Rückblick

Sigmund Freud – Leiden an der Kultur

Vortrag von Richard Dollinger, Gera, am 8. Januar 2020

Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens, für den Adel der menschlichen Seele! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Sigmund Freud.“ Mit diesen Worten übergibt der vierte Rufer im Mai 1933 in Deutschland und im November 1938 in Österreich die Schriften des Juden Freud den Flammen.

Sigismund Schlomo Freud wird als Sohn chassidischer Juden am 6. Mai 1856 in der österreichisch-ungarischen Monarchie, in Mähren, geboren, er verstirbt am 23. September 1939 in London. Am 4. Juni 1938, im Alter von 82 Jahren, muss er seine Wohnung und Praxis in Wien, in der er seit 47 Jahren wohnte und arbeitete, verlassen. Von 16 Juden, die in der Berggasse 19 in Wien wohnten, überlebten nur drei die Konzentrationslager. Kurz vor seiner Ausreise wird Freud von der Gestapo genötigt eine Erklärung zu unterschreiben, dass er nicht misshandelt worden sei. Freud unterzeichnete und fügte hinzu: „Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen.“

Während andere dicke Bücher über das Leben des jüdischen Wissenschaftlers im antisemitischen Wien schreiben, notiert er selbst,: „Mein Leben ist äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen Daten zu erledigen.“ So schmal wie seine biographische Notiz, so schmal sind die Ehrungen die ihm zu Lebzeiten zuteil werden, es sind gerade eben einmal deren zwei. 1935 wird er Ehrenmitglied der Britischen Gesellschaft für Medizin. 1930 steht er, auf Betreiben und mit Einflußnahme von Thomas Mann und Alfred Döblin, auf der Nomininierungsliste für den Goethepreis der Stadt Frankfurt. Mit 4:3, einem denkbar knappen Ergebnis und begleitet von heftigen antisemitischen Angriffen, wird ihm der Preis zu teil. Seit 1964 vergibt die Deutsche Akademie für Sprache einen Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa. Es ist ein Hinweis, dass Freud gut lesbar ist und Alfred Döblin, Neurologe wie Freud, schreibt über seinen Kollegen und Freund: „Man beachte den einfachen, klaren Stil; er sagt ungekünstelt und phrasenlos, was er meint; so spricht einer, der etwas weiß.“

Eine Ehrenmitgliedschaft, ein Goethepreis der Stadt Frankfurt/Main, seit 1964 ein nach ihm benannter Preis und erst 1984 wird man in Wien einen hausnummernlosen Park nach ihm benennen. Freud war zu Lebzeiten eine persona non grata, er ist es für nicht wenige heute immer noch. Zugleich aber ist er in aller Munde. Noch jeder kennt die Freud’sche Fehlleistung, den Freud’schen Versprecher – es kommt alles zum Vorschwein und vermutlich hat sich jeder schon einmal in Küchenpsychologie versucht. In der Literatur, mehr noch im Film wird heute unendlich psychologisiert und dass nicht wenige Krankheiten eine psychologische Ursache haben ist heute, nachdem das lange tabuisiert und stigmatisiert war, so unzweifelhaft wie die Tatsache, dass die Erkrankungen der Psyche eine enorme Steigerungsrate haben und zwischenzeitlich den dritten Rang unter den Krankschreibungen einnehmen. Im Amtsdeutsch heißt das nicht Krankschreibung, sondern Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die amtliche Definition von krank ist arbeitsunfähig, wobei nicht zu übersehen ist, dass die rastlose Arbeit im Hamsterrad, gelegentlich mit den Folgen eines burnouts nicht eben gesund ist.

Freud ist kein Frühstarter, seine Theorie ist kein intuitiver Geniestreich, nicht das Heureka des Archimedes, es ist das Ergebnis langer praktischer ärztlich-medizinischer und wissenschaftlicher Arbeit. Erst nach einer langen Inkubations- und Latenzzeit, 14 Jahre nach Eröffnung seiner Praxis, erst im Jahre 1900, Freud ist 44, erscheint „Die Traumdeutung“, die Gründungskurkunde der Psychoanalyse. Freud nennt diese Schrift seine via regia zur Kenntnis über das Unbewusste des Seelenlebens. 1901 in der „Psychopathologie des Alltags“ und 1905 mit „Der Witz“ zeigt er die Freisetzung von unbewussten Triebkräften, wie Unbewusstes im Alltäglichen als wirkmächtige Kraft aufscheint. Als er schließlich 1905 in den drei Abhandlungen zur Sexualtheorie verkündet, dass das Ich nicht Herr im eigenen Hause ist, und dem Unbewussten, den Trieben, und hier wiederum insbesondere der Sexualität eine hohe Bedeutung zukommen lässt und dann noch feststellt, dass Kinder Sexualität haben … Freuds wissenschaftlichen Tätigkeit ist gepflastert mit Skandalen.

Das Buch mit dem Titel „Das Unbehagen in der Kultur“, von dem heute die Rede sein soll, ist ein schmales Werk von eben mal 70 Seiten über das Thomas Mann, ein Kenner und emsiger Verwerter von Freud, Thomas Mann nannte das höheres Abschreiben, Thomas Mann urteilt in einem Brief an Freud mit höchst anerkennenden Worten: „Nur aufs Dürftigste kann ich Ihnen, im Trubel einer, Dank den Herdeninstinkten der Welt katastrophal angeschwollenen Korrespondenz (das ist 1930 geschrieben, da gab es keine email, kein face-book, kein whattsapp und kein twitter) für das außerordentliche Geschenk ihres Buches danken. Dieses Werk, dessen innerer Umfang seinen äußeren so mächtig übertrifft. (70 Seiten) Ich habe es in einem Zuge gelesen, ergriffen von einem Wahrheitsmut, in dem ich, je älter ich werde, mehr und mehr die Quelle aller Genialität erblicke.“ (Thomas Mann, Briefe, 1924-1932, S. 441)

1930 geschrieben, eine Spätschrift, auch eine Zusammenfassung dessen, was die Psychoanalyse bis dahin geleistet hat, ergänzt um die Einsicht, dass der Mensch neben dem Bedürfnis nach Lust auch eine starke Neigung zur Aggression hat. Das Buch ist zu lesen auf dem Hintergrund der geistesgeschichtlichen Entwicklung, und da muss, und den kannten sie um 1900 alle, mit Nietzsche begonnen werden: Nietzsche: „Die Verdüsterung der pessimistischen Färbung kommt notwendig im Gefolge der Aufklärung.“ Verdüsterung im Gefolge der Aufklärung, das dürfte für alle, die in der Aufklärung den Fortschritt und das helle Licht der menschlichen Zukunft sehen, ein starkes Stück sein. Freud ist Naturwissenschaftler und Positivist, Aufklärer, und ausgerechnet er bringt uns manches, mehr als manchem lieb ist, an Pessimismus über unsere Gattung bei.

Schon bei den Romantikern spürbar, wird jetzt, um 1900, nach den Hochrufen auf die Aufklärung, wieder erkannt, dass im Menschen nicht nur das Licht der Aufklärung, sondern auch seine Natur, das triebhaft Animalische steckt. Das animalische! Das ist aktuell, denn das Animalische hat bei uns seine Ordnung, während die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, wird, im aufgeklärten 21. Jahrhundert, der Mensch dem Menschen ein Wolf. Alle 20 Sekunden stirbt ein Kind an Hunger, und wir lassen Hilfe- und Schutzsuchende zu Hunderten im Mittelmeer ersaufen. Weltweit werden Kriege geführt, und um all das zu ertragen, verlangt man vom Menschen nicht Kenntnis, Wissen und Vernunft, sondern fördert Dummheit: 20 Prozent der Schüler, so die jüngste Pisa-Untersuchung können nicht richtig lesen.

Aufklärung, das ist der vernunftbegabte Mensch. Apriori, von Haus aus, quasi genetisch ist er mit Vernunft und humaner Ethik ausgestattet und jetzt erklärt Freud, daß dieser vernunftbegabte Mensch nicht Herr im eigenen Hause ist. Freud im Unbehagen in der Kultur: „Normalerweise ist uns nichts gesicherter als unser Gefühl unseres Selbst, unseres eigenen Ichs. Dies Ich erscheint uns selbstständig, einheitlich. Daß dieser Anschein ein Trug ist, daß das Ich sich vielmehr nach innen ohne scharfe Grenzen in ein unbewußt Seelisches fortsetzt, das, was wir als Es bezeichnen, dem es gleichsam als Fassade dient, das hat uns die psychoanalytische Forschung gelehrt.“ Das wusste auch schon Goethe, der in einem Brief an Eckermann schreibt: „Der Mensch ist ein dunkles Wesen. Er weiß nicht, woher er kommt, noch wohin er geht, er weiß wenig von der Welt, am wenigsten von sich selbst.“ Bei Büchner im Wozzeck liest man: „Der Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hineinschaut.“

Kant postuliert: „Die Welt ist vernünftig und schön“, und Leibniz sekundiert zuvor: „Wir leben in der besten aller Welten.“ Die Hoffnung der Aufklärung, Taschenlampe heraus, hingucken, dann wissen wir, wie alles richtig läuft, und wenn man das richtige Bewusstsein hat, dann obsiegt die Vernunft. Freud hält diese Hoffnung für eine Illusion. Sein pessimistischer Blick: Die Rückfallquote in die Dummheit ist ziemlich hoch, und die Einsicht in die Vernunft könne soviel nicht bewirken, nicht einmal Einsicht führt zur Besserung.

Freud, selbst Aufklärer und Positivist, bricht mit seinem Positivismus, weil ihn seine Erkenntnisse dazu nötigen. Er gerät in Widerspruch zu der These, zu der fast problem- und konfliktlosen Anthropologie der Aufklärung, daß der Mensch ein ausschließlich vernünftiges Wesen sei und er seine Vernunft nur einsetzen müsse.

Die zentralen Sätze aus der Schrift vom Unbehagen in der Kultur: „Das Leben, wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. … Man möchte sagen, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. … Es ist ein stetiger Konflikt zwischen dem Lust- und dem Realitätsprinzip.“

130 Jahre früher schreibt Goethe in einer Logenrede: Wenn der Mensch über sein Körperliches und Sittliches nachdenkt, findet er sich gewöhnlich krank. Wir leiden alle am Leben. An Christian Gottlob Voigt schreibt Goethe: Von der Vernunfthöhe herunter sieht das ganze Leben wie eine böse Krankheit aus und die Welt gleicht einem Tollhaus.“ Freud: „Das Leben ist Schmerz, Enttäuschung.“ Goethe: „Wir leiden alle am Leben.“ Mit Recht schreibt Freud in seiner Ansprache anlässlich der Preisverleihung, die, weil er selbst zu gebrechlich ist, von seiner Tochter Anna verlesen wird: „Ich denke, Goethe hätte nicht, wie so viele unserer Zeitgenossen, die Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt.“

Freuds Credo: Das Leben ist leiddurchsäuert, es ist dulden und leiden. Die Leitfiguren von Freud sind Moses, er leidet unter seinem Volk und bekommt das gelobte Land nicht zu sehen. Ödipus, der Getäuschte, der unverschuldet Schuld auf sich lädt. Odysseus, Homer nennt ihn nicht zufällig den Dulder und schließlich Hiob, den uns Joseph Roth in seinem gleichnamigen Roman als den Erdulder schlechthin vorstellt.

Mit Freud ist es sinnvoll, sich nicht für einen klinisch-medizinisch engen, sondern für einen weiten Begriff von Leiden zu entscheiden und unter diesem größeren Dach, da individuell unterschiedlich empfunden, ganz absichtsvoll wahllos durcheinander, ohne Hierarchie einige Symptome des Leidens zu nennen: Ärger, Angst, Sorgen und Phobien aller Art. In Leidenschaft steckt das Leid bereits im Wort, und dass in unserem Lande täglich ein Mann versucht, eine Frau zu erschlagen und es jeden dritten Tag auch gelingt, zeigt, dass wir es hier mit besonderen Quälgeistern zu tun haben. Goethe in der Gedichte-Nachlese: „Die Eifersucht quält manches Haus“. Für Goethe ist die Sehnsucht, aus der man dann auch schöne Gedichte machen kann, eine weitere Quelle des Leids, im Wilhelm Meister heißt es: „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“. Und selbst die Freiheit kann für Goethe Quelle des Leides sein, wenn er in den Zahmen Xenien schreibt: „Ich habe die Tage der Freiheit gekannt, ich habe sie Tage der Leiden genannt.“

Zum Leid gehört die Angst vor der Diagnose beim Arzt. Vorbeugekranke, solche, die vor Angst krank zu werden, krank werden. Das hat, hier wird es offensichtlich, immer auch mit Erwartungen zu tun. Wenn ich als Raucher zum Lungenarzt gehe, habe ich keinerlei Erwartung, die meisten aber, die zum Arzt gehen, wollen eine gute Diagnose und beste Heilungsaussichten. Für schlimmste Nöte, Angst und Qualen und häufig damit alleine gelassen sorgt das Warten auf den histologischen Befund. Am Rande angemerkt ein bemerkenswertes Paradoxon: Ist der Befund positiv, ist es für den Patienten negativ.

Ganz zweifellos: Angst und Schuldgefühle sind ein wichtiges kulturelles Steuerungssystem. Die drei Weltreligionen setzen die Schuld an den Beginn ihrer Erzählung, und auch die Aufklärung beginnt mit der Schuld, mit Kants Satz von der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Man darf nicht übersehen: Angst- und schuldfrei leben würde heißen: Man erzieht Verbrecher. Angstfrei leben heißt: Mach mal – du musst keine Angst vor der Strafe haben. Kultur, das Zusammenleben der Menschen braucht die Angst, die Angst vor der Strafe der Gesellschaft. Die Geschichte der Menschheit zeigt deutlich: Wo das Morden gesellschaftlich erlaubt ist, wird es trotz des biblischen Verbotes, trotz religiöser und weltlicher Ethik, trotz aller Aufklärung getan. Erst nach der Zerschlagung des Faschismus wurden die Massenmörder von Ausschwitz zu Verbrechern. Bis dahin waren es, ihrer gesellschaftlichen Pflicht bewusste, pflichtbewusste, anerkannte und geachtete Mitglieder der Gesellschaft.

Leid, als Form der conditio humana, manifestiert sich in zahllosen Formen von Symptomen und Leiden, und das ist wichtig, weil es in unserer eurozentristischen Sicht oft übersehen wird, es variiert nach Geschichtsepochen und Kulturen. Leid variiert auch temporal. Zeitweises Leiden, getragen von der Hoffnung es möge vergehen, chronische Leiden, dauerhaft und wiederkehrende Leiden und nicht wenige kennen den Zwang zur Wiederholung, sind Wiederholungstäter.

Leid wird sichtbar in der Trauer, aber auch im Zweifel. Bei Brecht ist vom Lob des Zweifels die Rede, bei Descartes läßt sich nachlesen, wer zuviel zweifelt, verzweifelt. Wir kennen die Qual der Wahl, bei Buridans Esel endet sie tödlich. Gewissensnot, Langeweile, der unerfüllte Wunsch, nicht nur bei schreienden Kindern am Quengelregal im Supermarkt zu beobachten, der Neid, Störungen und Qualen aller Art und nicht zu unterschätzen, der Ekel, wenn es gruselig wird. Existenzangst und Unsicherheiten generell, sonst gäbe es nicht soviel Versicherungswirtschaft, Versicherungen sind Leidvorsorge.

Hört man bei Freud genau hin, dann ist die menschliche Existenz in anthropologischer Perspektive von Grund auf gekennzeichnet durch den Mangel oder mit Goethe: Ach, es versucht uns nichts so mächtig als der Mangel;

Was ist Mangel – es reicht vom Mangel Obdach und Nahrung bis zum Mangel an Zuneigung. Es ist eine breite Skala von Mangel und defizitären Zuständen. Ausdruck des Mangels ist das Bedürfnis. Der Mensch ist bedürftig von der Wiege bis zur Bahre. Welt- und menschheitsgeschichtlich steigert sich das Bedürfnis nach Erlösung vom Leiden – Erlösungsreligionen treten ins Licht, am Kreuz nimmt Jesus das Leiden der Menschen auf sich. Das Leid ist eine Variable der fragilen, zerbrechlichen, gefährdeten menschlichen Existenz aber auch eine Variable der Erwartungen an das Leben. Hochgeschraubte Erwartungen haben eine eminente Fallhöhe. Goethe im Faust: „Beschwichtige meine Gedanken, erleuchte mein bedürftig Herz.“

Die Psychoanalyse hat sich zunächst als Mittel zur Minderung und Aufhebung von Leid, als medizinisch-klinische Heilungsmethode für das Individuum entwickelt, und ihr erster wertvoller Beitrag war die Erkenntnis, dass neben dem Bewussten ein Unbewusstes, neben dem Ich ein Es existiert. Ein Es, von dem wir nichts wissen und zu dem wir, was wir nicht wissen wollen, was wir verdrängen, hinab befördern. Ein Es, das aber, wiederum ohne dass wir es merken, eminenten Einfluss auf unser Bewusstsein und Tun hat und sich bis in Kleinigkeiten, ins Verlegen, Vergessen und Versprechen, im Lachen und Erröten, im Zucken der Augenbrauen und vielen anderen körperlichen Zeichen bis hin zur ernsthaften Krankheit bemerkbar macht. Das Es hat einen biochemischen Anteil, der sich mit dem, was wir verdrängen verschränkt.

Für den biochemischen Anteil hat Freud einen lateinischen Ausdruck, er nennt ihn Libido. Die Libido als unser aller Energie und Antriebskraft mit dem Zentrum des Sexualtriebes, somatisch, körperlich-medizinisch. Von daher bei Freud auch immer die Neigung, seine Erkenntnisse naturwissenschaftlich-biosomatisch zu erklären. Es ist der Expansionsdrang eines Spezialisten, wir kennen das heute von den Hirnspezialisten, die ebenfalls versuchen, alles und jedes unter ihre eigenen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu subsumieren.

Das Es, Freud nennt es auch das Lustprinzip, wird beherrscht vom Ich. Erlebbar wird das Es, wenn sich der Druck des Unbewussten in kleinen psychischen Symptomen, aber auch in Krankheit äußert oder auch in Situationen, in denen wir uns fragen, was nur in uns gefahren ist. Es ist aber nichts in uns hineingefahren, es kam aus uns heraus, was wir an Unbewusstem, Biochemischen und an Verdrängtem, Sozialem in uns aufgesammelt hatten. Freud: „Es gibt Prozesse in uns, die stärker sind als das, was Ich sagt.“ Hinzugefügt werden darf, was offensichtlich ist, dass durch unterschiedliche Sozialisation die Ich-Stärke und Ich-Schwäche individuell sehr unterschiedlich ausgebaut sind. Hinzugefügt auch: In der Sprache des Alltags heißt es: Da stand ich neben mir, ich kenne mich selbst nicht mehr, oder etwas veraltet, aber sehr schön: Sie hat sich vergessen. In der Descartschen Maschinensprache heißt es, da habe ich nicht richtig getickt, da bin ich ausgerastet, ich hatte mich nicht im Griff. Aber dann doch auffallend, häufig geht die Sprache hier direkt ins Tierreich: Ich wurde vom Affen gebissen, da ging der Gaul mit mir durch, ich wurde von der Tarantel gestochen, ich habe die Sau rausgelassen. Für das Bewusste haben wir seit Descartes die Maschinensprache, für das Unbwusste greifen wir häufig zu Metaphern aus dem Tierreich.

Freuds Modell der Psyche bestand am Beginn nur aus Es und Ich. Erst im Laufe des Entwicklungsprozesses der Psychoanalyse wird es erweitert durch das Über-Ich, durch die Repräsentanz der Gesellschaft, das ist bei Freud, seiner Zeit geschuldet, noch häufig auf die Familie gemünzt, insbesondere die familiäre Autorität in uns, auf eine Figur, die es zu Freuds Lebzeiten noch gab, auf den starken Vater. Wir tun Freud nicht Unrecht, wenn wir diese Verengung erweitern, und mit Freud im Rücken lassen sich ganz unerschrocken google, twitter und face-book, aber auch die Autoritäten des Konsumzwangs und der Unterhaltungsindustrie hinzurechnen.

Die Instanz des Über-Ich, die Gesellschaft, Zivilisation und Kultur sorgen dafür, dass wir lernen, uns unsere Triebe und Wünsche zu versagen, wenigstens aber auf eine sofortige Triebabfuhr zu verzichten. Dass die Arbeit vor dem Vergnügen kommt, muss erst gelernt werden. Es entwickelt sich Schuldbewusstsein, die Vorstellung von Schuld und Scham. Es entwickelt sich der innere Skrupel, abgeleitet von scrubus, dem spitzen Stein und damit gemeint. Hemmung, Besorgnis, Gewissensbiss.

Das Über-Ich wird verinnerlicht, es wird zum Richter, dessen: Was darf ich und dessen: Was soll ich machen? Es funktioniert als Gewissen, und es funktioniert als Selbstbeobachtung und bildet aus, was wir Ideal nennen. In der heute um sich greifenden Extremform wird es pathologisch, wird zum Wahn, verbunden mit allerlei technischen Messinstrumenten zum Selbstbeobachtungs- und Selbstoptimierungswahn.

Mit der Einführung des Über-Ich, mit der Erweiterung des Modells, mit der gesellschaftlichen Repräsentanz ist der Weg für die Psychoanalyse offen, sich über den medizinisch-klinischen Bereich des Heilens hinaus und zur Kulturtheorie, zu einer Anthropologie zu entwickeln. Thomas Mann: „Die PA ist dem bloß medizinischen Bezirk längst entwachsen und zu einer Weltbewegung geworden, von der alle möglichen Bereiche sich ergriffen zeigen.“

Das Ich, auf das viele stolz und selbstverliebt blicken, wird uns von Freud vorgestellt in einer Sandwich-Funktion, in einem Abwehrkampf, als Vermittler zwischen Es und Über-Ich, als der Diener dreier gestrenger Zwingherren. 1. Unsere Ausßenwelt, die Natur. 2. das Realitätsprinzip, das Über-Ich, die Gesellschaft und 3. das Es mit dem Verdrängten und dem Bios. Freud spricht vom armen Ich, vom Ich als Kaspar und Clown im Abwehrkampf gegen das, was der Mensch an Schuld und Gewissen von der Gesellschaft mitbekommen hat, und das ist nicht nur die ethisch-aktuelle Regulierung, das ist auch Alp und tiefer Ziehbrunnen der Geschichte. Das arme Ich hat sich auseinanderzusetzen erstens mit der Realität, zweitens mit dem Ererbten, drittens mit der Ethik, die als Handlungsrichtschnur zwar vorteilhaft ist, aber das „Du sollst“ und das „Du sollst nicht“ lastet schwer.

Das Ich im Abwehrkampf mit den eigenen Trieben, dem Es, mit dem, was man an Leiblichkeit mit sich herumschleppt. Bei allen Leidenschaften, wenn alles hoch kommt, erst da sieht man, was im Es für Schutt verwaltet wird. Manchmal kommt das schon hoch, wenn es nur ein klein wenig unbequem wird. Das Ich ist damit beschäftigt, alle Ansprüche und Wünsche, die von den Trieben ausgehen, immer dann, wenn diese nicht dem Realitätsprinzip entsprechen, zu berichtigen oder wenigstens zu dämpfen. Nicht jetzt, später, oder auch: Gar nicht, mach was anderes, sublimiere, grabe den Garten um, gehe deinem Hobby nach, schreibe ein Gedicht oder eine Klage in Moll. Das Ich ist ununterbrochen damit beschäftigt, Unlust von uns fern zu halten und das Leben halbwegs erträglich im Realitätsprinzip einzurichten, den Konflikt zwischen Lust- und Realitätsprinzip auszubalancieren.

Gegenüber der äußeren Realität hat das Ich die Funktion der Realitätsprüfung, und was es aus dem Geprüften macht, ist sehr verschieden. Fällt die Prüfung der Realität so aus, dass sie Unlust bereitet, dann kann man entweder etwas verändern, oder man versucht es zu vermeiden. Unlustvermeidung, Unlustabwehr, Linderungsmittel: Wilhelm Busch: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“.

Freud notiert über das Programm der PA: „Ihre Absicht ist es, das Ich zu stärken, es vom Über-Ich unabhängiger zu machen, sein Wahrnehmungsfeld zu erweitern, seine Organisation auszubauen, so daß das Ich sich neue Stücke des Es aneignen kann. Wo es war, soll ich werden, es ist Trockenlegung der Zuydersee.“

Was heißt Trockenlegung? Die Feuchtgebiete entfeuchten, die Triebe dämpfen, die Libido umlenken. Es beginnt mit der Beschneidung, Einhegung und Zentrierung der Partialtriebe. Unser kindliches anales Lustempfinden wird uns ausgetrieben, wir müssen lernen, unseren Schließmuskel zu beherrschen. Wir werden getrennt von der lust- und nahrungsspendenden Brust, unsere Zeige- und Schaulust wird gezähmt, alle Partialtriebe werden beschnitten und auf den Genitaltrieb konzentriert, bestenfalls als Mittel der Vorlust gestattet, schlimmstenfalls als Perversion gebrandmarkt. Wir haben eine domestizierte Vielheit, eine Verstümmelung der Partialtriebe. Erich Kästner: „Die Entwicklung geht vom Früchtchen zum Spalierobst.“ Wer die Hecke kultivieren will, muss sie beschneiden, die wilden Triebe müssen gebändigt werden. Brecht läßt seinen Herrn Keuner einen Lorbeerbaum zu einer Kugel beschneiden, und am Ende fragt der Gärtner enttäuscht: „Gut, das ist die Kugel, aber wo ist der Lorbeer?“ Adorno zeigt das sehr schön an einer Musikform, an der Aufstellung des Jazz. Da dürfen im regressiven, kurzzeitig stets die Partialtriebe, die falschen Noten, die dirty notes, für sich selber springen, werden dann aber wieder in den Ordo gebracht. Es sind domestizierte Partialtriebe, im Jazz nennt man das Improvisation jeder tut seines, danach klatschen die Leute, und dann wird alles wieder schön in die Reihenfolge gebracht, bis es am Ende wieder im gemeinsamen Thema gebändigt ist.

Neben Es, Ich und Über-Ich wird, wenngleich spät, das Modell mit dem Aggressionstrieb weiterentwickelt. Allerdings ist Freuds Aggressionstheorie schwankend und unklar bleibt: Ist die Aggression eingelagert in unsere Ausstattung der Selbsterhaltung, also biologische Veranlagung und/oder ist es die Folge von Zivilisation? Trotz dieser Ambivalenz gehört zu Freuds großen Leistungen seine Einsicht und Erkenntnis in die Verstümmelung unserer Triebe. Kultur und Zivilisation heißt Verzicht und Versagung, heißt Unterdrückung von Triebelementen und damit Herausbildung von Aggression. Und ungeachtet seiner Versuche, die Aggression auf das Biologische zurückzuführen, war er dann doch auch der Auffassung, dass die Zivilisierung, weil Triebverzicht fordernd, einen nicht unwesentlichen Einfluss hat.

Freud entwickelt für Es und Ich zunächst eine Topic, eine Ortsbeschreibung, um dann mit der Einführung des Über-Ich die Topic in ein dynamisches Modell zu überführen. Seine Leistung ist, das hat der eingangs zitierte Rufer bei der Bücherverbrennung durchaus richtig erkannt, die Zerstörung und Auflösung der organischen Einheit der Seele. Die Konflikte, die sich für das Individuum ergeben, äußern sich in Krankheitssymptomen, im Konflikt; bei Freud allerdings immer mit der Neigung zum naturwissenschaftlich-positivistischen, dem Versuch, es ins Biologische zu verlegen. Gleichwohl stößt er paradoxerweise bei dem, was er als angewandte Psychoanalyse verstanden wissen will, auf die inneren psychologischen Zellen der Gesellschaft. Er wollte nur PA machen, hat aber zeigen können, fast möchte man sagen, wider eigenem Willen, dass in den innersten Zellen, im Unbewussten, in den kleinsten Regungen sehr viel Form von Gesellschaft steckt

Freud ist Konflikttheoretiker, und der entscheidende Konflikt, die entscheidende Ursache für das Entstehen von Leid, ist für Freud der Antagonismus, der unauflösliche Konflikt, zwischen Triebanforderungen und Kulturanforderungen, zwischen Trieb und Zivilisation, zwischen Lust und Realitätsprinzip.

Freud: „Das Wesen der Kultur, deren Glückswert in Zweifel gezogen wird, wir werden keine Formel fordern, die dieses Wesen in wenigen Worten ausdrückt, es genügt uns, daß das Wort Kultur die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen bezeichnet, in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: Dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelungen der Beziehungen der Menschen untereinander.“

Mit den zwei Zwecken nennt Freud drei Quellen des Leides:

1. Leid an der unbezwungenen Natur, an vielerlei Arten von Naturkatastrophen. Die Unterwerfung der Natur, eine jahrhundertalte Sehnsucht, mit Alfred Döblin, aus seinem Roman 1919: „Wir können in der Natur nichts liegen lassen, ohne es aufzuheben, zu wiegen zu messen, zu berechnen“. Der Mensch wirkt auf die Natur ein, verändert sie, schafft sich seine Existenzbedingungen. Die Veränderungen der Natur gehen ohne menschliches Zutun unmerklich langsam vor sich, sind unberechenbar klein, aber das Werk des Menschen hat Erdoberfläche, Klima, Vegetation, Fauna, ja auch den Menschen selbst in großer Rasanz verändert. Zugleich aber erfahren wir: Die Natur rächt sich für jeden Sieg, den wir über sie erlangen mit Folgen, die oft erst in zweiter oder dritter Linie erkennbar werden (Engels). Goethe zu Eckermann: Die Natur versteht keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen. Hat man früher gesagt: Der Mensch denkt, Gott lenkt, heißt heute der moderne Fachbegriff not expected consequenzes, unerwartete Folgen. Mit jedem Schritt werden wir daran erinnert, dass wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand der außer der Natur steht – sondern daß wir selbst Teil der Natur sind. (Engels)

Unbestreitbar, die Beherrschung der Natur ist in großen Teilen gelungen, unbestreitbar aber auch, trotz allem wissenschaftlich-technischen Fortschritt verursacht, was wir mit unserem Planeten anstellen vielerorts Angst und Leid. „Unbestreitbar,“ und jetzt zitiere ich Freud, „der Mensch hat es in Wissenschaft und Technik weit gebracht, er hat es weit gebracht bei der Beherrschung der Natur und bei der Beherrschung seiner körperlichen Leiden, er hat sich Wissen und Kenntnisse angeeignet, er hat es soweit gebracht, daß er in der Lage ist sich und seine Planeten zu vernichten“. Schon bei Voltaire, in Candide und der Optimismus findet sich: „Die Menschen müssen sich schon von der Natur entfernt haben, denn sie werden zu reißenden Wölfen, obwohl sie nicht als solche auf die Welt kommen. Gott hat ihnen weder Vierundzwanzigpfünder noch Bajonette gegeben, sondern sie haben alles beides selbst erfunden, um sich gegenseitig zu vernichten.“

Es zeigt sich: Aller Fortschritt der Naturbeherrschung konnte das menschliche Glück nicht auf Dauerbetrieb stellen, das Glück bleibt im Sparmodus, es bleibt Episode.

2. Zur unbezwungenen Natur gehört die Hinfälligkeit des Körpers, Schmerz, Krankheit und Tod. Zweifellos: Der Mensch ist besser denn je gegen die Gebrechen seines Körpers, gegen Krankheit gewappnet, die Lebenserwartung steigt. Aber, das längere Leben, so scheint es, wird nur allzu oft erkauft, und erkauft weist darauf hin, dass das ein Geschäft ist, erkauft für ein Leben mit dem Schmerz und mit der Krankheit. Ein Grund, warum der Wunsch nach einem selbstbestimmten Tod, nach Selbsttötung zunimmt. Auch Freud stellt die Frage: „Was soll uns ein langes Leben, wenn es beschwerlich, arm an Freuden und so leidvoll ist, daß wir den Tod als Erlöser bewillkommen können“. Der Tod als Erlöser, ein Wunsch, dem man allerdings in unserem Lande, auch wenn es für den Einzelnen zur Leidprüfung wird, aus guten historischen Gründen nicht nachgeben sollte.

3. Leid am anderen Menschen.

Goethe im Gespräch mit Eckermann: „Ja, mein Guter, man hat an seinen Freunden zu leiden gehabt.“ Freund sehr viel pointierter: „Viele Menschen seien eher hassenswert.“ Mit dem christlichen Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“, konnte sich Freud nicht anfreunden. Wir haben es heute, wo sich jeder selbst der Nächste ist, leichter, und zu fragen bleibt, wie entfernt der Nächste, der geliebt werden soll, ist. Noch wird um das verstorbene Haustier mehr getrauert, als um das Kind, das in Afrika an Hunger stirbt.

Freud: „Die Kultur muß alles aufbieten, um den Aggressionstrieben des Menschen Schranken zu setzen. … Daher das Idealgebot, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst, das sich wirklich dadurch rechtfertigt, daß nichts anderes der ursprünglichen menschlichen Natur so sehr zuwiderläuft.“ Das ist Thomas Hobbes: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf geworden, und zur heutigen Lage in der Welt lässt sich sagen, dass diese Grundfiguration sich gebessert hat, seit Hobbes das im 17. Jhdt., Voltaire dies im 18. Jhdt. und Freud im Jahre 1930 geschrieben hat?

Auch bei den sozialen Beziehungen muss man die triebischen Befriedigungsmöglichkeiten einschränken, und Freud knüpft hier an Thomas Hobbes und seine pessimistische Anthropologie an. Der Satz bei Freud lautet: „Die individuelle Freiheit ist kein Kulturgut. Sie war am größten vor jeder Kultur, allerdings damals meist ohne Wert.“ Die Anarchie der Triebe, das wäre individuelle Freiheit, frei zu sein, seine Triebe auszuleben.

Folgendes leuchtet vielleicht ein: Das nächstbeste, schlimmer noch des Nächsten Weib nicht nur begehren, sondern auch nehmen dürfen, das muss ich jetzt nicht weiter ausführen. Ich zitiere lieber Freud: „Wir haben von der Kulturfeindlichkeit gesprochen, erzeugt durch den Druck, den die Kultur ausübt, die Triebverzichte, die sie verlangt. Denkt man sich die Verbote aufgehoben, man darf also jetzt zum Sexualobjekt jedes Weib wählen, das einem gefällt, darf seinen Rivalen beim Weib, oder wer einem sonst im Weg steht, ohne Bedenken erschlagen, kann dem anderen auch irgendeines seiner Güter wegnehmen, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, wie schön, welch eine Kette von Befriedigungen wäre das Leben. Der Freiheitsdrang (gemeint ist der impulsive, der triebische, man darf auch die Buchstaben verwechseln und der tierische sagen) der Freiheitsdrang richtet sich gegen bestimmte Formen und Ansprüche der Kultur oder gegen die Kultur überhaupt.“ Alle sozialen Beziehungen, der Umgang mit- und untereinander verlangt Zähmung, mit Freud: „Kultur, erfordert permanenten Triebverzicht.“

Um den Kulturanforderungen gerecht zu werden muss man gegen die eigene Natur angehen – im Extrem, bis es kippt und pathologisch wird. Zugleich: Es ist immer wieder daran zu erinnern, dass Kultur historisch, politisch, sozial ist, dass es eine immerwährende Kultur nicht gibt, und schon gar nicht, dass sie dem Menschen innewohnt. Nicht wenige leiden an sich selbst, an Perfektionismus, Ordnungszwang, Pedanterie. Das alles ist angelernte Kultur, Natürlichkeit hingegen, Reste davon, finden wir, je weiter wir nach Süden kommen, das wäre Nachlässigkeit, Unregelmäßigkeit, Unzuverlässigkeit, Unpünktlichkeit. Angemerkt: Es schon auffällig, dass der Hang zu Ordnung, vor allem aber zu Sauberkeit bei den Frauen entschieden stärker ausgeprägt ist. Offensichtlich ist das nicht genetisch, nicht geschlechtsspezifisch, es ist Sozialisation.

Waschzwang und Ordnungszwang, dafür gibt es bei den Krankenkassen einen Therapieschlüssel. Einen Therapieschlüssel gibt es auch für eine weitere Anforderung unserer Kultur, die da lautet: Du musst glücklich sein. R 45.2, dieser Therapieschlüssel steht für: Unglücklich sein. Für die Mediziner, aber keineswegs nur für sie, gilt nur als gesund, wer glücklich ist, Unglückliche sind krank. In unserer zivilisierten Gesellschaft herrscht ein Kultus des Glückes, und wer aus dem Urlaub zurückkommt und sagt, er habe schlechtes Wetter gehabt, ist schon ein Unglücksvogel. Glücklich sein und glücklich werden wird zum Leistungsdruck zur gesellschaftlichen Norm. Don’t worry, be happy!

Glücklich zu sein, ist Pflicht geworden, und der Hilfsmittel sind viele. Morgens Vitasprint um fit für den Tag zu sein und abends hilft Melaton gegen Stress und Erschöpfung beim guten Einschlafen. Freud: „Es ist Zeit, daß wir uns um das Wesen unserer Kultur kümmern, deren Glückswert in Zweifel gezogen wird“,denn so Freud: „Daß der Mensch glücklich sei ist im Plan der Schöpfung nicht vorgesehen“

Glück hat vier Dimensionen:

1. Glück als Ereignis. Auf gut Glück etwas tun und mit Göttin Fortuna im Bunde stehen.

2. Glück als Magie, sichtbar in der Dekoration des Interieurs. Feng shui, die Buddhastatue, Glücksbringer aller Art oder die muslimische Variante Amulette, die antijüdische wäre das Glücksschwein und die aktuelle Mode ist das Tätowieren, wofür bei Moses, weil es als Magie galt, die Todesstrafe gestanden hat.

3. Glück als Eigenschaft. Bei Maupassant, Bel Ami, da ist das Glück bei Frauen eine Eigenschaft. Ödipus, der wird von Sophokles vorgestellt als Kind des Glückes. Ein Glückspilz also, wer sich selbst täuscht.

4. Schließlich: Glück als Zustand, als innerweltliche zeitenthobene Seligkeit. Dem Glücklichen schlägt keine Stunde. Aber mit Hemingway wissen wir, wem die Stunde schlägt, alle Glückszustände sind befristet, sind Episode. Glück als Zustand ist wesentlich befristet. Die französische Sprache kann das besser: Dort heißt die glückliche Stunde bonheur, und beendet wird sie zumeist vom Malheur, von der Fehlhandlung.

Nicht übersehen werden kann: Glück ist subjektiv. Waren die Menschen früher glücklicher? Wir wissen es nicht, denn wir schauen mit unserem psychischen Haushalt zurück. Und Glück ist immer subjektiv, und einfühlen in ein Subjekt der Vergangenheit ist unmöglich. Der heute unentwegt erklingende Ruf nach Empathie wäre ein Hinweis darauf, dass wir schon große Schwierigkeiten mit dem Einfühlen in unsere Zeitgenossen haben.

Glück, Streben nach Glück, das ist ím weitesten Sinne sowohl positiv wie negativ: Negativ als Leidminderung: Glück als Abwesenheit von Schmerz und Leid. Das kenne ich von Müttern, die auf die Frage, wie es ihnen geht, zumeist damit antworten, dass das Kind Krankheit, schulische oder andere Probleme überwunden hat. Positiv, aber das findet sich, vermutlich wegen der immer noch vorherrschenden Tabuisierung seltener: Die Bedeutung starker Lustgefühle.

Die Psychoanalyse will heilen, zweifellos, Freud ist Mediziner, aber es findet sich bei Freud keine Stelle, die auf die Abschaffung des Leids insistiert. Er hat auch große Zweifel, dass dies gelingen könnte, wenn man die gesellschaftlichen Verhältnisse ändert. Für Freud ist das eine Illusion, eine Wunschvorstellung. Der Grundtenor bei Freud ist nicht Erlösung vom Leid, sondern vielmehr Leidminderung. Die Psychoanalyse ist jedenfalls kein Abschied vom Leid und auch keine Schule des Glücksversprechens, kein Rezept für Glück als Dauerzustand. Mehr noch: Die Psychoanalyse, wie sie sich nach Freud entwickelt, die Mehrheit der Psychotherapeuten unserer Zeit haben zum Ziel, dass der Mensch in der ihn krank machenden Gesellschaft wieder funktionieren kann. Am häufigsten, durchaus erfolgreich angewendet, Verhaltenstherapien, das bessere Wort wäre Anpassungstherapien, Anpassung an das, was uns krank macht, und wenn das nicht hilft, dann gibt es ein paar rosa Pillen.

Was Freud zur Leidminderung empfiehlt, und damit komme ich zum Schluss, das Leiden unter dem Vortrag hat für Sie ein absehbares Ende, was Freud empfiehlt, sind Lockerungen, Ermäßigungen, Erleichterungen, und er beginnt dieses Kapitel mit Wilhelm Busch: „Wer Sorgen hat, hat auch Likör“ und er nennt uns dann drei Möglichkeiten:

Erstens: „Mächtige Ablenkungen, die unser Elend gering schätzen lassen“ und für Freud gilt: Je mächtiger die Ablenkung, um so größer das Leid und der Riss zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Ohne Zweifel: Das große Geschäft unserer Zeit: Spaß- und Unterhaltung. Überbordende Event- und Illusionsindustrie. Schon Hegel wusste: Was heute als Kunst präsentiert wird, dient der Unterhaltung, ist flüchtiges Spiel. Sehr schön demonstriert, wenn das Kunstwerk durch den Schredder läuft. Als Literatur zu empfehlen. Neill Postman: Wir amüsieren uns zu Tode.

Die zweite Möglichkeit, die uns Freud nahe legt: Ersatzbefriedigungen jeglicher Art. Freud nennt ausdrücklich, zu seiner Zeit hat das sofort einen Skandal erregt: Masturbieren! Wer davor Angst hat, weil das, wie man mir noch beigebracht hat, Rückenschmerzen verursacht, dem empfiehlt Freud Heimwerken oder was Voltaire bereits seinem Candide empfiehlt: Gartenarbeit. Unübersehbar: Bau- und Gartenmärkte sind wie die Unterhaltungsindustrie ein großes Geschäft. Hilfreich auch: Hobbies und Steckenpferde aller Art, vor allem aber so Freud: Kunst als Illusion gegen die Realität, psychisch wirksam dank der Rolle, die die Phantasie im Seelenleben spielt. Das könnte er von Liszt haben der bereits wusste: „Es ist die Mission der Kunst, die Triebe zu besänftigen und zu veredeln.“

Drittens empfiehlt Freud ganz unerschrocken Rauschstoffe, toxische Stoffe aller Art, die uns für unser Elend unempfindlicher machen sollen. Einen Liter reinen Alkohol trinkt der Deutsche, wobei der riskante Alkoholkonsum bei den Frustiertesten, bei den 45- bis 65-Jährigen am höchsten ist. 550.000 werden jährlich wegen Alkoholmißbrauch ins Krankenhaus eingeliefert, die jährliche Zahl der Verkehrstoten liegt bei 3.200, die wegen Alkoholmißbrauchs bei 74.000.

Wie groß das Leid sein muss, zeigt sich daran, dass die Industrie, die uns die Linderungsmittel bereitstellt, ein hochprofitabel florierender Geschäftszweig ist. Der Mensch ist ein unermüdlicher Lust- und Glückssucher. Die Leute rennen nach dem Glück, das Glück läuft hinterher, dichtet Brecht.

Freud schreibt diese Arbeit nach Nietzsche, und der hat die Frage gestellt, was ist der Sinn des Lebens, wenn Gott tot ist? Die Antwort der Warenwirtschaft: Konsum, besser Konsumzwang und Unterhaltung, aber auch: Abwesenheit und Linderung von Schmerz oder die Erlebnissteigerung, der Kick. Dann stehen sie Schlange beim Bungie-Springen, und am Mont Everest erfrieren die Leute, weil der Aufstieg durch einen Stau verzögert wird. Die Mehrheit aber, so Freud, und das wäre, was an Glück möglich ist, richtet sich im lauen Behagen ein.

Im Grunde genommen sagt Freud: Gebt den Glauben an das Glücksversprechen und die eigenen Erwartungen an das Glück auf. Was man machen kann ist, dass man sich ein klein wenig entschädigt, und es gibt die Leidvermeidung durch Flucht in die Krankheit, in die Neurose. Eine Versöhnung mit dem Leid als Krankheitssymptom. Es ist nicht falsch, auch nicht paradox, dass die Kranken die Gesunden sind, weil sie verspüren noch, was ihnen angetan wird. Der Rest ist Milderung im Rausch des Alkohols, des Konsums, der Unterhaltung, und das Wort Rausch deutet daraufhin: Es ist pathologisch.

Virginia Woolf, Zeitgenossin von Freud, machte auf den verheerenden Zustand unserer Kultur aufmerksam, sie schreibt: „Heute kann kein einzelner Mensch mehr dem Druck der gesellschaftlichen Verhältnisse widerstehen. Sie fegen über ihn hinweg und vernichten ihn. Sie lassen ihn gesichtslos, namenlos, lediglich als ihr Instrument zurück.“

Es ist eine pessimistische Anthropologie die uns Freud vorlegt. Freud hat keinerlei Illusionen, was an Versöhnung zwischen menschlicher Natur und menschlicher Kultur möglich ist, es gibt für ihn keinen Ausweg aus der Notwendigkeit des Triebverzichtes: Freud: „Das Lustprinzip ist ein Programm – und es liegt im Hader mit der ganzen Welt, nicht durchführbar, alle Einrichtungen des Alls widerstreben ihmDie Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten. Glück ist seiner Natur nach nur ein episodisches Problem“

Das mag einem nicht gefallen, richtig ist gleichwohl, dass in der bisherigen Weltgeschichte die Abschaffung des Leidens nicht gelungen ist, und in jedem Falle ist ausdrücklich zu warnen vor Büchern und Rezepten von Gurus jeglicher Art, die Ratschläge geben, wie das Glück und die guten Gefühle entstehen. Aber vielleicht hält man es dann doch mit dem, was Goethe im Wilhelm Meister“ uns nahelegt und was bei Freud als Leidminderung gegolten hätte: „Man sollte“, sagte Goethe, alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.“

Goethe als Freimaurer

Vortrag von Dr. Gerhard Müller, Jena, am 3. Dezember

Goethe war Mitglied der Weimarer Loge „Amalia“. In seinen Werken sind viele Bezüge zur Freimaurerei zu erkennen. Nach einem Gesuch beim Meister vom Stuhl, dem Geheimen Rat Jacob Friedrich Freiherr von Fritsch, wurde Goethe am 23. Juni 1780 als Lehrling in die Loge aufgenommen. Genau ein Jahr später wurde er zum Gesellen befördert, und den Meistergrad erhielt er am 2. März 1782, unmittelbar nach der Meistererhebung von Herzog Carl August.

Da die Weimarer Loge bereits 1783 ihre Tätigkeit einstellte, war die Freimaurerei in Weimar für einige Jahrzehnte nicht mehr aktiv präsent. Erst mit der Neugründung der Loge 1808, bei der eine Umstellung vom früheren System der strikten Observanz auf die moderne Lehrart Friedrich Ludwig Schröders erfolgte, findet man Goethe wieder in aktiver Logenarbeit. Allerdings erschien er nur selten in den Verrsammlungen, an seiner Stelle erschien oft Sohn August.

Jedoch haben ihm die geheimen Wissenschaften nicht mehr noch weniger gegeben, als er hoffte, wird in einem seiner Briefe deutlich. Bereits 1781 warnte er seinen Schweizer Freund Johann Caspar Lavater: „Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und unter freiem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mitternacht in keinem Gewölbe.“

Es scheint hier, dass Goethe kein wirliches Interesse an der Freimaurerei gehabt habe. Allerdings wird man kaum behaupten können, er habe das freimaurerische Ideal der aufklärerischen Menschenveredlung nicht ernst genommen, ist doch sein eigenes literarisches Werk wie die gesamte Weimarer Klassik eigentlich nichts anderes, als ganz im Sinne des Ideals der Freimaurerei eine beständige Arbeit an der Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen zu sein.

Die erste Loge auf dem Boden des Herzogtums namens „Zu den drei Rosen“ entstand 1744 als Tochtergründung der Berliner Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ in Jena. Nach dem Siebenjährigen Krieg konnte die Berliner Hegemonie in Mitteldeutschland nicht mehr aufrecht erhalten werden, und ein anderer, von Kursachsen ausgehender Freimaurerbund suchte die Logen unter seinen Einfluss zu bringen. In Jena geschah dies mit Hilfe eines geheimnisvollen Fremden namens Johann Friedrich Johnssen, der als Emissär der geheimen Oberen des Templerordens auftrat. In einem raffinierten Coup gelang es ihm 1763, die Jenaer Freimaurer dazu zu bewegen, sich von der Berliner Mutterloge zu lösen.Fritsch, ein junger kursächsischer Adliger, wurde schließlich dort Meister vom Stuhl. Man war auf Erkenntnis templerischer Geheimnisse erpicht. Im Mai 1764 wurde in einem Seitental der Saale, in Altenberga, der neue Freimaurerbund gegründet. Dort kam es zum Eklat. Als Johnssen die Geheimnisse der Templer offenbaren sollte, verschwand er plötzlich, angeblich auf Geheiß der geheimen Oberen, mitsamt der Ordenskasse. Das Ziel war dennoch erreicht: der Zusammenschluss der in Altenberga vertretenen Orden zum „Orden vom heiligen Tempel zu Jerusalem“, meist kurz „Orden der strikten Observanz“ genannt. Der neue Bund unterwarf die angeschlossenen Logen einer straffen bürokratischen Struktur und militärischen Disziplin, deren Kernstück neben dem Bekenntnis zum christlichen Glauben die eidliche Verpflichtung zum „unbedingten Gehorsam“ gegenüber den bekannten und unbekannten Ordensoberen bildete. Die „Rosenloge“ in Jena wurde geschlossen und dafür die Loge „Amalia zu den drei Rosen“ in Weimar, ebenfalls unter Fritschs Leitung, neu gegründet. Johnssen wurde Monate später als Betrüger und Hochstapler aufgegriffen und inhaftiert.

Die „Strikte Observanz“ geriet in Folge einer nicht abreißenden Kette von Hochstaplerskandalen in Bedrängnis, in den Logen wurde zudem eine zunehmende Kritik an der Tempelherrenlegende und dem Treiben des Inneren Ordens laut. Manche Kräfte strebten eine radikal-aufklärerische Reform der Freimaurerei an. In Weimar war Johann Joachim Christoph Bode die treibende Kraft. Ein im Sommer 1782 nach Wilhelmsbad bei Hanau einberufener Konvent der Strikten Observanz, der über die Zukunft des Ordens entscheiden sollte, wurde auch von Goethe, wie seine Briefe zeigen, mit Spannung verfolgt. Das Ergebnis von Wilhelmsbad war nach fünfzig Sitzungstagen ein Kompromiss: Die Legende, dass die strikte Observanz die Fortsetzung der mittelalterlichen Tempelherren sei und der Bezug auf „unbekannte Obere“ mit unbedingter Gehorsamspflicht wurden für obsolet erklärt. In diesem Sinne führte Bode am 10. Dezember 1782 auch Goethe und Carl August in den Inneren Orden ein und erhob sie zu „schottischen Meistern“. Die Strikte Observanz firmierte jetzt als „Orden der wohltätigen Ritter der heiligen Stadt“.

Goethe und Carl August erlangten auf diese Weise Zugang zu den „unterirdischen Gängen“. Aber die erhoffte Möglichkeit, darin zu agieren, blieb ihnen dennoch verwehrt, da die in Wilhelmsbad beschlossene Verlegungdes Ordensdirektoriums nach Weimar nicht vollzogen wurde.

Aber die Alternative war schon vorbereitet. Schon in Wilhelmsbad hatte der umtriebige Bode Verbindungen mit dem 1776 von Adam Weishaupt gegründeten Orden der Illuminaten geknüpft, der eine radikal aufklärerische Programmatik vertrat und sich nun als Ersatz für den Inneren Orden der Strikten Observanz anbot. Im März 1783 traten auch Goethe (Abaris), Carl August (Äschylos) und Herder (Damasus) dem Illuminatenorden bei. Der Orden wurde allerdings seit 1785 reichsweit verfolgt.

Goethe nutzte die Netzwerke der Freimaurerei und des Illuminatenordens sogar während seiner Italienreise. Die von dem dänischen Freimaurer und Illuminaten Friedrich Münter gegründete Illuminatenloge in Rom kontaktierte er wohlweislich nicht, denn in Rom, wo die päpstliche Inquisition lauerte, konnte es lebensgefährlich werden, wenn man als Freimaurer denunziert wurde. Und Goethe wurde ja geheimdienstlich überwacht. Im aufklärungsfreundlichen Neapel war die Aufnahme freimaurerischer Kontakte leichter möglich. Der in der „Italienischen Reise“ beschriebene geheimnisvolle Empfang bei der „Principessa ***“, wo Goethe den bedeutenden Staats- und Rechtsphilosophen Gaetano Filangieri kennenlernte, besaß einen illuminatischen Hintergrund, gehörte Filangieri doch der ebenfalls von Münter gegründeten Illuminatenloge in Neapel an. Ohne jenes Netzwerk wäre es Goethe jedenfalls nicht möglich gewesen, die Identität des geheimnisvollen Wundermannes Graf Cagliostro, dessen Gründung einer „ägyptischen“ Freimaurerloge in Paris ebenso wie seine Verwicklung in die spektakuläre Halsbandaffäre der französischen Königin Marie Antoinette damals die europäische Öffentlichkeit beschäftigte, bei seinem Aufenthalt in Palermo aufzuklären.

In Plaermo, wo sich Goethe wie üblich incognito als Philipp Möller aufhielt, war seine Identität jedenfalls schon bei seiner Ankunft bekannt. So wurde er zur Ostertafel des Vizekönigs von Sizilien, des Fürsten Francesco d’Aquino, gebeten. Dort traf er, wie er in der „Italienischen Reise“ schilderte, einen alten Bekannten, den Malteserritter Graf Antonio Statella wieder, den er einst bei einem Aufenthalt am Hof des Kurmainzer Statthalters, des Freiherrn Carl Theodor von Dalberg in Erfurt kennengelernt hatte und der sich jetzt „mit bedenklichem Anteil“ nach ihm und den Weimarer Bekannten erkundigte. Auch in Palermo wirkte sich Goethes Freimaurertum förderlich aus, war doch d’Aquino das Oberhaupt der Strikten Observanz im Königreich Neapel. Königin Maria Carolina ließ Goethe ausführliche Dossiers über Cagliostro alias Giuseppe Balsamo zuspielen und ermöglichte ihm sogar einen Besuch bei dessen Familie in Palermo. So konnte man die Authentizität einer gerade in Paris erschienenen Schrift, in der die Belege für Cagliostros wahre Identität abgedruckt worden waren, durch einen unabhängigen Gewährsmann von internationaler Reputation bestätigen lassen.

Goethes Cagliostro-Recherchen sind nicht die einzigen Indizien für seine Einbindung in illuminatische Projekte. So votierte er in einem Brief aus Italien für die Berufung des Philosophen Carl Leopold Reinhold als Professor nach Jena, und ebenfalls 1787 erfolgte die noch vor seiner Abreise 1786 eingeleitete Berufung des Illuminaten Cornelius Johann Rudolf Riedel als Erzieher für den Erbprinzen Carl Friedrich. Weitere Berufungen von Illuminaten erfolgten.

Wir finden die literarische Verarbeitung von Goethes Wanderungen durch die Gefilde der Freimaurer und Illuminaten vor allem in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, wo wir uns bei der Erzählung über Lotharios Schloss und die Gesellschaft im Turm wohl zu Recht an das Gothaer Schloss Friedenstein mit seinem geheimnisvollen Park erinnert fühlen dürfen. In diesem weitläufigen Schloss mit seinem Bibliotheksturm, wo Herzog Ernst II. residierte, studierte und Sterne beobachtete, befand sich auch das Ordensarchiv der Illuminaten, die später so genannte „Schwedenkiste“, zu der auch der berühmte, heute als Kriegsbeute in Moskau lagernde und lange Zeit unzugängliche 10. Band mit den Personalakten der Illuminaten gehört.

Die dritte und letzte Phase in Goethes Freimaurerkarriere, die sich mit der 1808 neugegründeten Weimarer „Amalia“ verband, war kein Wunschkind des Dichters, war doch dieses lokale Kapitel für ihn seit 1789 eigentlich abgeschlossen. Noch in seiner Silvesterdenkschrift von 1807 hatte er sich vehement gegen ein in Jena geplantes Logenprojekt ausgesprochen. Wenn schon, dann sollte die neue Loge wenigstens nicht in dem anarchischen Jena, sondern wie einst die alte „Amalia“ in der Residenzstadt Weimar entstehen. Schließlich ließ sich auch der Herzog überzeugen.

Der heikelste Teil dieser Operation war der Übergang von der Strikten Observanz zum einfachen Drei-Grad-System des Hamburger Theaterdirektors und Freimaurer-Reformers Friedrich Ludwig Schröder. Goethe sah hierzu zwei Wege: der erste, ihm persönlich sympathische, bestand, da die alte 1783 stillgelegte „Amlia“ formal immer noch existierte, darin, dass sie durch ihren alte Meister vom Stuhl, Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch, wiedereröffnet würde, um sodann das neue System beschließen zu lassen. Falls Fritsch sich dem verweigere, sollte man sich die Logeninsignien aushändigen lassen und an den Meister vom Stuhl der Rudolstädter Loge „Günther zum stehenden Löwen“ übergeben. Dies war der bereits nach Schröders System arbeitende Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz, an den die Bitte herangetreten wurde, die neue Loge zu eröffnen. Aber Fritschs Verhältnis zum Herzog war bereits irreparabel beschädigt. Goethe schlug daher eine Wallfahrt nach Rudolstadt vor, da eine Neugründung der Loge nicht zu umgehen war. Als Stiftungstag wurde der 24. Oktober 1808 gewählt, der Geburtstag der im Jahr zuvor verstorbenen Herzogin Anna Amalia, wo die Loge im Versammlungslokal der alten „Amalia“, dem Wittumspalais zu Weimar, von Friedrich Ludwig Schröder ins Leben gerufen wurde. Meister vom Stuhl wurde der Weimarer Verleger und frühere Geheimsekretär des Herzogs, Friedrich Justin Bertuch.

Mit der Loge ging es aufwärts. Von 34 Mitgliedern 1808 stieg deren Zahl auf 123 im Jahre 1815 und 147 im Jahre 1826. Goethe hatte seine eigenen Gedanken zur Loge. Er entwarf ein kultur- und erinnerungspolitisches Konzept, in dem das Weimarer Fürstenhaus zum Mittelpunkt und Impulsgeber einer Nation stilisiert wurde, die zwar nach dem Ende des Alten Reichs 1806 keinen staatlichen Zusammenhang mehr besaß, dafür aber durch Geist und Künste geeint werde. Die Umsetzung dieses Konzepts wurde nun zum Hauptinhalt seines freimaurerischen Engagements. Die „Amalia“ vermochte die ihr von Goethe und auch Wieland zugewiesene Rolle als Gralshüterin einer sich über das „klassische Weimar“ definierenden „nationalen“ und zugleich weltbürgerlich orientierten Kunst- und Bildungsreligion der Deutschen zumindest für einige Jahrzehnte zu übernehmen. Doch schon bei der Errichtung des Weimarer Herder-Denkmals 1843 konnte sich der ursprüngliche, mit freimaurerischen Symbolen ausgezierte Entwurf nicht durchsetzen. Dennoch kommt der Loge das historische Verdienst zu, an der Stilisierung des „klassischen Weimar“ zum Symbolort des Geistes der Aufklärung und Humanität im kulturellen Gedächtnis nicht nur der Deutschen, sondern der gesamten Menschheit wesentlich mitgewirkt zu haben.

Des freien Waldes freies Kind. Emerenz Meier, bayrische Dichterin

Vortrag von Angelika Kemter, Gera, in Erfurt

Der Meier-Varianten gibt es viele und der Name ist verbreitet wie Sand am Meer. So war es denn auch nicht der Familienname, sondern der Vorname dieser Frau, der mich lockte, mich mit ihr zu beschäftigen. Emerenz – nie gehört zuvor, ehe ich im Fernsehen eher zufällig den Film “Wildfeuer” gesehen hatte. Das Lexikon gibt Auskunft: Emerenz kommt vom Lateinischen und (Afghanischen). “emereor” heißt “verdienen, würdig sein”, der Vorname also “die Würdige, die Verdienstvolle”. Emerenz Meier ist – zumindest laut Wikipedia – die einzige bekannte Persönlichkeit, die diesen Vornamen trägt. Sie gilt als die bedeutendste bayrische Volksdichterin. Aber das war nicht immer so. Sie musste sich diesen Status zäh erarbeiten, wenngleich sie auch als Naturtalent bezeichnet wird.

Geboren wurde die SENZ (das ist wohl die bayrische Koseform von Emerenz) am 3. Oktober 1874 in Schiefweg bei Waldkirchen in Niederbayern – also im tiefsten Bayrischen Wald, wo damals tiefe Armut herrschte. Sie war das fünfte oder sechste Kind (die Angaben gehen auseinander) des Land- und Gastwirts Josef Meier und seiner Frau, die ebenfalls Emerenz hieß. Gestorben ist die Dichterin am 28. Februar 1928 in Chikago. Ob ihre Eltern schon bei ihrer Geburt geahnt haben, dass sie einst eine Verdienstvolle, Würdige sein wird?

Zumindest hatten sie sich die Verdienste ihrer Tochter sicher nicht auf dem Gebiet der Dichtkunst vorgestellt, sondern eher als Landwirtin oder Gastwirtin. Trinkfest soll sie ja gewesen sein. Das zeigt auch eine Begegnung der “dichtenden Wirts-Dirn” mit der bayrischen Regentenfamilie. Als sie am königlichen Hof in München empfangen worden war, soll Prinzessin Therese sie gefragt haben, wie es sich am besten dichtet. Emerenz’ Antwort: “Wenn ich eine Maß Bier getrunken hab‘.” (So gibt es “Die Zeit online – Kultur” wieder). Bei RegioWiki wird die Szene etwas anders wiedergegeben: Prinz Ferdinand habe die Emerenz nach dem Grund ihres vor Gesundheit strotzenden Aussehens gefragt. Sie habe geantwortet: “Weil i alle Tage meine drei Maß Bier trink”. Besonders ihr Vater soll – zumindest anfangs – nicht begeistert gewesen sein, als seine Tochter begann, sich mit Literatur zu beschäftigen. Die sollte sich lieber um die Gänse und die Gäste kümmern, das Feld mit bestellen und Brotzeiten servieren. Die schwere Arbeit in der Landwirtschaft und im Gasthof ließ auch nicht viel Zeit zum Dichten, aber Emerenz nutzte offenbar jede freie Minute. Obwohl sie auch zu manchem Jubiläum auf Bestellung Gedichtchen verfasste, wurde sie von den Dorfbewohnern als “Narrische Versel-Macherin” verhöhnt.

Sie verteidigt sich – natürlich mit Gedichten wie diesem:

Unverbesserlich

Der Vater verbot mir das Dichten,

Das Mütterchen stimmte mit ein.

Ich soll nach dem Stande mich richten,

die Bücher dem Backofen weih’n.

Wohl hab‘ ich es heilig versprochen,

Zu tun, was ihr Wille gebeut,

Das Wort hundertmal doch gebrochen,

das Schwören noch öfters bereut.

Doch gestern zu Tränen gerühret,

Erneut‘ ich es nochmals bei Gott,

Durch Bitten und Drohen verführet

Und weiter durch heimlichen Spott.

Ich ging in die dunkelste Kammer,

Hielt über die Verse Gericht,

Verfasste dann in meinem Jammer

Verstohlen dies Klagegedicht.

1893 – da ist sie 19 Jahre alt – erscheint ihre erste Erzählung “Der Juhschroa” (der Juhu-Schrei) in der Donau-Zeitung. Als sie nun auch noch das erste Honorar auf den Tisch blättern konnte, da soll der Vater sie ermuntert haben zum Weitermachen mit den Worten “Schreib, Senzl. Schreib!” (Zitat Zeit Online).

In dem 1991 gedrehten Film „Wildfeuer“ (Buch und Regie Jo Beier) ist es allerdings noch so dargestellt, dass der Vater das Dichten für Zeitverschwendung hält. Emerenz verlässt nach einem Streit mit ihm das Haus, schlägt sich als Tagelöhnerin durch und als Bedienung in einem Gasthaus. Sie gerät an den reichen Passauer Brauereibesitzer Alfons Helmberger (in der Realität heißt er Hellmannsberger), der sie zu seiner Geliebten macht und für die Veröffentlichung ihres Fotos und eines Gedichts in der Passauer Zeitung sorgt. Vor einem Theaterwettbewerb kauft er alle Eintrittskarten und verschenkt sie an ausgesuchte Leute, die Emerenz mit ihrem Beifall zum Sieg verhelfen…

Später kehrt Emerenz ins Elternhaus zurück. Die Familie ist inzwischen verarmt und verlässt – wie so viele andere in dieser Zeit – ihre Heimat, wandert nach Amerika aus, um dort ihr Glück zu suchen. Diesen Film “Wildfeuer” habe ich spätabends im Fernsehen gesehen. Danach wollte ich einfach mehr zu dieser Frau wissen. Ob es sie wirklich gab. Ob es stimmt, was da gezeigt wird? Offenbar vieles, weiß ich inzwischen. Den Brauereibesitzer hat’s gegeben, ebenso die Veröffentlichungen, das Theaterstück und auch die Auswanderung. Ein weiterer Film mit dem Titel „Schiefweg“ (vom gleichen Regisseur 1988 gedreht), zeigt Szenen aus der Kindheit der Emerenz Meier. “Schiefweg” zeigt das harte Leben auf dem Land im Bayerischen Wald, von dem Emerenz Meier geprägt wurde. Das spiegelt sich in ihren Werken wider. Zum einen beschreibt sie Naturerlebnisse und ländliche Idylle, zum anderen schildert sie sehr eindringlich und ohne Schnörkel die Nöte der Menschen, die schwere Arbeit, das Alltagsleben. Hier einige Beispiele in ihren Gedichten:

Herbst

Im Herbstwind rauscht der Wald, die Zweige beben
Vor seinem Hauch, der frisch von Norden zieht.
Die Vöglein all die Stimmen sanft erheben
Zum letztenmal, zum trüben Abschiedslied.

Vom Baume fällt das bunte Laub und flüstert
Vom Sterben und von unbarmherz’ger Zeit.
Auf Busch und Moos der Abendschatten düstert
Und überm Hang macht sich der Nebel breit.

Zu Tal in raschem Laufe eilt die Quelle.
Ja eile nur, bald hemmt der kalte Frost
Dich Felsenkind; zu Eis erstarrt die Welle
Und stille wird’s, wo sonst du froh getost.

Geh heim, du müder Pilger dort am Raine,
Eh’s Winter wird. Zieht dich die Sehnsucht nicht
An warme Herzen? – Oder weißt du keine
Die auf dich warten in des Herbstes Licht?

Väterliche Ermahnung

Mein Sohn, und wenn ich sterbe,
Dann erbst du Geld und Haus
Und suchest dir zum Weibe
Das schönste Mädchen aus.

Mein Sohn, und wenn ich liege
Vermodert längst im Grab,
Dann jagst durch deine Gurgel
Du Geld und Haus hinab.

Mein Sohn, und das ist bitter.
Für was hätt‘ ich gespart
Und meinen alten Magen
Mit Wasser nur genarrt?

Mein Sohn, und lass dir sagen,
Ein Glück, dass ich noch bin
Und selbst mein Teil kann tragen
Zur Hirschenwirtin hin

Besonders das Los der Frauen wie sie es selbst erlebte, greift sie immer wieder in ihren Arbeiten auf und macht sich so zu ihrer Anwältin. In ihren Gedichten und Geschichten merkt man deutlich, dass sie genau kennt, wovon sie schreibt. Dass sie es selbst erfahren oder in ihrer Umgebung beobachtet hat.

Wenn sich ein Weib aus der Herde hebt
Wenn sich ein Weib aus der Herde hebt
Und nicht nach der alten Schablone lebt,
Dann soll’s von der Menge gesteinigt werden,
Wie es Gesetz ist und Brauch auf Erden.

Doch gab man ihm eine Gnadenfrist,
Solang es jung und sauber ist,
Erst wenn sich’s zur alten Jungfrau entwickelt,
Wird es gekreuzigt, darauf zerstückelt.

Und hat sich ein Mann ein Weib erwählt,
Das mehr versteht als er von der Welt,
Mag es sein Haus sonst auch wohl verseh’n,
Der Scheidung soll nichts entgegensteh’n.

Denn der Mann sei weise, das Weib sei dumm,
Solch alte Gebote stößt man nicht um,
Heißt doch in jedem Fall er der Ernährer,
Auch wiegt sein Gehirn um einiges schwerer.

Und wenn von dem Alten Testament,
Man sonst schon das meiste erlogen nennt,
Die eine Wahrheit bleib unberochen:
Gott schuf die Eva aus Adams Knochen.

Zuviel ist dem Weibe bereits erlaubt,
Die Türkin trägt heut noch im Sack ihr Haupt.
Hier will sie Arzt sein und Pillendreher,
Lehrer, Jurist und Schaltersteher.

Gefährdet durch Weibes Intelligenz
Ist heut der Männer Existenz,
Ihr Ansehen flieht wie der alte Glaube
An ihre Kraft und ans Glück der Haube.

Doch tausend noch halten am alten Recht
Und schreien: Nieder mit dem Geschlecht,
Dem dritten, Wolzogens‘ Kampfgenossen,
Es sei verachtet, verfemt, verstoßen.

Ja, fort mit jeder, die emanzipiert,
Auf selber gebahnten Pfaden irrt,
Man schichte Scheiter, man werfe Steine,
Denn die Welt schuf Gott, für den Mann alleine.

Und was hat das alles nun mit Goethe zu tun? Warum beschäftigen wir uns mit dieser Frau aus dem vorigen Jahrhundert? Zumindest hat sie Goethe gelesen und auch Homer, Dante, Heine, Schiller … Nämlich als sie fünf Jahre lang die Volksschule der Englischen Fräulein in Waldkirchen besucht hat. Schon im Alter einer Grundschülerin soll sie sich Werke der Klassiker besorgt und gelesen haben. Sie ist eine sehr gute Schülerin, wird berichtet. Zwar spielt Literatur in ihrer Umgebung so gut wie keine Rolle, für sie ist das Lesen jedoch eine Möglichkeit, so oft es nur geht, wenigstens für ein paar Minuten der strengen Hof- und Hausarbeit zu entfliehen. Ihre ältere Schwester Petronilla soll ihr ebenfalls Bücher geliehen haben. Das Lesen regte Emerenz an, selbst kleinere Gedichte zu verfassen.  Sogar an die “großen Dichter” geht Emerenz nicht ohne kritische Sicht heran, zerfließt nicht in Ehrfurcht – wie wir es ja heute auch nicht tun.Sie hat sich sogar getraut, den „großen Meister der Literatur“ Goethe in einem ihrer Gedichte zu „verarbeiten“.

Stoßseufzer
Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis,

Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis,

Das Unbeschreibliche, hier ist es getan,

Das ewig Weibliche zieht uns hinan.

Hätte Goethe Suppen schmalzen,
Klöße salzen,
Schiller Pfannen waschen müssen,
Heine nähn, was er verrissen,
Stuben scheuern, Wanzen morden,
Ach die Herren,
Alle wären
Keine großen Dichter worden.

1891 übernimmt die Schwester den Gasthof, der Rest der Familie verlässt Schiefweg und zieht in den Nachbarort Oberndorf. Dort erhält Emerenz ein eigenes Zimmer. Das war in jener Zeit vermutlich eine Seltenheit. Dorthin kann sie sich zurückziehen zum Studieren und Dichten. Bald werden ihre Gedichte auch über Bayern hinaus bekannt. Das ist wohl auch Auguste (Gusti) Unertl zu danken, die in Waldkirchen einen literarischen Salon führte. Sie und Emerenz verband eine lebenslange Freundschaft, wenngleich mit einigen Unterbrechungen. Viele Briefe der Emerenz an sie sind erhalten. Der Heimatforscher Paul Praxl schreibt in seinem Buch “Die unbekannte Emerenz Meier” jedoch, dass Meier schon vor der Bekanntschaft mit Unertl publiziert und sich der Salonniere überlegen gefühlt habe. Schon mit etwa 18 Jahren sei Emerenz “als Persönlichkeit ausgereift gewesen.“ Bereits in diesem jungen Alter habe sie kritisch Position bezogen zu den Autoritäten ihrer damaligen Zeit. Dabei rühre eines besonders an: Emerenz Meiers überaus früh entwickelte Sozialkritik, ihr Betroffensein, ihr bedingungsloses Eintreten – selbst zu eigenem Schaden – für Benachteiligte, Notleidende, Außenseiter einer defekten Gesellschaft.” Auch der sich entwickelnde Tourismus kam Emerenz Meier wohl zugute bzw. sie ihm. Es entstanden Postkarten mit ihrem Bildnis, das sie in bäuerlicher Festtagstracht zeigt. So soll damals aber keiner der Bauern herumgelaufen sein, las ich. Doch schien es gut fürs Geschäft, und bis heute wird ja Touristen weltweit so manches vorgegaukelt. Emerenz wird sozusagen zur touristischen Attraktion, zum “Wundertier”. Einer der Sommerfrischler war Karl Weiß-Schrattenthal, Professor für Literaturgeschichte. Er brachte innerhalb einer Serie vier Erzählingen von Emerenz 1896 als Buch heraus. Titel “Aus dem Bayrischen Wald”. Es wird zwar von Literaturkritikern hoch gelobt, verkauft sich aber nur schlecht. Als ihren Förderer und Mentor macht Heimatforscher Praxel nach dem Durchforsten zahlreicher lange unbekannter Briefe den gleichaltrigen Medizinstudenten Ludwig Liebl aus. Der ist der Sohn des Waldkirchner Landgerichts-Assessors. Er vermittelte Emerenz Latein- und Steno-Unterricht. Auch als Berater angeboten habe er sich dem Bauernmädchen, das auf alle nur erdenkliche Weise seinen Bildungshunger zu stillen versuchte. Ein anderer Medizinstudent, der spätere Arzt und Autor Hans Carossa, ist einer ihrer Verehrer. Er war die rund 20 Kilometer von Seestetten bei Passau bis nach Oberndorf gewandert, um die bewunderte Dichterin zu besuchen. Ausführlich berichtet er über die Begegnung in seinem autobiografischen Roman “Das Jahr der schönen Täuschungen”. Darin beschreibt er Emerenz als “sanft rebellenhaft und hingerissen von allem Aufrührerischen”. Die Beiden schreiben sich auch nach dem Auswandern von Emerenz. Carossa ist vermutlich einer der wenigen, die hinter die Fassade der Volksdichterin bis in ihr Innerstes schauen durften.

Nochmals zu dem eingangs erwähnten Empfang am königlichen Hof zu München. Auf Empfehlung der zehn Jahre älteren Freundin Gusti Unertl wendet sich Emerenz dahin in der Hoffnung auf ein Literaturstipendium. Aber das bleibt ein Traum. Überliefert ist: Allenfalls könne man ihr eine Stelle im Haushalt anbieten, und beim Bodenschrubben könne sie ja über neue Geschichten aus dem Bayernwald nachdenken. – Zwar bekam sie 200 Gulden aus der sogenannten Privatschatulle des Prinzen, weil dem wohl die kesse Art der jungen Dichterin gefallen hatte. Aber das reichte nicht zum Studieren und erst recht nicht dazu, freie Schriftstellerin werden. Dank einer Seminarlehrer-Familie konnte Emerenz bei einem kurzen Bildungsaufenthalt um 1900 in Würzburg Buchhaltung lernen und etwas Englisch und Französisch. Aber die Gastgeber-Familie hatte wohl zu hohe Erwartungen, und so bleibt Würzburg auf einige Monate beschränkt. Denn Dichten auf Befehl kann Emerenz nicht. Zwischen 1900 und 1902 werden am Stadtheater Passau Bühnenfassungen ihrer Erzählungen “Aus dem Elend“ und “Der G’schlößlbauer” aufgeführt. Die Kritiken sind schlecht, ebenso der Verkauf ihres Buches. Um Geld zu verdienen, übernimmt Emerenz 1902 mit Hilfe des Brauereibesitzers Hellmansberger das Wirtshaus “Zum Koppenwirt” in der Passauer Altstadt. In dieser Zeit könnte das folgende Gedicht entstanden sein:

Hans
Hans, was sagte die Mutter zu dir,
Als sie dich so besoffen sah?
Hans, was sagte die Mutter da?
Hans, wie kamst du ihr für? –
Sagte die Mutter: »du volles Schwein,
Warst wohl wieder bei Emerenz,
Die dein Verderben, o Gott, ich kenn’s,
Und dein Ende wird es sein!«

Emerenz will das frühere Schifferwirtshaus in eine Künstlerkneipe umwandeln. Jedoch auch das Dasein als Wirtin geht nicht lange gut. Durch drastische Reden gegen das Militär vergrault sie ihre beste Kundschaft. Im Oktober 1903 verlässt sie Passau – fluchtartig heißt es, und sie hinterlässt Schulden. Sie geht wieder nach München, wo sie mit Artikeln für die Münchner Neuesten Nachrichten, Erzählungen wie „Der Bua“ oder Texten für die katholische Wochenzeitschrift „Deutscher Hausschatz“ ihren Lebensunterhalt verdient. Dort als Redakteurin zu arbeiten, schlägt sie aus. Lieber geht sie zurück in den Wald und übernimmt den Hof ihres Vaters in Simpoln bei Fürsteneck. Dennoch schreibt sie gelegentlich weiter für Zeitschriften wie den Simplicissimus. Die Familie war inzwischen verarmt und entschloss sich, auszuwandern. Vater und Schwestern reisten voraus, Emerenz folgte 1906 mit der Mutter nach Chicago. Aber die Sehnsucht nach ihrer Heimat ist immer gegenwärtig:

Mein Wald, mein Leben

Ich sah den Wald im Sonnenglanz

Vom Abendrot beleuchtet,

Belebt von düstrer Nebel Tanz,

Vom Morgentau befeuchtet.

Stets blieb er ernst, stets blieb er schön,

und stets musst‘ ich ihn lieben.

Die Freud‘ an ihm bleibt mir besteh’n,

Die andern all zerstieben.

Ich sah den Wald im Sturmgebraus.

Vom Winter tief umnachtet,

Die Tannen sein in wirrem Graus,

Vom Nord dahingeschlachtet.

Und lieben müsst‘ ich ihn noch mehr,

Ihn meiden könnt‘ ich nimmer.

Schön ist er, düsterschön und hehr,

Und Heimat bleibt er immer.

Ich sah mit hellen Augen ihn,

und auch mit tränenvollen.

Bald hob er meinen frohen Sinn,

Bald sänftigt er mien Grollen.

In Sommersglut, in Wintersfrost,

Konnt‘ er mir mehr nicht geben,

So gab er meinem Herzen Trost,

Und drum: Mein Wald, mein Leben!

Gleich nach ihrer Ankunft in Chicago heiratet sie (Zitat)„den Erstbesten, von dem ich annahm, dass er mir ein gutes Heim bieten könne“. Es ist der Auswander Joseph Schmöller, der wie sie aus dem Bayrischen Wald stammt. In einem Brief schreibt Emerenz zu ihrer Ehe: „Dieses Verbrechen bezahlte ich mit dreijährigem Elend“. Als Schmöller 1910 an Schwindsucht stirbt, lässt er die Witwe Emerenz mit dem gemeinsamen Sohn Joseph-Frank zurück. Später heiratet Emerenz Meier den schwedischen Fabrikexpedienten John Lindgren. Mit ihm wird sie einigermaßen glücklich. Aber das Auswandern nach Amerika insgesamt bringt nicht die ersehnte Erlösung aus Not und Elend. Im Gegenteil. “Der Neuanfang wird schnell zur Qual: Aus der Schriftstellerin und freigesinnten Waldlerin wird eine Lohnarbeiterin, die ‚jungen, gummikauenden Frauen den Fußboden‘ schrubbt und in Fabriken sexuelle Diskriminierungen über sich ergehen lassen muss.“Winkler schreibt: “Während des Ersten Weltkrieges wächst Emerenz Meiers Kritik an Amerika, aber auch an den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen in Europa. Meier wandelt sich zu einer überzeugten Kommunistin, die die Weltrevolution herbeisehnt, und wendet sich von der Kirche, wenngleich nicht vom Glauben, ab.”

Weh über die Führer der Nationen
Weh über die Führer der Nationen,
Die Henker im Frack, die Mörder auf Thronen!
Sie machen Geschichte, sie spinnen Netze,
Mit Hilfe der Presse, der feilen Metze.

Wenn faul Republiken und Monarchien,
Nach Freiheit und Aufklärung wird geschrien,
Dann heißt einen schneidigen Krieg erzeugen,
Der Revolution noch schnell vorzubeugen.

Dann treiben die Hirten die Herden zur Weide,
Zum Kampffeld hinaus, drum tollt euch im Streite!
Kühlt euer Mütchen, ein Volk am andern,
Uns aber lasst den Herrenpfad wandern!

Das tötet und würgt uns und wird getötet,
Die ganze Welt ist von Blut schon gerötet,
Sie kämpfen verzweifelt, Mann gegen Mann,
Hat keiner was dem andern getan.

Was hat euch, ihr Völker, mit Blindheit geschlagen,
Wann wird es in euren Gehirnen tagen,
Wann dringt in eure Seelen das Licht
Der echten Freiheit, die liebt, nicht ficht?

In über 50 Briefen und Karten schildert sie eindrucksvoll ihre politische Einstellung und ethisch-moralischen Gedanken. An der Sprache – oft vermischt sie deutsche und englisch-amerikanische Worte – wird deutlich, dass sie völlig zur Amerikanerin geworden ist. Sie berichtet über das Elend der Einwanderer, darüber, dass sie zu Hause Bier braut (für sich und gute Kunden) und dass sie ständig Altkleider und Geld sammelt für die kriegs- und inflationsgeschädigten Deutschen. Der Kontakt zu Carossa reißt nach zwei Briefen wieder ab. Zitat Winkler: “Sie haben sich endgültig zerstritten, weil er ihren Kommunismus nicht begreift, nicht verstehen will, dass der Kommunismus für eine Proletarierin die einzige Erlösung ist für Amerika und die Welt. Der Herr Doktor aus Passau sieht sich bei den Klassikern schon zu Lebzeiten, ihn schreckt ihr Realismus, das ist nicht die Emerenz, die ihm sein Vater einst empfohlen, das ist eine Bolschewistin, die nicht einmal studiert hat. Der Onkel Doktor übersieht bei seiner Ferndiagnose allerdings, daß die Emerenz, seine Emerenz sehr genau weiß, warum sie so denkt, wie sie denkt: Sie lebt in einem Elend, das er nie kennenlernen musste. In Chicago war das Elend, das sie schon zu Hause gefühlt hatte, benennbar geworden, es hatte Ursachen: die Armut, die ausbeuterischen Unternehmer, die Vermieter, die ständigen Krankheiten.” Diese geistige Entwicklung von Emerenz lässt nicht verwundern, dass ich im Internet als erstes auf der Seite www.kommunisten.de etwas über ihren 140. Geburtstag fand unter der Rubrik “Der Mensch geht vor Profit”. Das Jubiläum, ebenso der 145., wurde auch in ihrer Heimat mit Veröffentlichungen begangen. Und wie ging es Emerenz in der Ferne? Ihr Talent glaubt sie versiegt. Sie liest zwar weiter deutsche Literatur und deutschsprachige Zeitungen und schreibt auch kleinere Sachen für sie. Aber der geliebte Wald ist weit weg, schweigt. In Emerenz’ Nachlass finden sich ein paar Erzählungen aus Chicago, ohne viel Stimmung, ohne Lokalkolorit, harter Realismus.

Mein Schicksal
Ich war ein blühender, junger Baum,
Die Vögel sangen in meinen Zweigen.
Im Waldwind wuchs ich, ich sah im Traum,
Mich schon zu den weißen Wolken steigen.

Die weißen Wolken, sie wurden grau,
Wie unheilschnaubende Himmelspferde.
Es lenkte die schwarze Schicksalsfrau
Die wilde, vom Sturm gepeitschte Herde.

Es schlug der Blitz in mein junges Haupt,
Und furchtbar prasselten Schlossen nieder,
Gebeugt, gebrochen, zerspellt, entlaubt,
So sah mich der nächste Frühling wieder.

Ein toter Stumpf und nichts andres mehr,
So träum‘ ich düstere Todesträume
Am grünen Hange, von Blumen schwer,
Da blühen und rauschen junge Bäume.

Ihr zweiter Mann Lindgren stibt am 18. Januar 1925. Emerenz überlebt ihn um drei Jahre voller Verzweiflung und Krankheiten wie Wassersucht und Bronchitis. 1928 stirbt Emerenz Meier in Chicago im Alter von nur 53 Jahren. Auf ihren Wunsch verstreute ihr Sohn ihre Asche auf dem Grab der Eltern.  Heute ist ihr Geburtshaus in Waldkirchen-Schiefweg zu einem Emerenz-Meier- und Auswanderr-Museum umgebaut worden. Ein Verein hat es Anfang der 1990er Jahre gekauft und vor dem Verfall gerettet. Im Untergeschoss befindet sich eine Gastwirtschaft “Zur Emerenz”, die Grundschule in Waldkirchen trägt ihren Namen. Es gibt mehrere Bücher über sie und eine CD mit vertonten Gedichten und Auszügen aus ihren Briefen. In Passau am Donaukai steht eine Emerenz-Meier-Büste, die 2008, also zu ihrem 80. Todestag, eingeweiht wurde. Das Denkmal steht nicht weit entfernt vom “Koppenwirt”. Also der Kneipe, die Emerenz einst bewirtschaftete. Den Platz am Wasser habe sie auch deshalb bekommen, weil sie von Rotterdam aus ihre Heimat mit dem Schiff nach Amerika verlassen hat. Als wir von Passau aus zu einer Donau-Tour aufbrachen, habe ich die wenigen Minuten bis zur Schiffsabfahrt genutzt, um das Denkmal zu suchen und zu fotografieren. Dabei habe ich festgestellt, dass eine Angabe im Internet nicht stimmt. Emerenz schaut nicht zum Wasser. Wohl aber kehrt sie der Donau und dem Bayrischen Wald den Rücken. Der Sockel der Bronze-Büste ist aus Bayernwald-Granit gefertigt. Denn Emerenz hat zeitlebend ihrem Wald nachgetrauert, sich nach ihm gesehnt. Wie stark sie sich dem Wald verbunden fühlte, zeigt nicht zuletzt ihr Bekenntnis “Ich bin des freien Waldes freies Kind”, das der Literaturwissenschaftler Hans Götter als Titel für sein 2008 erschienenes Emerenz-Meier-Lesebuch wählte und das auch meinem Vortrag die Überschrift gab.

Des freien Waldes freies Kind

Im freien Wald bin ich groß geworden.

Auf Bergeshalden, wo der Böhmerwind,

der übermütige, sich mit Tannen balgt.

Das Wild war mir befreundet im Revier.

Das Eichhorn floh nicht, wenn ich es beschlich.

Der Geier sah froh kreischend auf mich nieder.

Da warf ich oft mich an die Brust der Erde und schrie und schwur:

Nie würde ich andere Fesseln dulden von irgendeinem, der aus Fleisch und Blut.

Nur keinen Herrn – und mag er sein wie immer.

Ich bin des freien Waldes freies Kind.

Herbstausflug nach Dornburg und Merseburg

Unser Herbstausflug fand am 14. September statt. Per PKW und zwei Kleinbussen ging es zunächst nach Dornburg. Da wir uns ALLE – bis auf neue Mitglieder unserer Gesellschaften – schon längere Zeit kennen, waren Begrüßung und Wiedersehensfreude groß und herzlich.

Der Tag begann mit Führung und Besichtigung einiger Zimmer des Renaissance- und Rokokoschlosses nebst „Goethe-Gemächern“. Wir erlebten also wieder einmal Orte, in denen Goethe zeitweilig lebte und wirkte. Danach ging die Fahrt nach Merseburg. Hier schipperten wir mit dem MS Captain Fu auf der Saale Richtung Leuna und zurück. Abendessen gab es auf dem Schiff. Auch Musik gab es dazu – der Kapitän spielte für uns auf dem Schifferklavier bekannte Seemannslieder, und wir sangen mit.

Wir hatten wieder einmal – neben unserem schönen Sommerfest am Trusetaler Wasserfall zwei Wochen zuvor – einen erlebnisrechen Tag. Herzlichen Dank an unseren Vorstand!

Renate Dalgas

Goethe und Rousseau

Vortrag von Bernd Kemter, Gera, am 1. Oktober 2019

Jean-Jacques Rousseau (1712 – 78) bringt Gründe für einen freien Naturzustand der Menschen vor. In dieser ursprünglichen, natürlichen Ordnung folgt der Mensch ausschließlich seinem Gefühl. In diesem Zustand herrscht die Selbstliebe (amour de soi), aus der alle Gefühle entstehen, im übrigen auch das Mitleid. Allmählich erwachsen im Miteinander primitive gesellschaftliche Ordnungen, in denen der Mensch seine Freiheiten noch weitestgehend bewahren kann. Hier herrscht auch Gleichheit. In der weiteren Entwicklung bilden sich allerdings Kultur, Wissenschaft und Sprache, vor allem aber Eigentum heraus. Freiheit und natürliche Gleichheit lösen sich auf. Die ursprüngliche Selbstliebe verwandelt sich in Selbstsucht, Eigenliebe (amour propre). Arbeitsteilung und Privateigentum treiben den Menschen in Konkurrenzverhältnisse. Dies widerspiegelt sich zum Beispiel in der Rechtsprechung. Sie legt dem Schwachen Fesseln an und verleiht den Reichen ihre Macht. Kultur und Wissenschaft schwächen das natürliche Gefühl. Luxus verdirbt die Menschen. Rousseau stellt diesem Kulturpessimismus sein Freiheitsideal entgegen. Der Weg dorthin führt über die Erziehung, deren Prinzipien in seinem Buch „Emile“ niedergelegt sind. Demnach beschützt und belehrt der Lehrer seinen Zögling, lässt ihm Freiheiten, achtet darauf, dass das Kind durch eigene Erfahrungen lernt.
In seinem „Gesellschaftsvertrag“ – Contrat social – propagiert Rousseau kleine demokratische Gemeinwesen, in denen die Mitglieder einfach leben und nach Recht und Vermögen gleich sein sollen. Der Mensch unterstellt sich deren Gesetzen. In diesen Gemeinwillen geht zugleich sein eigener ein, so dass individuelle Freiheit und Gleichheit gewahrt bleiben.
Goethes Interesse an Rousseau lässt sich zunächst an dessen Hinwendung zur Natur belegen. Einen „Kollegen“ botanischer Studien sieht Goethe in dem Schweizer allerdings nicht, anerkennt jedoch dessen Naturschwärmerei. So schreibt Goethe: „In Rousseaus Werken finden sich allerliebste Briefe über die Botanik, worin er diese Wissenschaft auf das fasslichste und zierlichste einer Dame vorträgt. Es ist recht ein Muster, wie man unterrichten solle.“ Ein Lob, das lediglich der Didaktik Rousseauschen Vortrags gilt. Ernster und ein wenig respektvoller nimmt Goethe den Genfer Naturliebhaber allerdings in einem weiteren Zitat: „Wer wollte nicht dem im höchsten Sinne verehrten Rousseau auf seinen einsamen Wanderungen folgen, wo er, mit dem Menschengeschlecht verfeindet, seine Aufmerksamkeit der Pflanzen- und Blumenwelt zuwendet und in echter gradsinniger Geisteskraft sich mit den stillreizenden Naturkindern vertraut macht.“
Wenn man bedenkt, welch unerhörtes Phänomen Rousseaus Kulturpessimismus im Rahmen der europäischen Aufklärung darstellt, ist Goethes Wortkargheit in der Würdigung von Rousseaus Einfluss auf das eigene Schaffen nahezu befremdend.
Die Gründe für diesen Mangel an ausdrücklichen und eindeutigen Stellungnahmen von seiten Goethes, wenn man von seinen botanischen Interessen absieht, mögen einfach mit jenem Rezeptionsvorgang erklärt werden, den der US-amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom als Einflussangst beschrieben hat.
Es liegt aber auch die Vermutung nahe, so macht die venezianische Germanistin Stefania Sbarra geltend, Goethe habe nach 1789 im Autor des Contrat social den Vorläufer der Französischen Revolution samt ihren Gräueltaten erblickt und konsequenterweise von ihm Abstand genommen. Zu dieser Annahme veranlasst folgender Passus aus „Dichtung und Wahrheit“:
„Diderot war nahe genug mit uns verwandt; […]. Seine Naturkinder […] behagten uns gar sehr, seine wackeren Wilddiebe und Schleichhändler entzückten uns, und dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parnass nur allzu sehr gewuchert. So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen ungeheueren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien.“ Ein gewisses Verständnis für die ungeheuren weltpolitischen Ereignisse, aber auch der Ablehnung der sich anbahnenden jakobinischen Schreckensherrschaft finden wir dezidiert in Goethes „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“. Dies nebenbei.
Weder in der bis zum Überdruss wiederholten Formel „Zurück zur Natur“, die übrigens in keinem Werk Rousseaus zu finden ist, noch in einer Aufforderung zur Revolte hat Goethe gefunden, was er in der Auseinandersetzung mit seinem Selbst brauchte, sondern in Rousseaus Kritik der Eigenliebe, die den Schwerpunkt all seiner Werke bildet. Goethes Rousseau-Lektüre zeichnet sich dadurch aus, dass sie ihn mit einer Psychologie des modernen Subjekts vertraut macht, die ihm zum Verständnis des eigenen Künstlertums in Bezug auf die Eigenliebe-Pathologie des zivilisierten Menschen verhilft. Nur vor dem Hintergrund dieser Kritik am zivilisierten Menschen gewinnen sämtliche Naturparolen genaue Konturen und jene Einmaligkeit, die Rousseau von anderen, bereits vor ihm hervorgetretenen Sängern des ländlichen Lebens unterscheidet. Nicht allein in der Verherrlichung idyllischer Naturszenen einer weit hinter uns liegenden Zeit ist Rousseaus Einfluss auf Goethe zu suchen. Wenn dem anders wäre, darauf macht Sbarra zu Recht geltend, hätte schon Hallers Gedicht „Die Alpen“, von Goethe geschätzt, genug für den Gegensatz Land-Stadt und Tugend-Laster geleistet und in der Schweiz die idyllische, aber konkrete Alternative zur Zivilisation zugänglich gemacht.
Der Zusammenhang von Eigenliebe und Zivilisation prägt die aufgeklärte Messe- und Universitätsstadt Leipzig, wie sie Goethe 1765 bis 1768 erlebt. Hier beobachtet er mit Erstaunen, wie sich die Menschen dem sinnlichen Genuss verschrieben haben. In Klein-Paris orientieren sich nicht wenige Studenten am Ideal der Galanterie, und die jungen Frauen sind allzusehr damit beschäftigt zu verführen und zu gefallen. Alle wollen ihre soziale Lage verbessern.
Ehrgeiz, Aufstiegsträume, Unzufriedenheit mit der Lage, in die man hineingeboren ist: So stellt sich auch Rousseau das Profil des stets unruhigen modernen Menschen vor, wenn er als Gegenbild dazu seinen homme naturel entwirft, der sich gelassen mit seiner Situation zufrieden gibt.
Dagegen erscheint Goethe als junger begabter Dichter, seiner Eigenliebe verfallen. Denn wenngleich Goethes Leben als Schriftsteller die eindeutigste Stellungnahme gegen Rousseaus Ächtung der Kunst darstellt, so ist nicht auszuschließen, dass er sich hat schmerzlich auseinandersetzen müssen mit solch einer Aussage wie: „Jeder Mensch, der mit angenehmen Talenten seine Zeit verbringt, will gefallen, bewundert werden, und er will mehr bewundert werden als ein anderer. Der öffentliche Beifall gehört ihm allein; ich würde sagen, dass er alles tut, um ihn zu erhalten. Wenn er nicht noch mehr täte, um seine Konkurrenten um diesen Beifall zu bringen.“
Diese Sucht des Künstlers nach öffentlichem Beifall, wird sie nicht am vernehmlichsten im „Torquato Tasso“? Der Schmerz und die Ohnmacht des Dichters gegenüber der Herabsetzung und der Spötteleien des dünkelhaften Hof- und Weltmannes Antonio sind für uns zutiefst nachfühlbar. Doch auch in weiteren Werken scheint die Eigenliebe als Produkt der Kultur auf.
Im Monodram „Pygmalion“ feiert Rousseau die Herstellung der idealen Elfenbein-Frauenskulptur durch den trunkenen Bildhauer als natürlichen Akt. Goethe hingegen sieht in seinem gleichnamigen Jugendgedicht die Statue als Kunst und schöpferische Kulturtat, warnt jedoch zugleich davor, sie zu überfordern, indem sie in die Natürlichkeit übergehen soll. Worum geht es bei diesem, auf Ovid zurückgehenden Sujet?
Der zypriotische Bildhauer Pygmalion schafft eine Statue, die er als sein Meisterwerk ansieht. Wahnsinn und Imaginationskraft des Künstlers standen hierbei Pate. Er verliebt sich in die Statue, behandelt sie als Frau von Fleisch und Blut. Aphrodite erbarmt sich seiner und lässt die Statue lebendig werden. Goethe kritisiert den ursprünglichen Pygmalionmythos und auch die Rezeption Rousseaus, wie Leonie Nießeler, Uni Augsburg, in ihrem Aufsatz klar herausarbeitet. Goethe stellt die Kunst über die Natur und betrachtet Pygmalion als „Pfuscher“ und „Dilettant“, wenn er sich einbildet, das vollkommene Kunstwerk müsse lebendig werden und somit in die Natur zurückfallen. Deutlich unterstreicht er diese Ablehnung eines Pygmalionmythos als reines erotisches Abenteuer in seinem eigenen Gedicht Pygmalion, das im Leipziger Liederbuch für Anette veröffentlicht wurde. Hier bestraft er Pygmalion für seine Abwendung von den realen Frauen und sein Begehren einer Statue damit, dass er ihn eine Prostituierte heiraten lässt.
Nießeler stellt nun Rousseaus Kunstverständnis demgegenüber, es sei charakterisiert durch ein Zusammenwirken von Kunst und Natur, und nur durch die Verlebendigung der in der Form vollkommenen Statue könne die „Ordnung der Natur“ wieder hergestellt werden. Er stellt die schöne Seele in den Vordergrund, und nur indem er die künstlerische Vollkommenheit des Körpers zurückstellt, kann die Seele erwachen und im Sinne der Aufklärung spricht die Statue zuerst das Wort „Moi“ und erkennt sich damit selbst. Soweit Leonie Nießeler zum ausschließenden Gegensatz beider Kunstkonzeptionen.
Rousseau beklagt die Sucht, sich auszuzeichnen, als Übel der modernen Konkurrenzgesellschaft. Goethe widerstrebt dies, er bekennt sich als Schriftsteller zur modernen Dimension der Eigenliebe. Von jetzt an ist er von der Sucht angesteckt, ein erfolgreicher Künstler zu werden. Die Absage an pietistische Werte, die nach seiner Krankheit nach dem Leipziger Aufenthalt kurzzeitig maßgeblich wurden, nimmt Clavigos Ehrgeiz vorweg. Sie bedeutet die Identifizierung mit dem modernen, unruhigen, ja zerrissenen Subjekt jener von Eigenliebe geprägten Welt, die Rousseau zur harten Polemik gegen die Fortschrittsgesellschaft veranlasst hatte. Die vorhin bereits zitierte Stefania Sbarra resümiert: Damit verschiebt sich also der Schauplatz des Zusammenpralls zwischen den von Rousseau polemisch vertretenen antimodernen Werten und der ichbezogenen Eigenliebe des modernen Menschen in Goethes Inneres.
Auch im Lustspiel „Die Mitschuldigen“ inszeniert Goethe eine bürgerliche Welt von genusssüchtigen Menschen, die sich im modernen Leipzig um des plaisirs willen gegenseitig betrügen. Die psychische Lage des modernen Subjekts findet hier ihren Ausdruck. Es verabschiedet sich in einem Wirbel von Vergnügungen und Zerstreuungen von allen herkömmlichen moralischen Werten, um sich ausschließlich der rastlosen Suche nach dem flüchtigen Genuss hinzugeben.
Auch ein weiteres Goethe‘schen Werk offenbart rousseausche Einflüsse: „Die Leiden des jungen Werther“. Das Kultbuch aller Liebenden und Liebesuchenden schlechthin aber ist und bleibt dieser monologischer Briefroman. Werther, ein gebildeter junger Mann, erschießt sich aus unerwiderter Liebe zu einer verheirateten Frau. Heute wie zu seinem Erscheinungsjahr 1775 bewegt dieser Roman die Gemüter, identifizieren sich junge Menschen mit dem Titel,,helden“. Goethe holte sich die Inspiration zu diesem Werk zum Teil aus seinem privaten Umfeld, zum Teil ließ er sich aber auch von Philosophen, Schriftstellern und Gelehrten der damaligen Zeit beeinflussen. Es ist bekannt, dass er vor der Niederschrift der „Leiden des jungen Werthers“ das Gedankengut des Schweizer Philosophen und Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau eingehend studiert hatte. Kann man im Roman „Die Leiden des jungen Werther“ nun den Einfluss Rousseaus feststellen und sind dessen Aussagen heute noch von Gültigkeit?
Die Autorin Carola Hoffmann geht der Frage nach den Bezügen des gegebenen Textausschnitts Rousseaus und Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ nach: Jean-Jacques Rousseau befasst sich in seiner ausgezeichneten Preisschrift „Discours sur les sciences et les arts“ mit der Frage, ob der Fortschritt von Wissenschaft und Kunst zur Läuterung von Sitten und Moral beigetragen hat. Goethes „Werther“, ein klassischer Sturm-und-Drang-Roman, erzählt die Geschichte eines unglücklich verliebten, schnell zu brechenden jungen Mannes, der sich resignierend das Leben nimmt, wie bereits erwähnt. Auf den ersten Blick stellt der Laie zwischen diesen beiden Themen keinen konkreten Zusammenhang fest, bei näherer Betrachtung ist der Einfluss Rousseaus auf Goethes Roman allerdings unverkennbar. Werthers einzige Leidenschaft, vor der Bekanntschaft Lottes, ist die Natur. Die Briefe an seinen vertrauten Freund Wilhelm sind voller Liebesbekundungen an die Umgebung seines neuen Wohnsitzes Wahlheim, er spricht von „Verzückung, Gleichnissen und Deklamationen“ (10. Mai 1771; 27. Mai 1771). Dort hat er die Zeit und Muse, sich der Kunst und Literatur zu widmen. Tagein, tagaus beobachtet er voller Wonne die Naturerscheinungen, die er sogleich auf Papier festhält. Werther meint, das Studium der Natur und seiner Lieblingslektüre, ein Band Homer, allein seien Beweis eines fortgeschrittenen Bildungsgrades (13. Mai 1771).
Er will sich in der Natur selbst finden, die Philosophie Rousseaus bestärkt ihn darin. Werther befindet die Natur zum besten und geeignetsten Lehrmeister eines Künstlers. Zwar lassen Regeln und Gesellschaftsformen Menschen keineswegs zu Bösewichten oder Unsympathen verkommen, ein individueller Charakter kann sich aber mit ihnen nicht entwickeln. Dieser Brief lässt bei Werther pietistische Ansätze erkennen, denn mit den lebendigen Glaubenserfahrungen, die er in der Natur sammelt und seiner enthusiastischen Frömmigkeit, vertritt er diese Bewegung. Und nicht nur dies. Hoffmann weist zu vollem Recht auf einen weiteren Umstand hin. So habe Rousseau in seinem „Discours sur les sciences et les arts“ die Vorstellung einer Frühzeit der menschlichen Gesellschaft, eines Naturzustands entwickelt, der noch nicht durch Arbeitsteilung, soziale Differenzierung und Privateigentum sowie die mit diesen Phänomenen einhergehende Entfremdung bestimmt ist.
Werther beschreibt in seinen Briefen auch einen ständigen Umbruch, bedingt durch seine Wanderschaften. Diese Wanderschaften bedeuten für ihn eine grenzenlose Freiheit, ohne von Nichtigkeiten eingeschränkt zu sein. Es scheint, als würde er erst in der Natur zu seinem wirklichen Ego finden, seine originären Wesenszüge entdecken. Es könnte genau jener „Naturzustand“ sein, den Rousseau meint. Außerdem schreibt der Schweizer, ganz im negativen Sinne, dass erst Kunst und Literatur aus Menschen zivilisierte Lebewesen machen. Das deckt sich mit Goethes „Werther“, denn die ursprüngliche Natur hat keine Zivilisation vorgesehen und kennt keine Verhaltensregeln.
Werther sehnt sich sehr nach einer Gesellschaft, die die inneren Werte und nicht Adelstitel und Reichtum als Messlatte für Sympathien sieht. Er befindet das Ständesystem zwar für notwendig, sieht es aber auch als Hindernis für persönliche Beziehungen (24. Dezember 1771). Dies merkt man besonders deutlich, als Werther eine demütigende Zurücksetzung bei einer adeligen Gesellschaft hinnehmen muss, die ihn tief berührt (15. März 1772). Sein befreundeter Vorgesetzter zeigt sein wahres Gesicht, als Werther bei einer Adelsveranstaltung von den Anwesenden nicht geduldet wird und bittet ihn, die Festlichkeit, ohne Rücksicht auf die persönliche Bindung beider, zu verlassen. Sogar seine Bekannte, Fräulein von B., kann mit diesem Fehlverhalten Werthers nicht leben und soll den Kontakt abbrechen (16. März 1772). Werther kehrt dem Ort daraufhin enttäuscht von der unehrlichen und vorurteilsbeladenen Gesellschaft den Rücken (24. März 1772). Um nicht mit dieser Erniedrigung leben zu müssen, reist er mit einem Grafen, der jedoch sehr gefühlskalt ist. Dies ist für ihn Grund genug, auch den Grafen bald zu verlassen und nach Wahlheim zurückzukehren (18. Juni 1772). Seine Ablehnung aller gesellschaftlichen Normen lässt ihn zum Außenseiter werden. Goethe kritisiert durch Werther auch die Bürger, die sich nicht trauen, Freiheiten einzufordern, sondern sich Adeligen genügsam unterordnen.
Weiterhin kritisiert der Titel,,held“ Werther die stumpfsinnige Gesellschaft, deren Hauptziel die Bedürfnisbefriedigung und Leben nach vorgegebenen Regeln ist (22. Mai 1771). Nur die Kinder, von denen er im Roman einige liebgewinnt, leben nach Werthers Vorstellung noch richtig: unbeschwert und uneingeengt. Ihnen sind Literatur, Kunst und Statussymbole meist noch fremd, sie leben nach ihrem inneren Trieb. Man kann also annehmen, dass der Charakter bei Kindern noch unverfälscht und rein ist. Kinder gefallen vor allem durch ihre Unbefangenheit und Ungezwungenheit. Sie faszinieren Werther vielleicht genau deswegen, weil sie „ungeschliffene Diamanten“ sind, die erst im Laufe der Jahre von Lehrern, Eltern und weiteren Bezugspersonen bearbeitet werden. Die ursprüngliche Schönheit einer Person zeigt sich also in der Kindheit, in der Unterschiede im Verhalten, genau wie Rousseau in seinem Erziehungsroman „Emile“ festgestellt hat, Unterschiede im Charakter sind. Bei der ersten Begegnung mit Lotte verliebt sich Werther auf den ersten Blick in sie, er sieht dieses wunderbare Wesen im Gegensatz zu verbitterten Jungfern und herrschsüchtigen Amtmännern. Lotte, selbst noch ein sehr junges Mädchen, lebt wie es ihr gerade zumute ist. Obwohl ihr geraten wird, Werther „um der Leute willen“ nicht mehr so oft zu empfangen, lädt sie ihn immer und immer wieder zu sich ein, da sie seine Gesellschaft als ein sehr hohes Gut sieht. Werther nimmt für seine Liebe zu Lotte alles in Kauf, ihm ist das Gerede über die außergewöhnliche „Freundschaft“ egal. Ihr vom ersten Moment an verfallen, schätzt er an Lotte gerade deren liebevolle Erziehung der Kinder. Obwohl sie mit Albert verlobt ist, ihn später sogar heiratet, kann sie nicht von Werther lassen. Albert ist im Buch ein klassischer Vertreter der Aufklärung, er verhält sich zwar höflich, ist aber auch gefühlskalt. Im Gegensatz dazu steht der heißblütig liebende Werther, der einen typischen Sturm-und-Drang-Helden verkörpert. Die Kinder und Lotte sind bei Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ ein Mittel, die Botschaft Rousseaus zu verbreiten, dem Leser die Begeisterung Werthers für ein Leben ohne aufgezwungene Lasten wie Sitten und Benimmregeln nahezubringen. Im Verlauf des Buches heiratet Lotte Albert. Obwohl Werther anfangs glaubt, Lotte hege für ihn Gefühle (13. Juli 1771), scheint dies durch die Heirat widerlegt zu werden. Nach Meinung Carola Hoffmanns vermählt sich Lotte aber nur, um den Sitten zu entsprechen und nicht verpönt zu werden. Es wäre ein Ding der Unmöglichkeit, die Verlobung mit Albert zu lösen. Dieser Punkt deckt sich mit Rousseaus Aussage, “immerzu folgt man der Konvention, niemals dem eigenen Wesen. Man wagt nicht mehr, sich so zu zeigen, wie man ist; und unter diesem ständigen Zwang werden die Menschen dieser ‚Gesellschaft‘ genannten Herde in gleichen Situationen alle das gleiche tun, wenn nicht stärkere Beweggründe sie davon abhalten“. Lotte, zuerst noch ungezwungen, wandelt sich zu einem „Herdentier“, das sich der Hierarchie der damaligen Zeit beugt und halbherzig die Ehe mit Albert eingeht. Insgeheim hofft sie, dadurch die Gefühle zu Werther zu vergessen, was ihr aber nicht gelingt. Der junge Werther kann die Zuneigung Lottes nie genau einschätzen, da sie sich zu keinem Zeitpunkt eindeutig zu ihren Gefühlen äußert, genau diese Ungewissheit treibt ihn letztendlich in den Tod. Bei Rousseau heißt es: „Um seinen Freund kennenzulernen, wird man also die bedeutsamen Gelegenheiten abwarten müssen, das heißt abwarten, bis es dafür zu spät ist, denn gerade dieser Gelegenheit wegen wäre es wichtig gewesen, ihn zu kennen.“ Diese Passage ist auf Werthers Selbstmord zu beziehen. Lotte weiß, was er mit der Pistole, die ein Knabe aus ihren Händen für Werther entgegennimmt, plant; trotzdem wagt sie es nicht, einzuschreiten oder ihn zu bewegen, die Tat zu unterlassen. Sie spürt, nicht zuletzt aufgrund der tiefen Freundschaft, die sie mit Werther verbindet, dass sich dieser, zum Ende hin schwer depressiv, sich mit der Pistole das Leben nehmen wird. Lotte hätte in der „bedeutsamen Gelegenheit“ des geplanten Selbstmordes zu Werther eilen und ihm Lebensmut zusprechen können, aber die Feigheit, ihrem Ehemann die Ahnung über das schreckliche Vorhaben Werthers vorzuenthalten, lässt diesen seinen Plan durchführen. Lotte wäre für Werther bestimmt ein „stärkerer Beweggrund“ gewesen seine Tat zu unterlassen, so verehrt er sogar noch sein eigenes Mordinstrument, weil Lotte es berührt hat. Seinen Selbstmord befindet Werther als eine große Tat, da sie den bürgerlichen Konventionen ganz und gar widerspricht. Dass es aber auch eine Flucht vor sich selbst und vor seinen Kritikern ist, übersieht er in seinen Depressionen wohl ganz.
Weiterhin stellt Carola Hoffmann die Frage nach der Gültigkeit der Kritik Rousseaus und versucht, selbige zu beantworten: Ihrer Meinung nach ist die Preisschrift Rousseaus heute aktueller denn je, Wissenschaft, Kunst, Literatur und die neuen Medien sind die Werkzeuge der Menschheit, mit deren Hilfe sie sich verwirklichen und informieren. Keine Regierung und keine Gesetze können Menschen helfen, zu sich selbst zu finden. Genau bei diesem Prozess unterstützen aber diese vier Informationsquellen; sie bilden im Stillen Charaktere aus, können diese aber auch verfälschen, wenn Geschriebenes ohne Überlegungen übernommen wird. Genau dies ist aber die Problematik: Woher soll man wissen, was richtig und was falsch ist? Tagtäglich berieseln uns die Medien mit neuen Erkenntnissen der Forschung, aber auch mit Gewalttaten und Kriegsberichten. Viele Menschen können diese Informationen aber nicht verarbeiten und übernehmen die Meinungen, die ihnen vorgetragen werden. Oft hört man von einer Verrohung der Jugend und deren Sitten. Maßgeblich für das Verhalten sind aber deren Erzieher, die ihnen auf ihrem Weg zum Erwachsensein entweder keine Hilfe leisten, schlechte Vorbilder sind oder die Erziehung dem Fernsehen oder Computer überlassen. Von früh auf wird Kindern eingetrichtert, sie müssen sich selbst in dieser gefühlskalten Welt in den Mittelpunkt stellen, um erfolgreich zu werden. Sie wachsen mit der typischen Ellenbogengesellschaft auf und sehen die Nachteile dieser übertriebenen Selbstverwirklichung nicht. Ein weiterer aktueller Punkt sind die Regeln der Gesellschaft. In Knigge-Kursen und ähnlichen Veranstaltungen kann das weitläufige Publikum vorgegebene Benimmregeln mühelos erlernen und damit seiner Umgebung dieses Verhalten vorführen. Man kann diese Menschen dann auf den ersten Blick nicht mehr voneinander unterscheiden: Wer ist von Natur aus höflich und freundlich, und wer hat es sich nur antrainiert? Die Gesellschaft fordert heute jeden einzelnen, sein Schema, in das er durch Schulabschluss und Freunde gepresst wird, bis an sein Lebensende zu erfüllen. Sein privater Charakter oder seine ursächlichen Interessen bleiben dabei auf der Strecke; was zählt ist der Schein. Wahre Freunde gibt es in der heutigen Welt wahrlich nur noch wenige, denn sie zu durchschauen und zu ihnen Vertrauen zu finden, bedarf eines langen Zeitraumes. Wenn Freundschaften eingegangen werden, dann meist im Kindesalter, wo Umgangsformen und Wissenschaft nur eine nichtige Rolle spielen. Die Kinder handeln noch mit dem Herzen, ohne ihren Verstand allzusehr zu benutzen. Vielleicht halten gerade diese Freundschaften ein ganzes Leben, weil sie auf einer soliden Basis, der Ehrlichkeit, aufgebaut sind. In oberflächlichen Freundschaften kommt die Aufgesetztheit meist in entscheidenden Situationen zum Vorschein, denn gerade in Notfällen zeigen diese untreuen Weggefährten ihr wahres Ich und lassen einen im Stich. Enttäuschungen sind die Folge.
In dieser Einschätzung werden die Enttäuschungen der jungen Autorin Hoffmann deutlich, die ihre Erfahrungen offensichtlich aus ihrer eigenen Kindheit und Jugendzeit schöpft und sie mit den späteren einer schon Erwachsenen vergleicht. Rousseau habe mit seiner Preisschrift die Problematik schon der damaligen Gesellschaft richtig erkannt. Später habe diese Problematik immer mehr an Gültigkeit gewonnen und, so stellt die Autorin fest, dieser Prozess wird im heutigen Zeitalter der totalen Industrialisierung, Automatisierung (und Digitalisierung) tagtäglich aktueller werden. Auf der Suche nach immer aufregenderen Abenteuern und exotischeren Veranstaltungen werden die zwischenmenschlichen Beziehungen immer mehr zweitrangig. Sie werden meist häufig nur noch per Email oder Telefon gepflegt, der körperlich nahe Kontakt gerät zur Ausnahme. Bild- und Mobiltelefone tun ihr Übriges, um den Menschen das hohe Gut der Freundschaft oder gar Liebe zu entfremden.
Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ kann man getrost einen Klassiker der Literaturgeschichte nennen. Sein Thema, die Liebe, wird immer aktuell und hoffentlich nicht vergänglich sein. Obwohl die Naturbetrachtungen Werthers sehr langwierig und mitunter schleppend sind, ist das Buch eine interessante Lektüre für Jung und Alt, und die Naturbetrachtungen des jungen Werther öffnen die Augen für die Dinge des Alltags, die nur noch selten wahrgenommen werden. Es ist ein Appell an Leidenschaft, Natur, an die Liebe und an das Gefühl, um diese vier Dinge wieder über Anstand und Materialismus zu stellen.
Natürlich übertreibt der Titelheld Werther im Roman mit seinem kläglichen Selbstmord, denn durch seine Jugend hätte er bestimmt in seinem Leben noch mehr Frauen kennengelernt, deren Wesen ebenso liebenswürdig gewesen wäre wie Lotte es war. Auch der Bezug des Buches zu der ersten Preisschrift des Schweizer Philosophen, Schriftstellers und Musikers Jean-Jacques Rousseau ist ein interessanter Aspekt des Romans. Das Buch gewinnt dadurch an Aussage, es scheint fast, als wolle Goethe damit die Botschaft Rousseaus seinem Publikum verkünden und damit zu „Sturm und Drang“ auffordern, um das Leben ohne die starren Regeln der Gesellschaft zügelloser und ausgelassener zu genießen. Goethes Werk „Die Leiden des jungen Werther“ rebelliert mit einer großen Portion Ironie gegen Adelsstand und Falschheit, das tragische Ende des Werther lässt aber auch einige Fragen offen.
Ein weiteres, sehr erhellendes Thema wäre ein Vergleich zwischen dem „Werther“ und Rousseaus „Neuer Heloise“, auf das hier aus Zeitgründen nicht eingegangen werden kann.

Sommerfest am Trusetaler Wasserfall

Ausflug am 31. August 2019

Unser Sommerfest um Goethes Geburtstag führte uns, Erfurter und Geraer Goethefreunde, zum Trusetaler Wasserfall. Wie bei jedem Ausflug erzählte uns Herr Kemter Wissenswertes schon während der Busfahrt über unser Ausflugsziel. Dort hörten wir schon nach wenigen Schritten starkes Wasserrauschen. Der künstliche Wasserfall wurde in seiner jetzigen Form Mitte des 19. Jahrhunderts geschaffen – eine Sehenswürdigkeit für uns ALLE!

Unseren Durst und Hunger stillten wir in der nahegelegenen Gastwirtschaft. Eine Überraschung war der Auftritt der Schauspielerin Anne Seibt, die mit dargestellten Szenen aus der „Legende vom Brautbett“ eine gelungene Abwechslung für uns war. Danach gingen wir nochmals zum Wasserfall, um weiteres Geschichtsträchtiges zu erfahren. Nach dem Abendessen sangen wir Lieder, so vom Rennsteig und überhaupt vom Thüringer Wald. Es war ein wunderschöner Ausflugstag mit viel Natur, frischer Luft und Wissenswertem über unser schönes Thüringen.

Renate Dalgas

Begegnung mit der Antike: Voß, Wieland, Klopstock, Goethe

Vortrag von Prof. Hans-Joachim Kertscher, Halle, am 3. September 2019

Kertscher ging zunächst auf Briefe des Dichters Johann Ludwig Wilhelm Gleim (1719 – 1803) ein. Sie behandelten auch den Umgang mit den Versmaßen, zum Beispiel Hexameter, Jambus, Daktylus. Im Griechischen stellen sie sich relativ einfach dar, im Deutschen wird es schwierig. Man muss Anpassungen versuchen. Über das Wie entstand Streit. Christoph Martin Wieland (1733 – 1813) wurde zur Beschäftigung mit der Antike durch Glucks Oper „Alceste“ angeregt. Er ließ sie in Weimar aufführen. In seinem „Teutschen Merkur“ behandelte er die Figurengestaltung in der antiken Tragödie des Euripides. Gegen diese Antiketümelei wandte sich der Spott Goethes in seiner Satire „Götter, Helden und Wieland“. Selbiger meinte nur lakonisch: „Man muss die Herren ein wenig toben lassen.“ Für seinen „Merkur“ kündigte er übrigens höchst nachsichtig und keineswegs übelwollend Goethes Persiflage zur Veröffentlichung an. Goethe schrieb daraufhin einen Versöhnungsbrief. In Wielands Lehrgedicht „Die Natur der Dinge“ ging es auch um das Verhältnis der Versmaße Alexandriner (sechshebige Jambenzeile, die nach der dritten Hebung, also der sechsten Silbe, eine Zäsur hat – Einschnitt, Sprechpause – und mit einem Auftakt beginnt) und Hexameter. Goethe bevorzugte den Hexameter, wovon seine Werke „Hermann und Dorothea“ und „Reineke Fuchs“ zeugen. Ein Hexameter besteht aus sechs Daktylen, deren letzter um eine Silbe verkürzt ist; der Vers wird durch eine Zäsur, die an verschiedenen Stellen der Versmitte eintreten kann, gegliedert. Daktylus: ein aus einem langen bzw. betonten und zwei kurzen bzw. unbetonten Teilen bestehender Versfuß. Goethe ging es um einen direkten Zugang zur Antike, befreit von der Patina vergangener Jahrhunderte.
Auch Johann Heinrich Voß (1751 – 1826) übte sich auf diesem Gebiet. Er begann mit seinen Übersetzungsarbeiten aus dem Griechischen mit Gedichten für den Göttinger „Musenalmanach“. Er beschäftigte sich mit den antiken Versmaßen und deren Übertragung ins Deutsche. So übertrug er den 14. Gesang der „Odyssee“, schickte den Text zu Wieland zum Druck im „Merkur“. Dies bedeutete auch eine Abkehr von Klopstock, mit dem ein Streit entbrannte, denn es gab unterschiedliche Positionen zu den Versmaßen und zur Möglichkeit von Übersetzungen. Friedrich Gottlieb Klopstock (1733 – 1813) favorisierte „geschmeidige Abfassungen“. Voß hingegen wollte die deutsche Sprache in ihrer Neufassung dem Griechischen anpassen. Dagegen meinte Klopstock, die deutsche Sprache sei schon so ausgereift, dass Eingriffe nicht nötig seien. Beide kündigten sich ihre Freundschaft auf.
Voß schwärmte von den Hexametern in der „Ilias“ gegenüber Wieland. Immer wieder bemühte er sich, der Lebendigkeit der griechischen Sprache im Deutschen so nahe wie möglich zu kommen. „Die erste Pflicht sei Genauigkeit“. Auch heute noch sind Voß‘ Übertragungen gültig.
Im Juni 1794 gab es in Weimar ein großes Dichtertreffen, an dem auch Voß teilnahm. Wieland bemühte sich darum, Voß zu vermitteln, wonach Goethe bei all seiner Steifheit doch ein guter Gesprächspartner sei. Voß hatte nämlich seine Vorurteile: Goethe sei sehr steif und hochmütig. Doch er ließ sich überzeugen: „So werde ich den Kauz wohl kennenlernen.“ Es gab zwischen ihnen ein längeres Gespräch. Anwesend waren Heinrich Christian Boie (1744 – 1806) und Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Schiller fehlte, zeigte sich aber von Voß‘ Übersetzung der „Ilias“ beeindruckt. Voß las aus der „Odyssee“. Goethe äußerte sein Wohlwollen, meinte aber, der Text sei mehr fürs Ohr als für das Auge geeignet. Voß legte seine anfänglichen Vorurteile über Goethe ab, zeigte sich merkwürdigerweise letztendlich doch enttäuscht: „Meinen Homer hat er nicht gut aufgenommen.“ Andererseits und immerhin: „Wieland las mit mir einige Hexameter.“
Für Wieland war bei der Verdeutschung stets der Geist, der aus dem Text sprach, wichtig. Voß suchte nach Wielands Meinung den Geist zu sehr und akribisch in der Form, er tue damit dem deutschen Geschmack Gewalt an. Damit offenbarte Wieland ein recht ambivalentes Verhältnis zu Voß‘ Bemühen. Den Geist müsse man erfassen, weniger die Sprache. Trotz allem zeigten ihm (Voß) die großen Weimarischen Geister doch ihr Wohlwollen. So trug Goethe während seiner „Freitagsgespräche“ einige Verse aus der „Ilias“ vor: offenbarte rühmliches Anerkennen des Übersetzers.
Voß wandte sich dann allmählich vom Hexameter ab, darüber zeigte sich Goethe erstaunt, er hätte gern noch von ihm gelernt. So wurden Voß, aber auch Wieland in den „Xenien“ Goethes und Schillers nicht verspottet wie andere Dichter. Goethe zollte den Gedichten von Voß in der „Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung“ höchstes Lob, er habe durch seine Übersetzungen der deutschen Sprache zu wahren Wohllauten verholfen. Allerdings ärgert sich Goethe, dass Voß nach Heidelberg ging, Goethe hätte ihn gern für seine eigene Tätigkeit vereinnahmt. Versöhnlich äußerte er sich zuletzt während eines Spaziergangs in Jena. Er zeigte Eckermann ein Haus: „Hier hat Voß gewohnt.“ Es ist heute nicht mehr vorhanden.
Wieland löste sich von schwärmerischen religiösen Attitüden, er arbeitete nun an seinem „Agathon“ und an „Die Abenteuer des Don Sylvio von Rosalva“. Klopstock äußerte hingegen im Werk „Von der heiligen Poesie“, dass die Poesie vor den Richterstuhl der Religion gestellt werden müsse, was ja in seinem „Messias“ offensichtlich der Fall war. Dies war sein Credo. Von solchen Vorstellungen hatte sich Wieland verabschiedet. Von daher kam Kritik am ironisch-besonnenen, aber auch frivolen Stil Wielands von den Dichtern des „Göttinger Hains“ (Uz, Bürger, Hölty, Voß). Die Hain-Dichter schwärmten für Klopstock. Während einer Geburtstagsfeier für Klopstock verbrannten sie einige Werke Wielands und sein Bildnis. Diesen Vorgang schildert Voß. Hierzu muss man bemerken, dass sowohl Klopstock als auch Wieland zur damaligen Zeit im Zenit ihres Ruhmes standen. Beide waren vom Pietismus beeinflusst, ohne in religiöse Schwärmerei zu geraten. So hatten beide auch Beziehungen zu Halle, insbesonders zu einem dortigen Verleger. Dieser nutzte jede Gelegenheit, um Klopstock und Wieland gegeneinander auszuspielen.
Ein Weiteres trat hinzu. Deutschlands „Literaturpapst“ Johann Christoph Gottsched (1700 – 1766) setzte sich stark für den Versmaß des Alexandriners ein. Dieser sechshebige Jambus sei die moderne Versform. Dagegen opponierten die berühmten Schweizer Literaten Bodmer und Breitinger, aber auch Gleim und die jungen Dichter des „Göttinger Hains“. Sie entdeckten für sich den griechischen antiken Dichter Anakreon als Vorbild. Sie meinten: Zur Poesie gehöre eben die Vervollkommnung, die Perfektionabilität. Daher seien gewisse Muster notwendig. Die Authentizität der Übertragung vom Griechischen ins Deutsche sei somit erstrebenswert. Die wörtliche Wiedergabe wird abgelehnt, der moralisierenden Adaption der Vorzug gegeben.

Der Maler der Romantik – Philipp Otto Runge und Goethe

Vortrag von Prof. Ludolf von Mackensen, Kassel, am 7. Mai 2019

Goethe hatte einst ein Malerei-Preisausschreiben initiiert. Philipp Otto Runge beteiligte sich daran, er wählte als Thema „Achill und Skamandros“. Die Szene schildert den Kampf Achills mit dem Flussgott. Goethe zeigte sich jedoch durchaus nicht zufrieden, und Runge erhielt keinen Preis. Dennoch blieb ihm Goethe gewogen. Obwohl er diese Zeichnung ablehnte, förderte Goethe den jungen Maler, und es entwickelte sich sogar eine Freundschaft.
Runge sah in den Farben besondere Naturkräfte, und in seinen Farbauffassungen traf er sich durchaus mit Goethe, obwohl die romantische Sicht der klassizistischen ja zuwider lief. Runge gilt als Mitbegründer der Romantik, er suchte Spiritualität in der Natur. Dagegen besaß Goethe ein ambivalentes Verhältnis zur romantischen Richtung; einerseits sah er in ihr nichts Natürliches, er sah in ihr nur Bizarres, Fratzenhaftes und Karikaturhaftes. Andererseits unterstützte er Romantiker, zeigte sich durchaus tolerant. Runge entwarf auch große Sprachbilder, zeigte sich als ernst zu nehmender Dichter. Und er erwies sich als Christussucher. „Von Anfang ist sie gekommen“, heißt es in seinem „Gesang an die Sonne“, und weiter heißt es: „Oh, dass ich fliegen könne mit dir und preisgeben meine Seele“.
Runge fragt: Wie kann man jetzt noch etwas Klassisches machen, alte Kunst zurückrufen wollen? Er fühlt sich als Avantgardist. Dies schließt auch Kritik gegen den Klerus ein, ihm stellt er seine eigene religiöse Imagination entgegen. „Wir wollen sehen in jeder Blume den lebendigen Geist, erst so erlangt alles Bedeutung und Sprache.“
Runge stellt zehn Anforderungen an ein Kunstwerk, davon sind drei die wichtigsten: Ahnung von Gott, Kolorit, Farbton. Bei den Farben kommen Goethe und Runge einander nahe. Goethes Farbenlehre und Runges Farbkugel erscheinen im gleichen Jahr: 1810. Es kommt zum freundschaftlichen Gedankenaustausch. Goethes Farbenlehre erweist sich im Übrigen als umfangreicher als „Faust“ und „Wilhelm Meister“. Runge begründet gefällige und logische Farbmetriken. Er wollte seine Farbmodelle in drei Koordinaten räumlich geordnet und im Gesamtzusammenhang arrangiert sehen. Runge orientiert sich – wie Goethe – nicht an Newton und dessen Spektralanalyse. Immer wieder vertrat er auch das Geistige in der Kunst.
Ein Beispiel dafür ist die Zeichnung „Der Morgen“ aus seinem Tages-Zyklus. Lichtgenien tanzen auf Blüten, im untere Teil musizieren Engelchen auf noch nicht geöffneten Blütenzweigen. Die Sonne erscheint. Arabesken umranken das Ganze. Bemerkenswert ist auch die Federzeichnung „Die Heimkehr der Söhne“, auch in diesem Beispiel wird Seelisches in Szene gesetzt.
Zwei Dinge haben nach Runge keine Farbe: das Licht und die Finsternis. Farben sind phänomenologischer Natur, und das menschliche Auge gehört dazu. Im Zusammenwirken entstehen erst die Farben. Licht ohne Luft (Finsternis) ist unsichtbar. Wenn die Luft das Licht streut, entsteht Blau. Wenn das Licht die Luft durchdringt, entsteht Rot. Die durchleuchtete Wolke erzeugt allerdings kein Rot.
Das Diffuse der Atmosphäre bricht gelbes Licht so, dass sie für die Erdbewohner blau erscheint. Das Licht vor dem schwarzen Weltraum wird so weit abgedunkelt, dass die Atmosphäre eben blau erscheint. Dies ist ein Urphänomen, das demzufolge nicht weiter zurückgeführt werden kann.
Die Entstehung des Purpurrot entsteht im sogenannte Goethespektrum durch Überlagerung von Rot und Blau. Dieser Farbton wird auch Magenta genannt und ist gut geeignet in den Druckverfahren. Er geht auf eine Entdeckung Goethes zurück, ist auch in seinen Farbkreis eingeordnet. Zwischen Gelb und Blau entsteht Grün. Goethe versuchte zu zeigen, dass das weiße Licht nicht zusammengesetzt ist und sich Farben aus einer Wechselwirkung von Licht und Finsternis ergeben. In diesem Sinne deutete er die Kantenspektren die er beim Betrachten dunkler Streifen auf hellem Hintergrund und heller Streifen auf dunklem Hintergrund durch ein Prisma sah. Diese Erfahrung gab ihm den entscheidenden Anstoß zur Entwicklung seiner eigenen Farbenlehre.
Runge ordnet die Farben auf seiner Farbkugel an. Im Schnitt von Nord- zu Südpol zeigt sich dabei eine Grauachse. Wichtig sind ihm die Komplementärfarben; solche, die bei Mischung Weiß oder Schwarz ergeben. Blau-Orange, Rot-Grün und Gelb-Violett sind nach Goethe Komplementärfarben. Runge ordnet sie auf seiner Farbkugel an. Von dort bekommen sie auch ihre Grauwerte, und damit werden auch Brauntöne und „schmutzige Farben“ möglich. Auch sie abbilden zu können, ist Runges Leistung. Er schafft Probedrucke. Schon 1807 kommt ein Hinweis von ihm an Goethe.
Den Grundfarben in der Farbanordnung werden menschliche Eigenschaften zugeordnet: oben Rot als Idee der Liebe, unten Grün als Reales, aber auch schön und unschön. Auch wird in männliche und weibliche Leidenschaft unterteilt. Somit symbolisiert der Farbenkreis ebenso das menschliche Geistes- und Seelenleben. Goethe und Runge kommen hierbei auf ähnliche Erkenntnisse.

Auf Dichters Spuren in der Lausitz

Frühlingsausflug der Goethegesellschaft

Von Erika Seidenbecher

Der Frühlingsausflug der Goethegesellschaften Gera und Erfurt vom 24-28. April war eine Bildungsreise, die nach Kamenz, Bautzen, Cottbus, Frankfurt/Oder, Landsberg an der Warthe (Gorzow Wielkopolski), Neutornow und nach Bad Freienwalde führte. Unser Ziel war es, Wohn- und Wirkungsstätten bekannter Persönlichkeiten kennen zu lernen.
Wir fuhren durch das vielgestaltige Hügelland der Oberlausitz, sahen Teiche, Wälder und sattgrüne Wiesen, blühende Bäume und die unverfälschte Natur der Ober- und der Niederlausitz.
Unser erstes Ziel war die Lessingstadt Kamenz, die sorbische Stadt am Hutberg, in der der bedeutende deutsche Dichter, Gotthold Ephraim Lessing am 22. 01.1729 geboren wurde. Im Museum wurden wir nicht nur mit der Biographie Lessings bekannt gemacht, sondern auch mit dem Verhältnis Lessings zum Theater. Seine Theatermodelle, Entwürfe von Bühnernbildern und Kostümen und Auszüge aus seiner „Hamburgische Dramaturgie“ sind interessante Anschauungsobjekte. Interessant war auch, dass Goethe als Jugendlicher über den um 20 Jahre älteren Dichter lächelte und später tief bereute, dass er keinen Kontakt zu Lessing gesucht hatte. Über Lessings Gedanken der Toleranz, den er im „Nathan der Weise“ zum zentralen Thema erkor, sollten wir gerade heute gründlich nachdenken.
Wir fuhren weiter nach Bautzen. Die „Stadt der Türme“ an der Spree ist die zweitgrößte Stadt der Oberlausitz und politisches und kulturelles Zentrum der Sorben. Die Vorfahren der Sorben, die slawischen Lusitzen, kamen zur Zeit der Völkerwanderung in dieses Gebiet, das nach ihnen benannt ist. Die Lausitz ist eine Region, in der Sorbisch und Deutsch als gleichberechtigte Sprachen nebeneinander existieren.
Die Altstadt von Bautzen erhebt sich auf einem Granitfelsen, umflossen von der Spree. Auf einem Stadtrundgang sahen wir den Kornmarkt, den St. Petri-Dom, das barocke Rathaus, schöne barocke Bürgerhäuser, das Domstift, das Schloss, die Ortenburg, das Sorbische Museum und das Deutsch-Sorbische Volkstheater. Im St.-Petri-Dom sahen wir das Licht-Kreuz als ein zentrales Symbol des christlichen Glaubens. Es steht für den Leidensweg Jesu und schließt gleichzeitig jegliches Leid der Menschheitsgeschichte ein. Andererseits steht das Kreuz für die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als der Tod, das Licht ausdauernder als die Dunkelheit.
Überall in Bautzen wurden wir an das vergangene Osterfest erinnert. Wir sahen den österlich geschmückten Brunnen auf dem Markt, wunderschöne bemalte Ostereier (Ätz-, Ritz-, Wachstechnik), hörten etwas über das Osterreiten, das Schöpfen des Osterwassers und das Ostersingen. Der Stadtrundgang war gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit der Stadt, als die Stadt an der großen Handelsstraße Via Regia lag.
Unsere Fahrt ging weiter zur Universitätsstadt Cottbus (sorbisch: Chosebuz), der kreisfreien Stadt in Brandenburg. Cottbus gilt als politisches und kulturelles Zentrum der Sorben in der Niederlausitz. Die Stadt liegt an der mittleren Spree. Im Gebiet von Cottbus siedelten ab dem 7. Jahrhundert die Lusitzen. 1156 wurde die Stadt erstmals urkundlich erwähnt. Die Besitzverhältnisse wechselten recht oft. 1701 gründeten die Hugenotten in Cottbus eine französische Kolonie. Mit dem Pflanzen der ersten Maulbeerbäume im Jahr 1718 hielt die Seidenraupenzucht Einzug. So wurde Cottbus schon während der Gründerzeit zu einer Stadt der Textilindustrie und des Textilmaschinenbaus. Zur Zeit der DDR wurde das Gebiet um Cottbus zu einem wichtigen Kohle- und Energielieferanten. Mit dem Bus fuhren wir durch die große 15 qkm große Stadt. Die Altstadt erkundeten wir zu Fuß.
Auf dem Markt findet zweimal im Jahr der Wochenmarkt statt. An 1304 Marktständen bieten Händler heimische Produkte an. Eine Glocke verkündet Beginn und Ende des Markttages.
Wir besichtigen den Spremberger Turm und die jüdische Synagoge.
Am Nachmittag fuhren wir zum Branitzer Park. Fürst Pückler erbte das Schloss Branitz und gestaltete einen der schönsten Parks Deutschlands. Fürst von Pückler-Muskau war Generalleutnant, Landschaftsarchitekt, Schriftsteller und Weltreisender und seinerzeit ein bekanntes Mitglied der gehobenen Gesellschaft.
Der Innenpark stellt, im Gegensatz zum reich geschmückten Pleasureground (ein an das Haus stoßendes, geschmücktes, eingezäuntes Terrain, Verbindungsglied zwischen dem Park und Gärten) eine „zusammengezogene idealisierte Natur“ dar. Pückler ließ dazu Seen und Kanäle ausheben und Hügel modellieren, sodass aus der ursprünglich flachen Ebene ein natürlich wirkendes Relief entstand. Im Zentrum des Parks liegt das Barockschloss Es zeigt in historisch ausgestalteten restaurierten Räumen die Wohnwelt des Fürsten Pückler.
Wir fuhren an diesem Tag noch nach Frankfurt. Am Abend besuchten wir das Kabarett „Oderhähne“. Die Aufführung von „Mat(ts)chos mögens heiß“, war ein Genuss. Eines haben die Kabarettisten auf jeden Fall mit dem Frankfurter Wappen-Hahn gemeinsam: Den spitzen Schnabel und die scharfen Krallen.
Am Morgen des 26. April unternahmen wir eine Stadtführung durch die Universitätsstadt Frankfurt , die in früheren Jahren der Hanse angehörte. Der Rundgang begann im Gertraudenpark an der Lindenstraße. Dort sind die Grabmale für Ewald von Kleist und Heinrich von Kleist zu sehen.
Ewald Christian von Kleist war ein deutscher Dichter und preußischer Offizier. Er studierte in Fankfurt/Oder und in Königsberg und diente im Regiment des Prinzen Heinrich von Preußen. Als Friedrich II. im Siebenjährigen Krieges gegen die russisch-österreichischen Armee kämpfte und eine Niederlage erlitt, zerschmetterte eine Kartätschenkugel das rechte Bein von Ewald von Kleist. Er starb an seinen Verwundungen und wurde in Frankfurt begraben.
Das wichtigste Denkmal Frankfurts ist jedoch dem bekanntesten Sohn der Stadt, Heinrich von Kleist, gewidmet. Es wurde 1910 vom Berliner Künstler Gottlieb Elster geschaffen.
Mit Frankfurt sind auch die Namen anderer Persönlichkeiten verbunden:
Der Komponist Michael Praetorius war einige Jahre in Frankfurt zu Hause. Er studierte Theologie und Philosophie an der Universität in Frankfurt/Oder, nebenbei war er als Organist an der Universitätskirche tätig. 1590 verließ er, ohne abgeschlossenes Studium, Frankfurt.
Zu nennen sind auch die Brüder Alexander und Wilhelm Humboldt, die einen Teil ihres Studiums in Frankfurt absolvierten.
Auch Carl Emanuel Philipp Bach immatrikulierte sich 1734 an der Brandenburgischen Universität Frankfurt und war Mitglied des dortigen Collegiums musicum. Als Kammercembalist Friedrichs II. unterrichtete er in Berlin den jungen Herzog Carl Eugen von Württemberg Ihm widmete er die sechs Württembergischen Sonaten für Cembalo (Nürnberg 1744), nachdem er zuvor seine sechs Preußischen Sonaten Friedrich II. zugeeignet hatte.
Während der Stadtführung sahen wir in Frankfurt die Oberkirche St. Marien. Das Kirchengebäude, die ehemalige Hauptpfarrkirche der Stadt, gehört zu den größten Gebäuden der norddeutschen Backsteingotik. Eine Besonderheit sind die drei großen Bleiglasfenster. Interessant ist auch das Rathausgebäude mit dem Uhrenturm und der Oderturm. Der Fisch aus dem Jahre 1454, der zum Wahrzeichen der Stadt wurde, hängt über dem südlichen Schmuckgiebel des Rathauses. Er symbolisiert das Recht der „Höhung“ in den Heringsfässern.
Unser Interesse galt aber dem Kleistmuseum. Der am 18. Oktober 1777 in Frankfurt geborene Dichter ist bekannt durch seine Schauspiele: „Das „Käthchen von Heilbronn“, „Der zerbrochene Krug“, „Amphitryon“ und der Novelle „Michael Kohlhaas“. Der „Zerbrochene Krug“ wurde durch Goethes Vermittlung in Weimar uraufgeführt. Der Schauspieler, der Adam spielte, wurde seiner Rolle nicht gerecht. Außerdem war das Drama damals zu lang. Kleist war tief enttäuscht, denn die Aufführung wurde ein Misserfolg und der Dichter meinte, Goethe sei daran schuld. Kleist studierte an der Brandenburgische Universität in Frankfurt, brach aber das Studium ab und trat in die Preußische Armee ein. Der Militärdienst war ihm aber unerträglich geworden. Deshalb quittierte er den Dienst und nahm seine Studien wieder auf. Danach arbeitete er als Volontär im preußischen Wirtschaftsministerium in Berlin. Er reiste viel, suchte einen Halt im Leben, aber seine Ideale stimmten mit der Wirklichkeit nicht überein. Er war ein Mensch, der ständig innerlich unzufrieden war. Seine Zerrissenheit äußert sich auch in seinen Werken. 1811 fuhr er mit Henriette Vogel zum Kleinen Wannsee und erschoss Henriette und sich selbst. Die Abschiedsbriefe der Beiden zeugen davon, dass es ein Freitod war.
Nach der Besichtigung des Museums spielte Dieter Schumann, Geschäftsführer der Erfurter Goethe-Gesellschaft, auf einem Flügel Werke von Beethoven. Am Nachmittag fuhren wir noch zu dem Basar im polnischen Slubice.
Am nächsten Tag, am 27. April, fuhren wir nach der polnischen Stadt Gorzow Wielkopolski an der Warthe, die 70 km von Frankfurt entfernt ist und zu deutsch Landsberg hieß. Während der Busfahrten erfuhren wir auch, dass Ulrich von Hutten einen Teil seines Studiums in Frankfurt absolvierte und hier 1506 sein Bakkalaureat ablegte. Er schrieb das Gedicht „Lob der Mark“, ein Loblied auf die Mark Brandenburg.
Wir erfuhren, dass Christa Wolf 1929 in Landsberg an der Warthe als Tochter der Kaufleute Otto und Herta Ihlenfeld geboren wurde. Sie besuchte dort bis kurz vor Kriegsende die Schule. Nach der Flucht vor den anrückenden Truppen der Roten Arme fand die Familie 1945 vorerst in Mecklenburg eine neue Heimat. Christa Wolf arbeitete als Schreibhilfe beim Bürgermeister des Dorfes Gammelin bei Schwerin. Sie beendete die Oberschule 1949 mit dem Abitur in Bad Frankenhausen. Von 1949 bis 1953 studierte sie Germanistik in Jena und Leipzig. Ihre Diplomarbeit schrieb sie zum Thema: Probleme des Realismus im Werk Hans Falladas. Während der Busfahrt hatte uns Karin Volkmer schon mit dem Leben und Wirken der Dichterin vertraut gemacht. Sie las uns aus dem Roman „Kindheitsmuster“ der Dichterin vor, das autobiographische Züge trägt.
Auch das Leben des Dichters Gottfried Benn ist mit Brandenburg verbunden. Er besuchte das Gymnasium in Frankfurt/Oder und war während des II. Weltkrieges in der Kaserne in Landsberg stationiert. Hier schrieb er u.a. seinen Roman „Roman des Phänotyp“(1943).
Zu nennen ist auch der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher (1768-1834), der von 1794-1796 Hilfsprediger in Landsberg/Warthe war. Als Hegelianer war er Vertreter der Dialektik. Aber auch der Religion maß er große Bedeutung zu. Sie gehört nach seiner Ansicht genauso zum Menschen wie das Denken und das moralische Handeln.
Sohn der Stadt Landsberg ist auch der Romanist und Politiker Victor Klemperer, der 1881 hier geboren wurde. Als Überlebender des Holocaust war er ein wichtiger Chronist und Zeitzeuge der Jahre vor und während der Nazizeit. In der DDR war er Vertreter des Kulturbundes und Abgeordneter der Volkskammer. Er starb 1960 in Dresden.
In Landsberg hatten wir eine Führung durch die Stadt, in der zur Zeit die Straßenbahnlinien erneuert werden. Dadurch ist die Stadt gegenwärtig ein einziger Bauplatz. Die Führung begann im Stadtpark. Dort befindet sich auch eine Skulptur, die die Autorin Christa Wolf in sitzender Position zeigt. Der Stadtführer erzählte uns, dass Christa Wolf nach der Wende Landsberg besuchte und der Stadt ihren polnisch geschriebenen Roman„Dziecinstwo“ (Kindheitserinnerung) überreichte.
Die Stadt gehört seit dem Wiener Kongress zu Brandenburg. Die Gemeinde ließ Mitte des 19. Jahrhunderts, nach Plänen des Berliner Architekten Carl Tietz, eine Synagoge im byzantinischen Stil errichten, die in der Kristallnacht von den Nazis niedergebrannt wurde. Heute erinnert nur noch ein Gedenkstein an die Synagoge. Zu den Sehenswürdigkeiten gehören: Der Dom St. Marien aus dem späten 13. Jahrhundert, die Konkordienkirche von 1776, die wegen ihrer Außenfarbe auch Weiße Kirche genannt wird. Nach dem II.Weltkrieg wurde sie umgestaltet und als Teil eines Klosters erweitert. Sehenswert ist auch das Historische Speichergebäude auf der gegenüberliegenden Warthe (heute Museum) und die Uferpromenade an der Warthe. Genannt werden sollte auch der Paucksbrunnen auf dem Marktplatz von 1897.
Am Sonntag, dem 28.04.2019 fuhren wir noch nach Neutornow und Bad Freienwalde. Neutornow gehört zu Bad Freienwalde. Auf dem Kirchhof, südlich der Kirche, die hoch über dem Ort liegt, befindet sich die Grabstätte des Vaters von Theodor Fontane. Nach dem Besuch des Grabes fuhren wir noch nach dem Moorbad Bad Freienwalde und besichtigten die spätgotische Kirche. Danach fuhren wir zurück in die Heimat. Unser Ausflug war verbunden mit Lesungen, musikalischen Darbietungen, Gesang und Frohsinn.
Dank allen, die die Reise so umsichtig und präzise vorbereitet haben. Dank auch unserer Busfahrerin, die nicht nur für eine sichere Fahrt sorgte, sondern auch für unser leibliches Wohl. Es war eine sehr gut organisierte und interessante Bildungsreise, die allen Teilnehmern gut gefallen hat.

Wielands Teutscher Merkur – ein neuer Zeitschriftentyp in Deutschland

Vortrag von Dr. Egon Freitag, Weimar am 2. April 2019

Die Zeitschrift wurde in Weimar herausgegeben. Ihr Vorbild war die französische „Mercure de France“, die literarisch-politische und andere Themen beinhaltete. Wieland lernte auch deren Redakteur, einen Abbe Renald, kennen, eine Begegnung in Weimar.
Im April 1773 erschien das erste Heft. Es war finanziell ein gewagtes Unternehmen. Die Zeitschrift sollte im Sinne der Aufklärung wirken. Sie war folglich kosmopolitisch angelegt. Die Themen waren überaus vielfältig. Sie umfassten auch Naturthemen, so gab es einen Aufsatz über die Entdeckung der Nilquellen. Wieland veröffentlichte auch Reiseberichte Georg Forsters. Er interessierte sich ebenso lebhaft für technische Neuerungen: Dampfmaschinen und die Ballonfahrt der Brüder Montgolfier.
Wieland war stark der politökonomischen Richtung des Merkantilismus verhaftet; alles sollte dem Nutzen der Menschen dienen. Daher schwärmte er weniger für die schönen Barockgärten, umso mehr für „ein wohlbestelltes Feld“. Es sei viel nützlicher für die Menschen. Er war ja zwischen 1797 und 1803 selbst Gutsbesitzer. In Oßmannstedt besaß er 100 Hektar, dazu auch Vieh. Er setzte sich dafür ein, dass die in der Dreifelderwirtschaft übliche Brache nicht leer dalag, sondern mit Futterpflanzen, so Luzerne, Lupine und vor allem Klee bestellt wurde. Er nannte sich selbst einen „poetischen Landjunker“. Er sah es als Pflicht für den Menschen an, den Tieren ein „Wohlleben“ zu gewähren; somit erwies er sich als Vorkämpfer für Tierschutz und Tierwohl.
Mit seiner neuartigen Zeitschrift wollte Wieland die verschiedensten Lesergruppen erreichen. So warb er um Herders Mitarbeit. Der war damals noch Hofprediger in Bückeburg. Herder schrieb einen Aufsatz über den großen Renaissance-Humanisten Ulrich von Hutten. Er lobte ihn in den höchsten Tönen, sah in ihm sogar einen Vorkämpfer der Reformation. Dagegen betrachtete er Erasmus von Rotterdam als Schwächling und Verräter an der protestantischen Sache.
Eine solche Sicht musste natürlich die katholischen Leser verärgern. Die Zeitschrift hatte beispielsweise viele Leser im katholischen Bayern und in Österreich. Wieland griff zu einer List. Er ließ zwar Herders Aufsatz unverändert abdrucken, versah ihn jedoch mit einer beschwichtigenden Fußnote, mit der er sich von Herder distanzierte. Der „Teutsche Merkur“ sollte überparteilich sein. Diese Fußnote verärgerte Herder über alle Maßen.
Nun entwickelte sich der „Merkur“ immer mehr zu einem Spiegelbild der unterschiedlichsten Themen, so fanden Aufsätze über Literatur, Landeskunde, Reisen, Naturkunde, Kunst, Musik, Ökonomie, Recht und Politik Eingang. Sogar über die Monsunwinde in Indien wurde spekuliert. Thema war auch die Erfindung der ersten Rechenmaschine von Leibniz, ergänzt durch Nachrichten von einer verbesserten Rechenmaschine durch einen Pfarrer aus Kornwestheim.
Goethe, Schiller, der Verleger Bertuch und der Dichter Heinse waren Autoren des „Teutschen Merkur“, ebenso die Jacobis, der Erfurter Statthalter Dalberg, die Dichter Lenz, Klinger, Gleim, Bürger, Jung-Stilling, Geheimrat Voigt und der Hofprediger Graef aus Gera. Goethes Gedicht über Hans Sachs poetische Sendung wurde im „Merkur“ veröffentlicht und auch sein Monodrama „Proserpina“.
Es zeigten sich erhebliche Niveauunterschiede, die Goethe einmal veranlassten vom „Sau-Merkur“ zu sprechen.
Als Novum wurde im „Merkur“ der Fortsetzungsroman eingeführt, auf diese Weise erschienen Wielands „Abderiten“. Dies stieß auf Goethes Ablehnung, sinngemäß meinte er: So etwas schnipselweise liest doch kein Mensch.
Wieland hat auch junge Talente gefördert. So schrieb ein gerade erst 16-jähriger Dichter ein 25 Seiten langes Gedicht, das Eingang in den „Merkur“ fand.
Mit Schiller hatte Wieland eine längere Unterredung. Er bot ihm Mitarbeit an. Schiller zeigte sich begeistert, er erhoffte sich dadurch eine Verbesserung seiner finanziellen Lage. In einem Brief an seinen Jugendfreund Huber war von 1000 Talern möglichen Profits die Rede.
Der „Teutsche Merkur“ verfügte zu jener Zeit, um 1787, über 1400 Subskribenten. Nach Abzug aller Kosten blieben Wieland je Ausgabe etwa 200 Reichstaler übrig.
Schiller veröffentlichte zum Beispiel seine „Geschichte des Dreißigjährigen Krieges“, die mit einer Vorrede Wielands versehen wurde. Auch die Einleitung zum „Abfall der vereinigten Niederlande …“ erschien in Wielands Publikation, ebenso das Gedicht „Die Götter Griechenlands“.
Schiller erwies sich indes als oft sehr nachlässig. Wieland drängte, denn der Abgabetermin drängte. „Ich sitze im Todesschweiß, da machte ich mir aus Angst ein Gedicht.“ Das erschien nun anstelle Schillers ausgebliebener oder verspäteter Lieferung. Wieland mahnte: „Sie scheinen den Teutschen Merkur vergessen zu haben.“
Wieland hat Schiller sehr gefördert, er führte ihn sogar bei Hofe ein. Dennoch erwies sich Schiller als höchst undankbar. Er schrieb später sehr negativ über Wieland, trug er sich doch mit eigenen Zeitschriftenplänen, inbesondere den „Horen“. Hier wurden beispielsweise Goethes „Venezianische Epigramme“ zuerst veröffentlicht. „Die Horen müssen jetzt mit u geschrieben werden“, meinte hingegen Wieland. Schiller, retour, schrieb an den Verleger Cotta: „Wenn die Horen herauskommen, wird der Teutsche Merkur gewiss eingehen.“ Für den „Merkur“ sei jetzt jeder schlechte Aufsatz gerade gut genug. Doch mit seiner Prognose lag Schiller falsch. Seine „Horen“ gingen nach drei Jahrgängen ein, Wielands „Merkur“ hingegen erlebte 37 Jahrgänge, nämlich von 1773 bis 1810. Ab 1790 hieß die Zeitschrift „Der Neue Teutsche Merkur“.
Etwa 1500 Autoren waren beteiligt, ebenso Übersetzer und etwa 100 Künstler, die z. B. Kupferstiche lieferten. Musikalien wurden ebenfalls veröffentlicht. Der Darmstädter Naturforscher und Herausgeber Johann Heinrich Merck, Goethes Freund, steuerte Rezensionen bei. Er schrieb auch einen großen Aufsatz über prähistorische Tierknochen.
In den 90-er Jahren kam Wielands Schwiegersohn, Prof. Reinhold aus Jena, zu Wort, er verbreitete in vielen Aufsätzen im „Merkur“ die Lehre Kants.
Die Leser setzten sich vor allem aus dem gebildeten Bürgertum und dem Reformadel zusammen. Wieland schrieb 18 Aufsätze über die Französische Revolution, nahm pronociert zur Pressefreiheit Stellung; Pressefreiheit, „wodurch sich unser Europa rächen kann“. Man nehme uns diese Freiheit, und Unwissenheit, und Europa werde bald wieder in Dummheit und Despotie ausarten.
Nie habe eine Nationalversammlung der Menschheit soviel Ehre gemacht wie diese, schrieb Wieland über die Franzosen. Hier geschehe der Übergang von der Knechtschaft in Freiheit. So akzeptierte er die Hinrichtung Ludwig XVI. als notwendig, kehrte sich aber von der Schreckensherrschaft der Jakobiner ab. Der „Merkur“ wurde zur wichtigsten Informationsquelle über die revolutionären Ereignisse in Frankreich.
Hierzu ein Beispiel. 1790 gab es einen Bauernaufstand in Sachsen. Ein Seilergeselle namens Benjamin Geißler verteilte Flugblätter, die zur Entmachtung des Adels und zur Absetzung der sächsischen Landesregierung aufriefen. Geißler wurde beim Verteilen der Flugblätter ertappt und verhaftet. Auf die Frage des Richters, woher er denn seine Informationen beziehe, antwortete Geißler: aus dem Teutschen Merkur und aus umlaufenden Gerüchten. Also haben auch Handwerker den „Merkur“ gelesen.
Wieland war aber eher Anhänger der konstitutionellen Monarchie englischer Prägung mit ihrer Gewaltenteilung. Er sah die zunächst rettende Rolle Napoleons für die Ereignisse in Frankreich voraus, setzte auf ihn seine Hoffnungen. Am 6. Oktober 1808 wurde er sogar vom Imperator gemeinsam mit Goethe im Weimarer Stadtschloss empfangen. Napoleon würdigte Wieland mit den Worten: „Wir nennen Sie den Voltaire Deutschlands“. Beide erhielten den Orden der Ehrenlegion.
Der „Merkur“ hatte auch viele Leser im Ausland, in Schottland, beispielsweise, war die Zeitschrift gut bekannt. Sie wurde dort insbesondere von Kommissionären vertrieben. Doch auch in Riga wurde der „Merkur“ gelesen. Seine Auflage ging indes im Laufe der Jahre zurück. Bestand die Auflage anfangs noch aus 2500 Exemplaren, so sank sie später auf 800. Dennoch erschien der „Merkur“ bis 1810.
Veröffentlicht wurden auch Anzeigen von Buchhändlern. Guthsmuths veröffentlichte einen Aufsatz über gymnastische Leibesübungen.
Goethe hat in einer Logenrede Wieland nach dessen Tod 1813 sehr gelobt und so auch dessen Zeitschrift. Dieses Unternehmen sei zwar nicht das erste seiner Art gewesen, aber doch neu und bedeutend, und der Teutsche Merkur könne mehrere Jahre hindurch als Leitfaden in unserer Literaturgeschichte gelten.