Hader herrschen.

So erfüllt sich Rousseaus Abfolge, die das Leben eines einzelnen Menschen genauso widerspiegelt wie die Entwicklung der menschlichen Gemeinschaft: Kindesalter (Natürlichkeit), Adoleszenz, Mannesalter, Greisenalter.

Wieland meint, die Menschen seien nicht dazu gemacht, ewig Kinder zu bleiben. Es liegt in ihrer Natur, durch einen langen Mittelstand von Irrtum, Selbsttäuschung, Leidenschaften und daraus entspringendem Elend zur Entwicklung und Anwendung ihrer höheren Fähigkeiten zu gelangen.

Ein weiterer Aspekt. Im 18.Jahrhundert beschäftigte man sich mit Menschen, die frei in der Natur aufgewachsen waren, sich tierisch verhielten. Beschrieben wurden solche Fälle beispielsweise von dem Arzt Dr. Jean Itard, der einen solchen jungen Menschen betreute und einen Bericht darüber herausgab: Mémoire et rapport sur Victor l´ Aveyron. 1970 wurde dieser Dokumentarbericht von Francois Truffaut unter dem Titel Der Wolfsjunge verfilmt.

Man wollte auch herausfinden (Versuche gab es schon unter einem ägyptischen Pharao und unter dem Stauferkaiser Friedrich II.), ob ausgesetzte Kleinkinder in der Wildnis überleben konnten und ob sie eigenständig Sprachen lernen konnten, ohne dass man es ihnen beibrachte. Die Kinder überlebten nicht. Und welche Wesen würden wohl aus Verbindungen von Orang-Utans und „Negermädchen“ entstehen?

Wieland lehnte solche Experimente ab. An den Schluss seines Essays setzte er das Traumgespräch mit Prometheus. Dieser sei der Erfinder der Wissenschaften und habe somit letztlich auch die Korruption eingeführt. Auch geht Wieland der Frage nach, wie denn das Unheil überhaupt in die Welt gekommen sei. Durch die Büchse der Pandora, lautet Prometheus‘ Antwort. Wieland will es nun genauer wissen, doch es misslingt, denn – er erwacht. Bei weiterem Grübeln verfällt er auf die zunächst kuriose Idee, die Büchse der Pandora sei nichts weiter als – die Schminkbüchse! Denkt man weiter, so wird klar, dass mehr gemeint ist, nämlich alles Künstliche, das Gekünstelte, das die Natur verfälscht. So schließt sich der Kreis.

Studienfahrt „Auf Goethes Spuren im Harz“

Das Programm unserer Studienfahrt „Auf den Spuren Goethes im Harz“ vom 19. bis 23. April war dank der ausgezeichneten Organisation von TRI TOURS Reisebüro prall gefüllt, dabei abwechslungsreich und voller schöner Eindrücke.

Dies begann schon im Gleim-Haus in Halberstadt. Uns beeindruckte insbesondere der „Freundschaftstempel“ mit Gemälden vieler zeitgenössischer Freunde. Schon zur damaligen Zeit war diese Sammlung ein vielbeachtetes Kleinod für die literaturwissenschaftliche Forschung. Letzten Endes ist der Freundschaftsgedanke ja auch zwischen den Erfurter und Geraer Goethefreunden lebendig, wie sich in puncto Geselligkeit wieder einmal zeigen sollte. Auch die umfangreiche Korrespondenz Gleims mit Personen der Zeitgeschichte erweist sich als wahre Fundgrube für die Literaturwissenschaft, und diese Fundgrube mit Tausenden Briefen ist noch nicht einmal umfänglich erschlossen. Die meisten von uns  nutzten die Chance, noch einen Blick in den Dom samt Domschatz zu werfen.

Anschließend besuchten wir Schloss Langenstein, in dem heute eine Spezialklinik für autistische Menschen untergebracht ist. Hier weilte Goethe im September 1783 für einige Tage bei der „schönen Frau“ Antonia de Branconi. Sie war bereits mit zwölf Jahren verheiratet worden, wurde mit 20 Witwe und sodann Geliebte des Erbprinzen von Brauunschweig, zugleich aber von dessem Vater mit Anträgen überschüttet. Goethe indes ließ sich nicht verführen, hielt er doch der von Stein unverbrüchliche Treue. Wir besichtigten die beiden wunderschönen Schauräume und gönnten uns einen Spaziergang durch den idyllischen Park. Für eine Besichtigung der berühmten Höhlenwohnungen fehlte allerdings die Zeit.

Die Teufelsmauer bei Neinstedt war gar nicht so leicht zu finden. Fast hätten wir das gleichnamige Areal bei Blankenburg besucht, aber dort war Goethe ja nicht gewesen. Der steile Aufstieg bei Neinstedt lohnte sich. Bizarre Felswände erwarteten uns, die die Phantasie beflügelten. Auch den Goethestein entdeckten wir, er wurde sofort zum begehrten Fotomotiv.

Am nächsten Tag unternahmen wir unsere erste Tour durch den Harz, hier stand uns für zwei Tage Frau Evi Römer als kundige Reisebegleiterin zur Seite. Die Iberger Tropfsteinhöhle stand als erster Punkt auf dem Programm. „Die Millionen Jahre alte Höhle liegt tief im Kalk des einstigen Riffs“, heißt es im Begleitheft. „Versteinerte Meeresbewohner aus uralten Zeiten sind hier zu finden. Mit ihren beeindruckenden Sinterkaskaden und mächtigen Bodentropfsteinen erleben Kinder die faszinierende Unterwelt als märchenhaftes Reich des gutherzigen Zwergenkönigs Hübich, welcher der Sage nach mit seinem Volk im Iberg lebt.“

Leider war der Anstieg für manche von uns zu steil, dies traf ebenso auf die Rübeländer Tropfsteinhöhle zu. Dem Vernehmen nach haben sich die Draußen Gebliebenen jedenfalls nicht gelangweilt.

Der nächste Tag führte uns nach Stolberg, Bad Lauterberg, Braunlage, Elend, Königshütte und Rübeland. Höhepunkt war dort die Besichtigung der Baumannshöhle, die Goethe wiederholt besucht hatte. Unzählige Stalaktiten und Stalagmiten ziehen sich an den Gängen entlang. Auch hier war wieder Phantasie gefragt; wer wollte, konnte in den Gebilden so manche Figuren, Gesichter und anderes entdecken. Der „Goethesaal“ ist alljährliche Kulisse für Theateraufführungen und Konzerte. Entdeckt wurde die Höhle von einem Bergmann namens Baumann, der auf der Suche nach Erzen tagelang im Dunkeln umherirrte, ehe er wieder den Ausgang fand. Aber dieser Geschichte haftet auch viel Legendenhaftes an, wie unser Bergführer vermerkte.

Einen völlig anderen Eindruck vermittelte uns das Schaubergwerk Rammelsberg. Auch dort war Goethe schon zu Gast. Wir erlebten eine Fahrt mit der Grubenbahn, besichtigten sodann den sogenannten 19-Lachter-Stollen, erhielten einen Eindruck von Vortrieb, Holzausbau, Abbau- und Fördertechnik, Sprengmethoden und Entwässerung. Hier wurden bis zur politischen Wende verschiedene Metallerze gewonnen: Kupfer, Mangan, Eisen, Blei und in geringen Mengen auch Gold und Silber. Eine Stadtführung durch Goslar, ein Besuch der Kaiserpfalz schlossen sich an. Am Abend erwartete uns ein Programm „Harzer Hexenwelten mit Goethe und Heine durch den Harz“, bei dem unsere Vera eine wichtige Rolle mitspielte.

Bei einem Harzbesuch dürfen natürlich weder Brocken noch Rosstrappe und Hexentanzplatz fehlen. Alle diese Orte sind mit Goethe und seinen Werken, hier ist natürlich vor allem der „Faust“ zu nennen, verbunden. Während der Busfahrt beschäftigten wir uns aber auch mit Goethes Gedicht „Harzreise im Winter“. Damals, 1777, führten ihn bergbauliche Erkundungen ins Gebirge, aber ebenso ein an Weltschmerz leidender junger Mann, namens Plessing. Den hatte die Lektüre des „Werther“ zu dieser Gemütslage geführt. Goethe konnte Plessing kaum trösten, der kurze Besuch unter anonymem Namen blieb folgenlos. Wohl aber genas Plessing nach einiger Zeit.

Die Zugfahrt war recht kurzweilig, die meisten von uns begaben sich auf den etwa zwei Kilometer langen Rundweg um den Brocken. Am Abend erlebten wir Unterhaltung mit dem „Harzwaldecho“. Es wurde ausgiebig getanzt, gelacht, die Stimmung war prächtig. Im Übrigen wurde während der Abende und im Bus viel gesungen, wir hatten viel Spaß und Freude dabei.

Am Sonntag begrüßte uns in Thale Seilbahnhexe „Gondolina“ und ihr „Liftikus“. Mit den modernen 2er-Sessellifts ging es hoch auf den Berg, wo wir in einem Multimedia-Raum die Sage von der Rosstrappe erlebten. Eine kleine Wanderung mit Besuch des Goethefelsens im Bodetal schloss sich an. Und wieder ging es hoch hinauf, diesmal mit der geschlossenen Kabinenbahn zum Hexentanzplatz.

Danach traten wir die Heimreise an. Busfahrer David, umsichtig wie immer, brachte uns wohlbehalten nach Erfurt und Gera zurück.

Stimmen zu unserer Studienfahrt:

Ich fand unsere Harzreise sehr sehr schön, wie so vieles, das wir gemeinsam unternehmen. Die Mehrtagesausflüge geben uns ja Gelegenheit, uns noch ein wenig besser kennen zu lernen als bei Vorträgen oder Tagesexkursionen. Ganz besonders haben mir der Aufstieg zur Teufelsmauer und unser fröhlicher Tanzabend gefallen. Aber auch die anderen Sachen waren sehr beeindruckend, ob Seilbahnfahrt zum Hexentanzplatz oder Besuch der Tropfsteinhöhle in Rübeland, ob die herrlichen Stolberger, Wernigeröder und Goslaer Fachwerkhäuser oder das Abtauchen in die mühevolle Arbeitswelt der Bergleute in Rammelsberg. Der Brocken hat mir Erinnerungen an meinen Vater gebracht, der Ende der 1950er Jahre mit seinen Berufsschülern noch auf dem Brocken war, ehe er 1961 als Grenzgebiet für Touristen gesperrt wurde. Die Rosstrappe, Baumannshöhle und Teufelsmauer führten mich zurück in meine Kindheit. Im Frühjahr 1966 war ich zur Kur im Postkinderheim „Hanno Günther“ in Blankenburg. Von dort aus unternahmen wir etliche Ausflüge, und auch das Harzer Heimatlied „Wo dunkle Tannen stehen hoch auf Bergeshöh’n..“ hatten wir Kinder damals gelernt. Ich hatte es fast vergessen, aber die Musikusse vom „Harzwaldecho“ haben es wieder zurück gebracht in meine Kehle und meinen Kopf. Der ist nun angefüllt mit neuen Erinnerungen, und das sind zu 99 Prozent positive, auch dank unseres netten Busfahrers David, der Reisebetreuer und Hotelleute in Güntersberge, dank der guten Organisation durch das Geraer Reisebüro Tri Tours und natürlich wegen euch allen aus Gera und Erfurt, die ihr mit dabei gewesen seid. Ich freue mich schon auf den nächsten Ausflug mit euch.

Angelika

Liebe Geli, lieber Bernd,

„Leuchtende Tage, nicht weinen, weil sie vorüber, sondern lächeln, weil sie gewesen“.

Die Reise bot soooo viel Interessantes, Wissenswertes und Beeindruckendes.

Habt vielen, lieben Dank für die Mühe. Ihr beide habt uns allen wieder

schöne Tage erleben lassen.

Fühlt Euch dafür umarmt von Vera, die Euch auch ein Küßchen auf die Wange

drückt.  Ist doch nicht ehrenrührig – oder?

Vera

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Liebe Angelika,lieber Bernd,

nochmals vielen Dank für die Organisation unserer Harzreise.

Vieles konnten wir sehen und erfahren,was allein nur mit großem Aufwand möglich ist.

Sckön waren auch die gemeinsamen „Freizeitaktivitäten“am Abend.

Bis zum nächsten Wiedersehen seid herzlich gegrüßt.

Marie

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Anna Amalias Hof als Bühne der Kunst

Vortrag von Dr. Annette Seemann, am 4. April 2017

Anna Amalia kümmerte sich schon früh um kulturelle Belange, schon damals gab es ein Liebhabertheater. Auch mit Regierungsantritt ihres Sohnes Carl August blieben sowohl Sprech- als auch Musiktheater vom Ideal der Antike geprägt: Theater sollte belehrend und unterhaltsam sein.

Die scharfe Kritik des Preußenkönigs Friedrich II. mit seinen Zweifeln an der Qualität der deutschen Sprache hinsichtlich literarischer Produktionen bezieht der Weimarer Hof auf sich. Er entwickelt neue Theaterformen und wurde damit vorbildlich für ganz Deutschland. Anna Amalia fand bereits ein Hoftheater vor. Der Saal war allerdings zu klein, verfügte allerdings über einen Orchestergraben, in dem 22 Musiker Platz fanden. Aus Kostengründen spielten jedoch nur zwölf Musiker. Anna Amalias Gemahl, Herzog Ernst August II., aus Gotha stammend, gründete das Hoftheater neu, eingeschlossen jene zwölf Musiker. Es gab auch eine Theatertruppe. Im März 1757 verfügte die Herzogin über 20 Schauspieler. Da sie auf ihre geliebte italienische und französische barocke Oper wegen des großen Aufwandes verzichten musste, entwickelte sie eine Vorliebe für heimische Singspiele. Christian Felix Weiße (Librettist) und Johann Adam Hiller (Komponist) in Leipzig wurden beauftragt. Auch der Komponist Johann Ernst Bach wurde einbezogen. Ebenso wurde Corona Schröter engagiert.

Der Anspruch an die Musiker war enorm: Sie mussten alle Schauspiele mit Pausenmusik bestreiten, hinzu kamen Singspiele, Tafel- und Kirchenmusik sowie Hofkonzerte. Aus Braunschweig wurde die Koch’sche Theatertruppe herangezogen. Hofmarschall von Witzleben übernahm die Führung. Alle begabten Mitglieder des Hofes, aber auch Bürgerliche, mussten mitwirken. Komische Singspiele spielten die wichtigste Rolle.

Als der Herzog, Anna Amalias Gemahl, früh starb, wurde die Hofkapelle wegen der Trauerzeit zunächst aufgelöst. Nur der Tanzmeister durfte seine Stelle behalten, denn den beiden Prinzen Carl August und Constantin musste Unterricht erteilt werden. Nach der Trauerzeit umfasste die neue Hofkapelle acht Personen. Ein Kreis von Laien wurde einbezogen, die Herzogin selbst musizierte mit. Der Siebenjährige Krieg blutete auch das Weimarer Herzogtum aus. Dennoch gab es ab 1768 die besagte Koch’sche Theatertruppe. Es entstanden mehrere deutsche Singspiele, beispielsweise „Der Teufel ist los“ oder „Die Liebe auf dem Lande“. Es entstanden 16 Lustspiele und zehn Tragödien. Sie wurden von Hiller aufgeführt und anderenorts nachgespielt. Anna Amalia glaubte an den erzieherischen Wert der Bühne, daher hielt sie Weimarer Bürger dreimal in der Woche mit abzuholenden Billetts frei. Ihre Initiative war einzigartig, ohne Beispiel.

1771 kam die Herzogin mit ihren Söhnen erstmals wieder nach Braunschweig. Sie lernte dort den Bibliothekar Lessing kennen.

Jetzt kommt Anton Schweitzer ins Spiel. Er war als Musiker in Italien gewesen. Die Herzogin hatte sich schon immer nach Italien gesehnt, um dort Musik zu erleben. Bislang war ein Besuch jedoch nicht möglich gewesen. Schweitzer war ihr daher besonders wichtig. Der am Hof alteingesessene Hofkapellmeister Ernst Wilhelm Wolf wurde daher bald sein Rivale. Musikalische Aufträge stellten sich ein. In jener Zeit wurde Christoph Martin Wieland Prinzenerzieher. Er sollte jedoch auch Stücke schreiben, auch mit Schweitzer etwas „aushecken“. So entstand die Idee zu „Alceste“, der vermeintlich ersten deutschen Oper. Es handelt sich aber eher um ein Singspiel mit antikem Stoff. Vier Rollen waren ihm zugedacht. Admet droht zu sterben; nach einem Orakel kann er gerettet werden, wenn sich eine Person für ihn opfert. Alceste, seine Gemahlin, ist dazu bereit und begibt sich in den Hades. Herkules, Admets Freund, erklärt sich bereit, Alceste zurückzuholen, was ihn durch seine Tapferkeit und seinen Edelmut auch gelingt. Dieses Stück hatte einen beabsichtigten erzieherischen Hintergrund: Insbesondere die Figur des Herkules sollte dem jungen Carl August Tugendhaftes, Vorbildhaftes aufzeigen. 1773 wurde es am Weimarer Hoftheater aufgeführt. Es gab viel Lob, aber auch Kritik. Zu den Kritikern gehörte der ferne Goethe. Er fand es unmöglich, dass Wieland in seinem „Neuen Teutschen Merkur“ das eigene Stück in höchsten Tönen bejubelte. Folglich entstand Goethes Parodie „Götter, Helden und Wieland“. Als sie Wieland las, verstand er die Lektion. Er bewies Größe, druckte Goethes Pamphlet in der nächsten Nummer des „Merkur“ ab. Sie freundeten sich wenig später sogar an. Goethe ging es um die Verweichlichung der Helden, seine Kritik richtete sich somit gegen den „französischen Stil“. All das fand er abscheulich. Wieland schuf 1773 ein weiteres Singspiel für Carl August „Herkules am Scheideweg“, Schweitzer hatte dazu komponiert. Die Hauptfigur trägt wieder Züge von Carl August.

1774 brannte das Weimarer Schloss. Die Theatertruppe zog nach Gotha, in Weimar gab es zunächst kein Theater mehr. Die Herzogin entwickelte ihr neues Konzept, wieder ein Liebhabertheater. Alle, die sie begabt fand, wurden einbezogen, Adlige und Bürger, Alt und Jung. Anlass der Neugründung war die Rückkehr Carl Augusts von seiner Kavalierstour. Er brachte seine Braut, Luise von Hessen-Darmstadt mit. Man wollte ihn 1775 mit Voltaires Stück „Nanine“ empfangen, und zwar in Hauptmanns Haus an der Esplanade. Eine Bühne wurde aufgebaut, die man später wieder „abschlagen“ konnte. All dies verursachte weitere Kosten, die die Herzogin aus ihrer Privatschatulle bestritt. Carl August trug später drei Viertel der Kosten, sie den Rest.

Wenig später kommt Goethe nach Weimar. Doch diese Bühne gefällt ihm nicht. Für ihn wurde sie verändert. Am 30. Januar 1777, zu Herzogin Luises Geburtstag, wurde Premiere eines Goethe-Stückes gefeiert. Sie sollte durch die Theatervorführung von ihrem „Liebeswahn“ geheilt werden, so die Absicht. 1779 wurde „Iphigenie“ aufgeführt. Goethe schlüpfte in die Rolle des Orest, Corona Schröter spielte die Iphigenie. Es folgen „Erwin und Elmire“ sowie „Das Jahrmarktsfest zu Plundersweilern“. Zum Spielplan gehörten neben diesen Stücken weiterhin „Nanine“, „Adelaide“, „Der Postzug“, Das Milchmädchen und die beiden Jäger“. Im „Hofmeister“ spielte der später sehr berühmte Arzt Hufeland die Hauptrolle. Ab 1777 fanden – wie erwähnt – Goethes Stücke immer mehr Zugang: „Erwin und Elmire“ und „Die Mitschuldigen“.

Corona Schröter war seit 1776 in Weimar, sie war die einzige professionelle Sängerin und Schauspielerin. Sie war auf Wunsch Carl Augusts gekommen, er hat sie auch sehr umworben. Ab 1777 gab es eine bescheidene Bühne auf der Ettersburg, sie war Anna Amalias Sommersitz. Es wurden bescheidene Schattenspiele aufgeführt. Wenig später wurde eine reguläre Bühne errichtet. Höhepunkt der Aufführungen war „Iphigenie auf Tauris“. Das Stück wurde 1779 auch im Hauptmann’schen Haus auf der Esplanade aufgeführt.Goethe spielte den Orest, Corona Schröter die Iphigenie, auch Prinz Constantin spielte mit. Anna Amalia setzte sich selbst in Szene. Es entstand auch eine Parodie zu „Alceste“. Darin: „Weine nicht, du Abgott meines Herzens“ wurde auf dem Posthorn intoniert. Über all das war Wieland sehr aufgebracht, er schrie Schmähworte und verließ den Saal, während die Herrschaften lachten.

1780 wurde ein Redoutenhaus als Theater errichtet – am Standort des heutigen. Die Bühne musste nunmehr nicht ständig auf- und abgebaut werden. Damit war aber auch die große Zeit des Liebhabertheaters vorbei. Goethe und Carl August erhoben nun den Anspruch auf Professionalität der Theaterkunst. Aufgeführt wurde zum Beispiel „Die Vögel“ von Aristophanes in Goethe’scher Übersetzung. Den letzten Todesstoß gegen das Liebhabertheater versetzte Friedrich II. mit seiner Schrift „De la literature Allemande“, in der sich über die Fehler der deutschen Sprache ausließ; sie sei für die Literatur gänzlich ungeeignet. Dies schrieb er mit Blick auf das Hoftheater seiner Nichte, Anna Amalia. Noch 1781 wurde in Tiefurt gespielt, auch das „Tiefurter Journal“ herausgegeben. Es gab allerdings nur elf Exemplare. „Die Fischerin“ und „Auf Miethings Tod“ fanden sich darin. Ebenso fand die Nachricht Erwähnung, dass Anna Amalias Perlhuhn sieben Eier gelegt habe. Doch spätestens mit der „Fischerin“ war das Interesse am Liebhabertheater erloschen. 1783 gab es noch eine Aufführung, ein Jahr später keine mehr. Eine professionelle Truppe wurde eingestellt. Anna Amalia konnte endlich italienische Opern hören. Ab 1790 gab es regulären Theaterbetrieb. Liebhabertheater wurde nur noch „punktuell“, nämlich im Wittumspalais der Herzoginmutter gespielt, und zwar bis 1800.

Im „professionellen Theater“ wurde zwar auch Goethe und Schiller gespielt, mehr aber Modeautoren jener Zeit: Kotzebue, Iffland, Hiller, Weise und Gotter. Insbesondere waren Komödien sehr beliebt. Etwa drei Viertel des Repertoires bestritt Kotzebue mit seinen Stücken, diese hat oft Goethe inszenieren lassen.

Meiningen: Elisabethenburg und Literaturmuseum Baumbachhaus

Tagesausflug am 25. März 2017

An diesem Sonnabend führten wir den zweiten Teil unseres Meiningen-Besuchs durch. Im Mittelpunkt standen das Museum Elisabethenburg und das Literaturmuseum Baumbachhaus. Zunächst durchstreiften wir die Elisabethenburg, machten uns mit der interessanten Geschichte verschiedener Herzöge, wie Bernhard I., Anton Ulirch, Georg I., Berhard II., Georg II., und Bernhard III. vertraut Und natürlich mit Adelaide, Prinzessin von Sachsen-Meiningen, spätere Königin von Großbritannien. Sie war Gemahlin von William IV, einem schon recht bejahrten Herrn.

Die Schlossräume erwiesen sich von auserlesenem Geschmack. So bewunderten wir Gemälde, Möbel, aber auch raffinierte Stuckaturen, textile Wandbehänge und wunderschöne Kachelöfen. Sie bezeugen einstige höfische Pracht. Dabei galt der kleine Meiningener Hof als Stätte hoher Bildung und Kultur, dessen herumziehendes Hoftheater Maßstäbe setzte und selbige auch durch seine Reisen direkt an europäischen Höfen vermittelte. Die Exponate zur Musik- und Theatergeschichte hinterließen davon einen tiefen Eindruck. Bekanntlich haben am Meiningener Musenhof berühmte Komponisten und Dirigenten gewirkt.Ausgesprochen gefallen hat uns ebenso der pittoreske Marmorsaal.

Sodann galt unser Besuch dem Literaturmuseum Baumbachhaus, wo uns interessante Erläuterungen durch den Leiter erwarteten. In diesem bescheidenen Haus wirkte der Schriftsteller und Dichter Rudolf Baumbach. Ihn verschlug es 1870 nach Triest. Dort wurde er Mitglied im Alpenverein. In dieser Zeit entdeckte er als begeisterter Bergwanderer auch sein literarisches Talent. Sein Versepos „Zlatorog“ fand begeisterte Aufnahme.Nach Meiningen zurückgekehrt, verband ihn als Mitglied der Künstlerklause bald eine enge Freundschaft mit dem Theaterherzog Ernst II.

Rudolf Baumbach zählte mit seinen vorwiegend heiter-burschikosen Gedichten, seinen Erzählungen und Versepen zu den Modedichtern der Kaiserzeit vor dem 1. Weltkrieg. Heute sind im deutschsprachigen Raum neben „Hoch auf dem gelben Wagen“ von ihm nur noch wenige, ebenfalls volksliedhaft vertonte, Texte populär, z.B. „Die Lindenwirtin“. In Slowenien kennt man Baumbachs Versepos „Zlatorog“ („Goldhorn“,  ein weißer  Gamsbock mit goldenen Hörnern,  Sagengestalt aus den slowenischen Alpen) in der landessprachlichen Nachdichtung durch Anton Funtek.

Wir konnten uns ebenso mit weiteren Literaten des Meiningener Landes vertraut machen, so mit dem Märchenerzähler Ludwig Bechstein. Sehenswert waren auch alte Meiningener Stadtansichten, , bibliophile Kostbarkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts, Porträts vom Klassizismus bis zur Gründerzeit.

Wieder waren wir im „Sächsischen Hof“ zu Gast, wo es Gutes zu trinken und zu essen gab. Eingeladen hatten wir an diesem Nachmittag die Berliner Schauspielerin Cora Chilcott. Sie begeisterte uns insbesondere mit Schiller-Balladen auf eine sehr ausdrucksstarke Weise, die alle Teilnehmer ansprach. Somit verlebten wir einen anregenden Tag.

Ästhetische Erziehung als Streitpunkt zwischen Dalberg und Schiller

Vortrag von Martin A. Völker, Berlin, am 2. März 2017

»Der Koadjutor, Freiherr von Dalberg, gehört zu den wenigen
Regenten in Deutschland, welche edel genug denken, um es zu
verschmähen, über Sklaven zu herrschen, und welche die Liebe und
Achtung freier Menschen zu verdienen wissen. […] Wie gewiß würde
jede gewaltsame Revolution verhindert werden, wenn nur solche
Männer auf unsern Thronen säßen und nicht immer die wenigen
Guten durch Weiber und Minister verdorben worden wären!«
Georg Friedrich Rebmann

»Den Coadjutor halte ich für einen gefährlichen Mitarbeiter.«
Christian Gottfried Körner

Sowohl die einfachen Bürger als auch die intellektuellen Eliten des späten 18. Jahrhunderts
konnten sich glücklich schätzen, daß in wichtigen gesellschaftlichen Teilbereichen und
Institutionen Vertreter der Familie Dalberg anzutreffen waren. In Mannheim leitete Wolfgang
Heribert von Dalberg (1750–1806) die Geschicke des Nationaltheaters. Mit seinem
Geschmack, seiner Bildung und seiner Beharrlichkeit erwarb er sich große »Verdienste um
die Deutsche Bühne«. Dalberg zeichnete für die am 13. Januar 1782 erfolgte Uraufführung
von Friedrich Schillers Drama Die Räuber verantwortlich und machte sich über Mannheim
hinaus als Theatertheoretiker und Bühnendichter einen Namen. Sein Bruder Friedrich Hugo
von Dalberg (1760–1812) wirkte als Schulreformer, Musiker und Schriftsteller. Er unterhielt
gute, teilweise freundschaftliche Beziehungen zu den Vertretern der Weimarer Klassik. Seine

musikschriftstellerischen Arbeiten bereiteten die Romantik vor. Carl von Dalberg (1744–
1817) ist zweifellos der bekannteste der drei Brüder.

Als Erfurter Statthalter, letzter Kurfürst-Erzbischof von Mainz, letzter Erzkanzler des Alten
Reiches und insbesondere als aufklärerisch gesinnter Schriftsteller wirkte Carl von Dalberg in
einer bewegten Epoche: Mit einem Denken, das sich an Ganzheitlichkeit orientierte, stemmte
er sich den Zersplitterungstendenzen seiner Zeit entgegen. Unablässig beförderte er den
Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, indem er sich einerseits als
wissenschaftlicher Autor und Diskutant betätigte und andererseits als politischer Entscheider
fortschrittliche wissenschaftliche und pädagogische Einrichtungen gründete und protegierte.
Noch im späten 19. Jahrhundert berief man sich auf den anregenden wie ausgleichenden Geist
Dalbergs. Theodor Fontane (1819–1898)11 schrieb: »Traten dann Konferenzen zusammen, /
Und stand der Streit in hellen Flammen, / Und kam’s, daß man keinen Ausweg sah, / So hieß
es: ›Ist kein Dalberg da?«
Carl von Dalberg war bestrebt, die Einzelwissenschaften miteinander zu verbinden, um ihre Produktivität und ihren gesellschaftlichen Nutzen zu erhöhen.
Obwohl diese Vorstellung die Epoche der Aufklärung mit der vernetzten Welt von heute
verbindet, hatte Dalberg besonders nach 1789 Schwierigkeiten, andere von dieser Ansicht zu
überzeugen. Die allen Individuen übergeordnete und die Gemüter beruhigende Vernunft, an
die Dalberg angesichts der Französischen Revolution patriarchalisch appellierte, konnte gegen
den zeitgenössischen Parteigeist wenig ausrichten. Sie ließ ihn ungewollt als unzeitgemäß, als
Repräsentant des todgeweihten aufgeklärten Absolutismus erscheinen. Die von ihm oft
wiederholte Forderung, einen ausufernden und letztlich gefährlichen Subjektivismus
zurückzudrängen, um stattdessen von oben gesellschaftsrelevante Synergieeffekte zu
erzeugen, paßte immer weniger in eine Gesellschaft an der Schwelle zur Moderne, in eine
Zeit, in der die Werke von Immanuel Kant (1724–1804) und Johann Gottlieb Fichte (1762–
1814) mit Begeisterung gelesen wurden und das philosophische Ich titanenhaft anschwoll.
Der Geist der Revolution war allgegenwärtig, er bestimmte nicht allein das politische
Geschehen, sondern veränderte ebenso die Vorstellungen von Philosophie und Dichtung.

Dem ästhetischen Denken Dalbergs und seinem kunstpädagogischen Interesse kommt
indessen eine größere Bedeutung zu, als man zunächst vielleicht erwarten könnte, wenn man
ausschließlich an den scheinbar laienhaft begeisterungsfähigen Kunstliebhaber Dalberg denkt.
Auf dem Gebiet der Ästhetik wurden im 18. Jahrhundert neben persönlichen Zwistigkeiten
die entscheidenden weltanschauliche Kämpfe ausgetragen. Die ästhetischen Schriften
Dalbergs spiegeln die zeittypischen Umbrüche wider: 1791 veröffentlichte er sein Buch
„Grundsaetze der Aesthetik[,] deren Anwendung und künftige Entwickelung“, darin erörterte er
eine Schönheitsvorstellung, die sich von der Konzeption Kants wesentlich unterschied und
sich auf die Formen menschlichen Denkens, Handelns und Zusammenlebens, auf die Gestalt
und Gestaltung des Staates sowie auf Gott bezog; unter dem Eindruck der Französischen
Revolution publizierte er 1793 seine „Abhandlung Von dem Einflusse der Wissenschaften und
schönen Künste in Beziehung auf öffentliche Ruhe“, mit der er der verbreiteten Auffassung
entgegentrat, daß Künstler und Philosophen die politische Ordnung gefährden würden; 1806
erschien sein „Perikles. Ueber den Einfluß der schönen Künste auf das öffentliche Glück“.
Dalberg erläuterte hier sein politisches Selbstverständnis und entwarf das Ideal des
aufgeklärten, menschenfreundlichen und kunstsinnigen Staatsmannes.

1795 erschien sein Aufsatz „Kunstschulen“ in der von Friedrich Schiller (1759–1805)
herausgegebenen Zeitschrift „Die Horen“. Auf dreizehn Druckseiten formulierte Dalberg
präzise seine Kunstauffassung sowie den Zusammenhang zwischen Kunst, Gesellschaft und
Politik: In einer einleitenden Passage äußert er sich grundsätzlich über den Künstler und seine
Tätigkeit. Der Wert eines echten Kunstwerks besteht für ihn darin, daß es »allenthalben und
allzeit« gefällt. Ein Künstler, der ein solches Werk hervorbringen will, muß das sinnlich
Schöne mit dem geistig Angenehmen und dem sittlich Rührenden verbinden. Er strebt also in
seiner Tätigkeit und mit seinem Werk nach Vollendung und Ebenmaß, nach Wahrhaftigkeit
und Stimmigkeit sowie nach Wohltätigkeit und Gemeinnützigkeit. Ein Werk, das formale
Mängel aufweist, das inhaltlich verworren und unehrlich erscheint oder von einer
menschenfeindlichen Gesinnung zeugt, darf die Werkstatt, das Atelier oder die Dichterstube
nicht verlassen. Dalberg vertritt die Auffassung, daß Begabung zwar unerläßlich sei,
Begabung allein jedoch nicht ausreicht: Wer ein guter Künstler sein möchte und wohltätig
und kultivierend auf seine Mitmenschen einwirken will, der ist zunächst auf Anleitung und
Ausbildung angewiesen. Der angehende Künstler befolgt die technischen Vorschriften und
Gesetze seiner Kunst. Er zeichnet sich durch Professionalität aus sowie durch die
Bereitschaft, seine Kenntnisse zu vermehren und die erworbenen Fähigkeiten unablässig zu
erproben. Ohne Mathematik und Geometrie, ohne kunstgeschichtliches Wissen und ohne
Harmonie-, Farben- oder Sprachlehre bleibt der Talentierte ein Stümper. Als solcher ist er ein
Ärgernis für seine Mitmenschen, weil seine fehlerhaften Werke die Verderbnis der Sitten
vorantreiben. Aus Dalbergs Kunstschulen gehen keine (eigenbrötlerischen) Genies hervor, sondern tüchtige Kunsthandwerker, die mithelfen, den
Alltag und die Gesellschaft zu verschönern: Der Musiker hellt die Gemüter seiner
Mitmenschen auf, durch seinen Beitrag werden die Pflichten erträglich. Der Bildhauer
verewigt »das Andenken verdienter Männer in öffentlichen Denkmälern“. Der Redekünstler
verklärt die Tugend und stimmt zusammen mit dem Musiker gottgefällige Hymnen an. Die
erfolgreichen Kunstschüler kleiden das Gute und Wahre in das Gewand der Schönheit und
treten so dem Eigensinn, den zerstörerischen Leidenschaften und dem Vorurteil entgegen. Sie
sorgen für Ruhe, Ordnung und Gemeinsinn. Die Würde der Kunst besteht in ihrer
Sozialverträglichkeit.

Für Dalberg besteht die Bestimmung eines jeden Menschen darin, sich selbst zu veredeln und
in sich die Keime des Guten, Wahren und Schönen zu entwickeln, weshalb es die Pflicht des
Staates sei, »daß er [der Staat] alles befördere, was zu dieser grosen Absicht mitwirken
kann« Durch den Umgang mit Kunst überwindet der Mensch seine tierische Rohheit und
das ebenso schädliche abstrakte Denken. Dalberg beendet seine Ausführungen mit einem
Aufruf: »Gute Regenten, Väter des Vaterlandes, wollt ihr in euren Staaten Wahrheit,
Schönheit und Tugend vereinigen? Wollt ihr auf eine dauerhafte Weise die schönen Künste,
diese Blüthe der Menschheit, erhalten: so errichtet gute Kunstschulen!«

Schiller fügte dem gedruckten Beitrag die Mitteilung eines Briefes hinzu, mit dem sich
Dalberg am 12. April 1795 an den Herausgeber wandte. Dalberg bedankte sich darin für die
Annahme seines Aufsatzes und setzte hinzu, daß eine weitere Mitarbeit für ihn nicht infrage
komme: »Die drey Stücke dieser Monatsschrift, welche bißher erschienen sind, entsprechen
der hohen Erwartung Ihrer Leser. Um so mehr bedaure ich, daß der gegenwärtige Drang
meiner Berufsgeschäfte mich hindert an dieser Unternehmung in Zukunft Antheil zu
nehmen.«
Befremdlich erscheint zunächst, daß Schiller diesen Zusatz, bei dem es sich um
eine persönliche Mitteilung handelte, überhaupt abdruckte. In seinem Brief vom 23. März
1795 hatte Dalberg den Herausgeber ausdrücklich darum gebeten, den übersandten Beitrag
über die Kunstschulen ohne Nennung des Verfassers zu veröffentlichen. Überzeugt von der
Qualität der bereits erschienenen Beiträge folgte Dalberg in diesem Punkt voller Vertrauen
dem Konzept der Zeitschrift. Dem Briefwechsel mit Christian Gottfried Körner (1756–1831) ist zu entnehmen, daß Schiller von Dalbergs Beitrag mehr als enttäuscht war und er ihn,
anders als von Dalberg erhofft, einer Veröffentlichung für unwürdig hielt. »Vom Coadjutor«,
schrieb Schiller am 5. April 1795 an Körner, »ist ein unendlich elender Aufsatz eingelaufen,
den ich recht verlegen bin wieder los zu seyn.« Körner sekundierte seinem Freund am 15.
Juni 1795 mit der Bemerkung: »So etwas wie die Kunstschulen ist mir noch nicht von
Dalberg vorgekommen; es ist der völlige Stil der Zehn Gebote. Wer hat den glücklichen
Einfall gehabt, seinen Namen am Ende anzubringen? Hier war er äusserst nöthig.«

Diese harschen Reaktionen verwundern, weil Dalbergs Schreibstil, den Körner verunglimpfte,
dem seiner bisher veröffentlichten Werke entsprach. Schiller kannte Dalbergs Schriften, ihre
formalen wie inhaltlichen Stärken und Schwächen, er kannte Dalbergs vielgelesene
„Betrachtungen über das Universum“ (1777) und dessen „Grundsaetze der Aesthetik“ (1791),
auf die er sich in seiner eigenen epochemachenden Abhandlung zur Ästhetik, nämlich in den
Briefen „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“, berief. Schiller wußte also
ziemlich genau, was er von Dalberg erwarten konnte, und er warb mit Dalbergs Namen für
seine neue Monatsschrift „Die Horen“. Schillers Reaktion, die Körner mit seiner im Dezember
1794 ausgedrückten Befürchtung, Dalberg sei ein gefährlicher Mitarbeiter, provoziert hat, läßt
sich erklären, ohne beizupflichten, daß es sich bei Dalbergs Beitrag tatsächlich um ein
Machwerk handelt.
Mit dem Konzept seiner Zeitschrift und dem Beitrag „Ueber die ästhetische Erziehung des
Menschen“ reagierte Schiller auf die unerwartet blutige Entwicklung der Französischen
Revolution und auf die durch sie hervorgerufenen Ängste und Sehnsüchte. Seine bewußte
Hinwendung zur »ästhetische[n] Welt« war Ausdruck einer tiefen Enttäuschung, die er mit
anderen deutschen Schriftstellern und Intellektuellen, etwa mit Georg Forster (1754–1794),
teilte.
Die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Aufklärung sowie die Erfahrung, daß die
Zivilisierung und Kultivierung des Menschen durch die Sammlung und Verbreitung von
Erkenntnissen kaum erreicht werden konnte, ließen Schiller in seinen Briefen „Ueber die
ästhetische Erziehung des Menschen“ die griffige Frage formulieren: »woran liegt es, daß wir
noch immer Barbaren sind?« Bereits zuvor hatte Schiller in seinem Schauspiel „Die Räuber“
(1781) gegen das aufgeklärte Zeitalter revoltiert. In die Form eines Familiendramas gebracht,
führte Schiller vor, wie sich die väterlich-vernünftige Gemeinschaft selbst zerstört: Das
»schlappe Kastraten-Jahrhundert“ und dessen Buchkultur verdrängen die urwüchsige Natur
zugunsten der starren Konvention. Verdrängte Gefühle brechen plötzlich hervor und bilden
zusammen mit einer materialistischen Weltsicht, die ins Verbrecherische gewendet wird, ein
beeindruckend explosives Gemisch.

Die Kunstschulen stießen nicht auf Schillers Zustimmung, weil Dalberg mit jener
Selbstsicherheit auftrat, die dem Staatsmann eigen ist und die dem tiefsinnigen und
abwägenden Philosophen abgeht. Zudem fühlte sich Schiller durch die unverdrossen
aufklärerische Haltung Dalbergs unangenehm an die eigenen Hoffnungen, die er in den späten
achtziger Jahren hegte, erinnert. Die Wut, die sich an Dalbergs Aufsatz entlud, zielte letztlich
auf Schiller selbst. Am 26. Mai 1789, wenige Wochen vor dem Ausbruch der Französischen
Revolution, hielt Schiller in Jena seine berühmte Antrittsvorlesung mit dem Titel „Was heisst
und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, die im November 1789 in der von
Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) herausgegebenen Zeitschrift „Der Teutsche Merkur“
publiziert wurde. Schiller läßt hier die Erfolgsgeschichte der Aufklärung Revue passieren
und eignet sich den Standpunkt des aufgeklärten Menschen an, der nicht eher ruht, »bis alle
seine Begriffe zu einem harmonischen Ganzen sich geordnet haben, bis er im Mittelpunkt
seiner Kunst, seiner Wissenschaft steht, und von hier aus ihr Gebiet mit befriedigtem Blick
überschauet«. Aus dem Erfahrungsschatz der Seefahrer schließt Schiller, daß sich der
europäische Mensch durch »ausserordentliche Anstrengung zur Gesellschaft« erhoben habe.
Roheit und Barbarei hätte der Europäer abgelegt, und er blicke – angetrieben von
Wißbegierde und nach Unterhaltung suchend – auf fremde Völker herab und erkennt die
überschrittenen Stufen seiner eigenen Entwicklung. Schiller hebt die unermüdliche Tätigkeit
der Intellektuellen und Gelehrten hervor, die nun durch ein »weltbürgerliches Band«
verbunden wären. Er lobt die europäische Staatengemeinschaft, die sich anscheinend in eine
»große Familie« verwandelt habe. Schiller spricht in seiner Antrittsrede kaum darüber, wie
er sich den weiteren Verlauf und das Ziel der Geschichte vorstellt. Er ist davon überzeugt, daß
sich der omnipotente Mensch seine Wünsche und Sehnsüchte bereits weitgehend erfüllt hat.

Erstaunt fragt man sich angesichts einer solchen Apotheose des Erreichten, warum im selben
Jahr die Revolution ausbrach und es zu den langanhaltenden politischen Verwicklungen
gekommen ist, warum Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit die Losung der Stunde war.
Einem naiven Optimismus, der Soll mit Haben verwechselt, ist es anzulasten, daß sich
Schiller später, nachdem die Revolution unter dem Fallbeil ihre Ideale verlor, der
Verbitterung hingab. Seine Abhandlung „Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen“ läßt
sich als formvollendete Selbstanklage lesen.

Bis an sein Lebensende blieb Dalberg fest davon überzeugt, daß die Aufklärung von Mensch
und Gesellschaft notwendig sei, unaufhaltsam voranschreite und Glückseligkeit und
Schönheit dabei ineinandergreifen. Er gab sich jedoch zu keinem Zeitpunkt der falschen
Hoffnung hin, daß dieser Prozeß jemals an sein Ende kommen könnte, denn der zerstörerische
Hochmut gehörte für ihn unaustilgbar zum Wesen des Menschen. Die Menschheit im Ganzen,
so Dalberg, verändere sich kaum, sie bleibt ein »Gemisch von Tugend und Laster, von
Vernunft und Thorheit«. Es erscheint in dieser Hinsicht vermessen und fahrlässig, den
Menschen des 18. Jahrhunderts zum Sieger der Geschichte zu erklären, der – mit der eigenen
Geschichte abschließend – stolz auf seine Bildungserfolge zurückblickt.

Dieser Überheblichkeit stellte Dalberg das Bild des von der Erbsünde belasteten Menschen entgegen.
Die christliche Demut warnt vor überzogenen Hoffnungen und beugt bitteren Enttäuschungen
vor. Die spöttische Bemerkung Körners, Dalbergs Kunstschulen-Aufsatz wäre im Stil der Zehn
Gebote geschrieben worden, erscheint so in einem anderen Licht. Körner rügte mit diesem
Hinweis nicht etwa objektiv die formale Gestaltung des Beitrags, sondern er spielte auf
Dalbergs tiefe Verwurzelung im Glauben an, die Schiller und ihm selbst, hätten beide sie
jemals erlangt, abhanden gekommen war. Die Religion hielt Dalberg angesichts der
politischen Krisen schadlos. Der Glaubens- und Sinnverlust hinterließ bei Schiller einen kaum
zu lindernden Schmerz.

Mit seiner Zeitschrift „Die Horen“ und mit seinen „Briefen zur ästhetischen Erziehung“ regte
Schiller seine Leser zu einer vom Leben unbefleckten künstlerischen Meditation an. Erst
wenn es einem jeden gelungen sein wird, den ästhetischen Staat der überwundenen
Entfremdung und der Befriedung widerstreitender menschlicher Vermögen in der eigenen
Brust zu entdecken und zu erhalten, erst dann wird der Mensch reif und fähig dazu sein, mit
anderen eine große politische Einheit jenseits des Naturtriebs und einer diktatorischen
Vernunft herzustellen. Um die realen politischen Probleme lösen zu können, müsse der
Mensch, wie Schiller schrieb, den ästhetischen Weg einschlagen, »weil es die Schönheit ist,
durch welche man zu der Freyheit wandert«. Aber dieser Weg führt nach innen, während
draußen die Revolution tobt, und es ist mehr als fraglich, ob ein Mensch, der dazu angehalten
wird, die beglückende Schönheit wie eine Droge zu mißbrauchen, weil er seine Defizite und
Beschränkheit vergißt, solang er ihren Zauber erfährt, nicht seine Fähigkeit verliert, ein guter
Bürger neben anderen guten Bürgern zu sein. Hieran macht sich der Konflikt zwischen
Schiller und Dalberg fest. Dalberg hat die Horen anwendungsbezogen gelesen während
Schiller für eine, auf die Romantik vorausweisende, esoterische Form der Selbstbildung
plädierte, die in den Augen eines Aufklärers kaum etwas mit Erziehung im traditionellen
Sinne zu tun hatte und die im Zeitalter der Pädagogik sogar als Provokation aufgefasst werden
konnte.
Aus gutem Grund ließ Dalberg nie davon ab, die Kunst in politisch-soziale Zusammenhänge
einzubetten: Beschränkt man die Kunst, mit welcher Begründung auch immer, ausschließlich
auf das persönliche Erleben, so bleibt sie hinter ihren Möglichkeiten zurück, mehr noch:
Kunst wird zu einem Verführer, der den Menschen von Gott abfallen läßt und jeden
Gemeinsinn konterkariert. Schönheit »ohne Weißheit und Tugend«, also ohne Verbindung zur
vernünftigen Erkenntnis und zum alltäglichen guten Handeln, sei gefährlich, wie Dalberg in
seinem Horen-Beitrag klarstellt. Aufgabe der Politik ist es, den Menschen mit Hilfe der
Kunst und der Schönheit auf dem Weg zu seiner Vervollkommnung zu unterstützen, ohne daß
dabei ein unüberwindbarer Graben zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht. »Das
ganze menschliche Leben«, bemerkt Dalberg, »sollte ein Bestreben moralisch- und
ästhetisch vollkommener Selbstbildung seyn. Und dann wird es zugleich
möglichstvollständige Erregung des Schönheitsgefühls.« Der Politiker leitet den Bürger an,
sich nützlich zu beschäftigen und in jeder Tätigkeit nach dem Ideal der Vollkommenheit zu
streben. Die hierbei entstehende »Herzensfreude« verbindet ihn mit seinen Mitmenschen
und mit Gott. Man kann nicht behaupten, Dalberg hätte gegen das Programm der Horen
verstoßen. Er fühlte wie Schiller die Verpflichtung, sich jenseits der beschränkten Interessen
der Gegenwart für das Reinmenschliche einzusetzen. Er achtete die überzeitliche Einheit des
Wahren, Schönen und Guten. Dalberg nahm die von Schiller formulierte Aufgabe an, die
politisch geteilte Welt unter der Fahne der Wahrheit und Schönheit zu vereinigen, aber er tat
dies auf seine Weise: Er nahm die Regenten, und damit sich selbst, in die Pflicht: Ausgehend
von einem weitreichenden Lehrer-Schüler-Verhältnis tragen die Regenten die Veranwortung
für die Bildung ihrer Untertanen. An diesem konkreten Bildungsauftrag wollte Dalberg ihre
Tauglichkeit messen. Mit seinem Beitrag über Kunstschulen reagierte Dalberg als Ästhet und
Politiker auf Forderungen seiner Zeitgenossen, Gute Regenten lassen Schulen errichten, in denen eine hohe Kunst den Menschen veredelt und das gesellschaftliche Wohl befördert.

Zudem führte Dalberg einen Gedanken weiter aus, den er vorher in seinen „Grundsaetze[n] der Aesthetik“ formuliert hatte:
»Die Führer und Lehrer der Menschheit sollten das Gefühl des wahren Schönen, in ihren Untergebenen und
Zöglingen erregen. Grössere allgemeine Glückseligkeit würde die Folge seyn, und das Geschäft eines Jeden
würde besser gehen. Das Wesentliche aller Würkungen des Schönheitgefühls, bestehet darinn: dass durch edle Thaten der Menschen, durch ihre Geistes- und Kunstwerke, die Menschheit gewinnt, und die Welt schöner und besser wird. Wissenschaft, Kunst und Thatkraft sind einander wechselsweiss Stütze, Beförderung, Anfeuerung; und wenn Achill einen Homer begeistert, so begeistert Homer einen Alexander. Kunst steigt durch entflammte Bewunderung der Kunstwerke, von Stufe zu Stufe, zu hohen Idealen empor.«

Gegenüber der auf Kunst und das Kunsterlebnis enggeführten Ästhetik Schillers entwarf
Dalberg eine Ästhetik, die sich im regen Austausch mit allen erdenklichen Wissensgebieten
und Lebensbereichen befindet: Anthropologie, Geschichte, Mathematik, Moral, Kunst, Physik
und Theologie.

Dalberg definierte die Ästhetik als Disziplin, die andere Gebiete befruchtet und von diesen
wiederum bereichert wird, er propagierte Verbindung statt Vereinzelung und stellte die
Schönheit ins Zentrum des individuellen und sozialen Lebens. Wer das gute und gelungene
Leben anstrebt, so läßt sich seine Überlegung zusammenfassen, der sucht nach Schönheit und
begibt sich in Gemeinschaft. Weil Dalberg ein Konzept anbot, das die einzelnen Teilbereiche
der Gesellschaft nicht weiter auseinanderdriften ließ, sondern das bürgerliche Leben, die
Wissenschaft und die Kunst dynamisch miteinander vernetzte, wurde er von Christian
Friedrich Daniel Schubart als Erneuerer der Gelehrsamkeit – als deutscher Francis Bacon
(1561–1626) – gefeiert. Für Schubart, der oft genug das aussprach, was seine Zeitgenossen
dachten, nahm Dalberg neben Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Christoph Martin
Wieland eine herausragende Stellung in der Literaturszene ein. Mit seiner Ästhetik überragte
Dalberg nach Auffassung Schubarts all jene Autoren, die sich vorher mit ästhetischen
Fragestellungen auseinandergesetzt hatten, weil er den Gedanken nicht von der Tat, das
Subjekt nicht vom Objekt und das Schöne nicht vom täglichen Leben, vom Staat und von
Gott trennte.

Dalbergs berufsbedingte Abkehr von den Horen, die er dem Herausgeber am 12. April 1795
anzeigte, läßt sich durchaus als ein Hinweis auf unterschiedliche, vielleicht unversöhnliche
Ansichten lesen. Dennoch wandte sich der begeisterte Horen-Leser Dalberg am 5. September
1795 abermals an Schiller und übersandte ihm einen neuen Beitrag, der bedauerlicherweise
verloren gegangen ist. Schiller benutzte Dalbergs im Frühjahr 1795 erfolgte Abkehr, um
seinen Lesern zu versichern, daß sie in Zukunft von aufklärerischen Standpunkten und der
Prosa des Lebens verschont bleiben würden. Schiller ging fehl in der Annahme, daß Dalberg
inhaltlich und formal anders schreiben würde, als er es bis dahin getan hatte.

Dalberg verschwieg dem Herausgeber, daß ihn eigentlich weder das Konzept der Horen noch des
Herausgebers Vorstellung von Ästhetik und ästhetischer Erziehung veranlaßt hatten, über
Kunstschulen nachzudenken. Mit seinem Kunstschulen-Aufsatz beging Dalberg ein Jubiläum,
denn genau zehn Jahre zuvor, also 1785, war die Idee zur Gründung einer Kunstschule in
Erfurt an die von Dalberg initiierte Kurfürstliche Kommerzien-Deputation zur Förderung des
Handels und der Gewerbe herangetragen worden. Der Einfall stammte von Johann Georg
Wendel (1754–1834). Der Pfarrerssohn wurde in Egstedt geboren und besuchte zwischen
1772 und 1778 das Erfurter Ratsgymnasium. Ab November 1778 weilte er als
Mathematikstudent in Leipzig, wo er die damals bekannte, von Adam Friedrich Oeser (1717–
1799) geleitete, Kunstakademie besuchte und in Architektur, Malerei und Kupferstecherei
unterrichtet wurde. Die künstlerische Ausbildung, die er in Leipzig genoß, veranlaßte ihn, in
seiner Heimatstadt ein ähnliches Institut zu gründen. Den Unterrichtsplan, der die Bereiche
Architektur, Geometrie, Perspektive, Proportion und Dekoration umfaßte, entwarf Georg
Melchior Kraus (1737–1806). Zusammen mit Friedrich Justin Bertuch (1747–1822) hatte
Kraus 1774 die Gründung der ›Fürstlichen Freyen Zeichenschule‹ in Weimar angeregt, die
1776 erfolgte. Kraus fungierte als erster Direktor dieser Bildungsanstalt, an der sich die
Erfurter Einrichtung orientierte.,
Die Erfurter Kunstschule bzw. Kurfürstliche Zeichenschule wurde am 9. Mai 1786 eröffnet.
Der Unterricht wurde zunächst in Wendels Wohnung, die sich in der Neustadt befand,
abgehalten. 1789 oder 1790 erwarb Wendel auf dem Anger 43 den Biereigenhof zum
Heidelberge, wo fortan die Zeichenschule untergebracht war. Wendel führte interessierte
Laien beiderlei Geschlechts anhand von Büchern, Musterzeichnungen, Kupferstichen und
Gipsabgüssen in die künstlerische Arbeit ein. Aber auch und gerade Handwerker sollten den
Unterricht besuchen. Die Zünfte wurden angehalten, ihre Lehrlinge und Gesellen in die
Zeichenschule zu schicken, um ihnen dort eine fundierte ästhetische Erziehung und
Weiterbildung angedeihen zu lassen. Sie standen jedoch, besorgt um ihren Einfluß, der
Kunstschule skeptisch bis feindlich gegenüber.
Carl von Dalberg ließ es sich nicht nehmen, dem Unterricht wiederholt persönlich
beizuwohnen und in Schillers Horen, aus eigener Erfahrung schöpfend, den Nutzen von
Kunstschulen darzulegen. Die Kunst- und Zeichenschule, die 1793 mehr als 200 Besucher
zählte, stärkte als ›gute Bildungsanstalt‹ das moderne, aufklärerische Profil der Stadt Erfurt.
Daß Dalberg in seinem Kunstschulen-Aufsatz zukunftweisende Gedanken vorgetragen hatte,
belegt die Würdigung, die sie lange nach ihrem Erscheinen durch Carl Seidel (1788–1844)
erfuhren. Seidel erwarb sich als Musiklehrer und Kunstwissenschaftler ein hohes Ansehen
in Berlin. In seiner zweibändigen Schrift Charinomos (1825/28) erörterte er mit großer
Belesenheit und Sachkenntnis das Zusammenspiel der unterschiedlichen Künste und die
»nahe Beziehung der Kunst zum Leben«. Mit dem gleichen ganzheitlichen Anspruch, den
vorher Dalberg verfolgte, schrieb Seidel über die »Verschönerung des Daseins durch die
Künste, über ästhetische Erziehung, über Erweckung und Belebung des Kunstsinns im Volke,
über das Verhältniß der Künste zum Staat«. Der u. a. von Johann Gottfried Schadow (1764–
1850), Christian Daniel Rauch (1777–1857), Johann Wolfgang Goethe (1749–1832)
gepriesene und mehrfach staatlich prämierte zweite Band enthält ein abschließendes
Kapitel, das den Titel „Kunstschulen“ trägt. Seidel beginnt seine Ausführungen mit Dalbergs
Appell: »Gute Regenten, Väter des Vaterlandes, wollt Ihr in Euren Staaten Wahrheit,
Schönheit und Tugend vereinigen? […] so errichtet gute Kunstschulen!«

Schillers Interesse an Verbrechern

Vortrag von Prof. Udo Ebert, Jena, am 7. Februar 2017

Vor Beginn seiner Vorlesung „Ästhetisches Vergnügen und psychologische Neugier – Schillers Interesse an Verbrechern“ übergab Prof. Ebert an jeden anwesenden Goethefreund eine Gliederung seines Vortrages zum Thema. 1781 verfasste Schiller sein Drama „Die Räuber“ und schrieb nach seiner Flucht nach Mannheim und Bauerbach das Drama „Die Verschwörung des Fiesko zu Genua“. In diesen Werken zeigt er Unterschiede zwischen moralischen und ästhetischen Beurteilungen von Verbrechern auf.
Moralisch betrachtet lautet das Urteil „schlecht“, es handelt sich um „unerhörte Verbrechen“. Bei ästhetischer Betrachtung wirken Kraft und Freiheit vor Gesetzen. Es bestehen starke Beziehungen zur Wirklichkeit.
Das Problem der Ästhetik stand bei Schiller ganz oben, ihm war es um das Erzählen von Lebensgeschichten über das Seelenleben von Menschen zu tun. Daraus entstanden Verbrechergeschichten, Einblicke ins menschliche Fühlen und sittliches Verhalten.
Vorgetragen und dargestellt wurden von Prof. Ebert auch Zitate Schillers aus Kriminalgeschichten, wie zu Motiven, die zu bösen Vebrechen führten. Auch Vergleiche, die Schiller gern anstellte, stellte er vor, wie die „Weisheit und Torheit2, aber auch Ursachen, die Täter zu „bösen Taten“ führten.
Auch verlas Prof. Ebert Auszüge aus Schillers Werk „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“, erläuterte Hintergründe, den Inhalt der Erzählung, vor allem aber Auszüge über die Entstehung des dargestellten Verbrechens.
Schiller beschäftigte sich auch im Drama „Die Räuber“ mit dem Thema „Vergeltungsstrafe“, widmete sich der Frage: Was sah er als Vergeltung für begangenes Verbrechen an? Die Todesstrafe lehnte er ab. Für Schiller galt: Verbrecher mit „Menschlichkeit“ zu begegnen.
Zu dieser allgemeinen Thematik führte Prof. Ebert Folgendes aus:
In seinen Werken, besonders den Dramen und Erzählungen, zeigt Friedrich Schiller ein auffallend großes Interesse an Verbrechern. Über die Gründe für dieses Interesse gibt er selbst, vor allem in seinen theoretischen Schriften, Auskunft. Demnach sind es teils ästhetische, teils psychologische Gründe, die den Verbrecher für Schiller so attraktiv machen.
Den Grund für diese Abweichung des moralischen Urteils vom ästhetischen und für das ästhetische Vergnügen am großen Verbrecher sieht Schiller in der Schrift „Über das Pathetische“ in Folgendem: Bei der moralischen Beurteilung sehen wir auf die Forderung der Vernunft, dass moralisch gehandelt werde; hier herrschen Notwendigkeit und Gesetzmäßigkeit. Bei der ästhetischen Beurteilung sehen wir dagegen auf die Kraft und auf die Freiheit, mit der gehandelt wird; denn hier herrscht das Bedürfnis der Einbildungskraft, deren Interesse es ist, „sich frei von Gesetzen im Spiele zu erhalten“.
Unter Schillers Dramenfiguren, die den Typus des willensstark aus Freiheit handelnden, dadurch großen und interessanten Verbrechers repräsentieren, hob Ebert zwei hervor, denen die geschilderte Ambivalenz des erhabenen Charakters, das Potential sowohl zum großen Bösen wie zum großen Guten, eigen ist. Die eine dieser Figuren ist Karl Moor. Die andere Figur ist Fiesco, der im Verlauf des Dramas eine Kehrtwendung vollzieht. Auch Fiesco ist ein Held, der seinem Charakter nach entweder ein Brutus oder ein Catilina werden kann, und mit nicht zu überbietender Deutlichkeit demonstriert Schiller die beiden Potentiale durch die beiden gegensätzlichen Dramenschlüsse.
Doch nicht nur als Freiheitsenthusiast, Idealist und Dramatiker fühlt Schiller sich zum Verbrecher hingezogen, sondern auch als Psychologe. Zu den außergewöhnlichen Lebensläufen, die sich nach Auffassung jener Zeit besonders dazu eigneten, die Natur des Menschen, seine Seele und deren Triebkräfte zu erforschen, gehörten die Biographien von Abenteurern, Selbstmördern und Verbrechern. Er hat in den Jahren 1792 bis 1795 einen eigenen „Pitaval“, eine Sammlung mit dem Titel „Merkwürdige Rechtsfälle als ein Beitrag zur Geschichte der Menschheit“ herausgegeben. Der empirischen Erkundung der Seele, der psychologischen Analyse namentlich von Verbrechern, also der Kriminalpsychologie, gilt auch nach Schulzeit und Medizinstudium Schillers bevorzugtes Interesse. Es schlägt sich in seinem literarischen Werk nieder, und zwar durch alle Gattungen: von den Dramen über die Erzählungen, die Gedichte und die historischen Schriften bis hin zu den Schriften über Ästhetik. Die Verbrechererzählung geht also den Gedanken des Täters und den sie bewegenden äußeren, insbesondere sozialen Umständen als Ursachen des Verbrechens nach – Psychologie und Soziologie als Kriminalätiologie (Verbrechensursachenerforschung).
In seiner Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ hat Schiller diesen ätiologischen Ansatz exemplarisch durchgeführt. Eine wahre Geschichte nennt deshalb Schiller seine Erzählung im Untertitel – des Räubers Friedrich Schwan (1729-1760), des berüchtigten „Sonnenwirtes“. Friedrich Schwan heißt in Schillers Erzählung Christian Wolf. Schiller beschreibt in dieser Erzählung die kriminelle Karriere eines Menschen und benennt die Ursachen, die zu ihr geführt haben. Die Ursachen liegen einerseits in seelischen Zuständen, inneren Triebkräften und Willensentschlüssen des Täters, andererseits in äußeren Umständen, die als objektive Rahmenbedingungen der Taten fungieren, aber auch ihrerseits zu den subjektiven Gemütszuständen und Willensentschlüssen des Täters beitragen.
Bemerkenswert ist der ursächliche Anteil sozialer Faktoren. Stigmatisierung und Ausgrenzung durch die Gesellschaft, ja auch durch die Justiz selbst, gesellschaftliche Rollenzuschreibung und Übernahme der zugeschriebenen Rolle durch den Täter werden als kriminogene Faktoren herausgearbeitet. Damit weist Schiller auf moderne Kriminalitätstheorien voraus. Dieses „wechselseitige[…] Sich-Aufschaukeln[…] von Straftaten auf der einen Seite und gesellschaftlichen sowie amtlichen, also informellen und formellen, Reaktionen auf der anderen Seite“ stellt sich in Schillers Erzählung bei Christian Wolf folgendermaßen dar: Aufgrund niedriger sozialer Herkunft und bescheidener wirtschaftlicher Verhältnisse, aber auch wegen seines abstoßenden Aussehens erfährt Wolf schon früh Zurückweisung in seiner Umgebung. Ungeschickte Versuche, sich Zuneigung zu ertrotzen, verschlimmern seine Lage nur, und im Bestreben, sich die Zuneigung zu erkaufen, gerät er auf die kriminelle Bahn. Mehrfache strafgerichtliche Verurteilungen wegen Wilddieberei und ein längerer Gefängnisaufenthalt treiben seine soziale Entwurzelung weiter voran, indem sie seine Seele verwüsten, ihn seiner Umgebung immer mehr entfremden und die Gesellschaft zu immer heftigerer Zurückweisung, Stigmatisierung und Ausgrenzung seiner Person veranlassen. Seine Verzweiflung nötigt Wolf, die ihm von der Gesellschaft zugeschriebenen Eigenschaften in sein Selbstbild zu übernehmen und die ihm zugeschriebene Rolle zu spielen. Er will nun Böses um des Bösen willen tun. „Ich wollte mein Schicksal verdienen“. Durch den am Nebenbuhler begangenen Mord wird eine Rückkehr in eine ehrbare bürgerliche Existenz vollends ausgeschlossen. Der Mord treibt Wolf in die Arme einer Räuberbande, als deren Anführer er seine kriminelle Karriere beschließt.
Somit verweist Schiller auf die prinzipielle Offenheit jedes Lebenslaufs für kriminelle Episoden oder Karrieren, auf die allgegenwärtigen und jederzeitigen Anfechtungen und Versuchungen, die in Verbindung mit psychischen Dispositionen jeden Menschen in die Gefahr bringen können, kriminell zu werden. Doch nicht auf die Ehrlosigkeit als Folge der Verbrechen kommt es Schiller in der Erzählung an, sondern auf das Umgekehrte: auf die Verbrechen als Folge der Ehrlosigkeit. Nicht die Ursächlichkeit der Verbrechen für den Verlust der Ehre, sondern die Ursächlichkeit des Ehrverlusts für die Verbrechen ist das Thema der Erzählung. Was Christian Wolf im Laufe der Zeit verliert, ist nicht nur seine äußere Ehre, die Achtung seitens der Gesellschaft, sondern auch seine innere Ehre, seine Selbstachtung. Weil er keine Ehre mehr beanspruchen kann, lernt er die Ehre zu entbehren, gibt er schließlich alle Ansprüche an sich selbst, ehrenhaft zu leben, auf. Wem es auf die eigene Ehre nicht ankommt, wer sich selbst für ehrlos hält, der braucht sich auch nicht zu schämen.
Freilich gewinnt Wolf vorübergehend seine äußere und innere Ehre wieder, nämlich mit der Aufnahme in die Räuberbande, die ihn sogleich zu ihrem Anführer wählt. In dieser kriminellen Gemeinschaft erfährt der aus der Gesellschaft Ausgestoßene herzliches Willkommen, Zuwendung, Vertrauen, Achtung, Bewunderung. Doch es ist die Anerkennung durch eine Parallelgesellschaft, eine verbrecherische Subkultur, welche die gesellschaftliche Außenseiterrolle, das Ausgestoßensein aus der ehrbaren bürgerlichen Gesellschaft nicht aufhebt, sondern nur bekräftigt. Auch wenn somit das Gute im Menschen hier nicht zum äußeren Sieg führt, so ist es doch als solches vorhanden. Der Mensch hat die Kraft, auch gegen widrige Umstände seine sittliche Freiheit und seine Existenz als moralisches Subjekt zu behaupten. Das macht Schiller in Übereinstimmung mit seinem von ihm auch sonst vertretenen Menschenbild in dieser Erzählung deutlich. Bezeichnend ist aber, woran der Sieg des Guten über das Böse am Ende scheitert: Es ist die Gesellschaft – hier in Gestalt des Landesherrn als ihres obersten Repräsentanten – , welche die kriminelle Laufbahn des Protagonisten diesmal zwar nicht befördert, aber ihre Beendigung verhindert. Und so bleibt denn der gesellschaftskritische Duktus der Erzählung bis zum Ende erhalten.
Was hätte der Blick der Richter in die „Gemütsverfassung des Beklagten“, was hätte die Berücksichtigung des Anteils, den die Gesellschaft zu den Verbrechen des Sonnenwirts beigetragen hatte, und was hätte die Beachtung der Auswirkungen des harten Strafvollzugs auf die Psyche und das weitere Leben des Verurteilten für die strafrechtliche Behandlung des Delinquenten bedeutet? Die Antwort kann nur sein: Verständnis, Nachsicht, eine mildere und hilfreiche Strafe. Eine Strafe, die den psychischen und sozialen Ursachen des Verbrechens sowie der Mitverantwortung der Gesellschaft Rechnung trägt; die weniger auf die Tat als auf den Täter sieht; die dem Verurteilten hilft, den Weg zurück in die Gesellschaft zu finden und nicht mehr straffällig zu werden; und die ihn mit der Gesellschaft aussöhnt. Mit seiner dem modernen Resozialisierungskonzept nahekommenden Auffassung von der Behandlung und Bestrafung der Verbrecher ist Schiller ganz Aufklärer. Nach den Vorstellungen der Aufklärung ist der Staat eine Zweckanstalt zur Beförderung des Glücks und der Vollkommenheit des Einzelnen. Der so verstandene Staat hat die Aufgabe und die Befugnis, den vom Pfad der Tugend abgewichenen Bürger auf diesen Pfad – notfalls mit Zwang – zurückzuführen.
Schiller lehnt auch, einer in der Aufklärung verbreiteten Tendenz entsprechend, in seiner Vorlesung „Die Gesetzgebung des Lykurgus und Solon“ die Todesstrafe ab.
In Schillers Dramen allerdings zeigt sich, dass das sie bestimmende andersartige Interesse – das ästhetische an Stelle des empirisch-psychologischen – auch die Auffassung von der Strafe verändert. Den Kant’schen Vergeltungsgedanken, den Schiller in seinen Erzählungen und historischen Schriften zugunsten einer spezialpräventiven Strafkonzeption ablehnt, sehen wir in seinen Dramen durchaus am Werk. Und dies nicht von ungefähr. Denn für die dramatische Gestaltung ist die vergeltende Funktion der Strafe ein höchst geeignetes Element. Als Vergeltung ist die Strafe Manifestation der Gerechtigkeit, welche die durch das Verbrechen gestörte Ordnung wiederherstellt. In diesem Sinne überliefert in den Räubern Karl Moor sich am Ende der Justiz, um die mißhandelte Ordnung [zu] heilen.
Auch Die Braut von Messina handelt von der vergeltenden Strafe. Der Brudermörder Don Cesar fügt die Todesstrafe als die einzig gerechte Form der Schuldvergeltung sich selbst zu.
Neben dieser objektiven hat die Vergeltungsstrafe auch eine für dramatische Gestaltung äußerst wirksame subjektive Funktion. Während sie dem Verbrecher seine böse Tat objektiv gerecht vergilt, bringt sie dem reuigen Täter subjektiv die ersehnte Sühne für seine Schuld, die Beendigung seiner Gewissensqual. So besonders eindrucksvoll im Drama „Maria Stuart“. Maria akzeptiert die Todesstrafe, die wegen des von ihr nicht begangenen Hochverrats gegen sie verhängt worden ist, als Strafe für den zuvor von ihr an ihrem Gatten begangenen Mord und gelangt so zur Sühnung ihrer Schuld, zur moralischen und religiösen Entlastung, zur Katharsis.

Am Ende seines Vortrages antwortete Prof. Ebert auf Fragen.

Renate Dalgas