Kastratengenies im 18. Jahrhundert

Vortrag von Dr. Bertold Heizmann, Essen am 5. April 2022

Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert

Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.

Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)

Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.

Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.

Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,

„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).

Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).

Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.

Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:

In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die

Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“

Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.

Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.

Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.

Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)

Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:

Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.

Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.

Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.

Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.

In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.

Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.

Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.

Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.

Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.

Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:

Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,

Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.

[…]

Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,

Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]

Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,

Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]

Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,

Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.

Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.

Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:

„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!

Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?

Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?

Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.

Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).

Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.

Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.

***

Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.

Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:

„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“

Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.

Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde

Ein Geschlecht das mir gleich sei

Zu leiden, weinen

Genießen und zu freuen sich

Und dein nicht zu achten

Wie ich!“

In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:

Spude dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Zaudern.

Frisch, holpert es gleich,

Ueber Stock und Steine den Trott

Rasch in’s Leben hinein!

Und die letzte Strophe:

Töne, Schwager, in’s Horn,

Raßle den schallenden Trab,

Daß der Orkus vernehme: wir kommen,

Drunten von ihren Sitzen

Sich die Gewaltigen lüften.

Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.

Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.

***

Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.

In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.

Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.

Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).

Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.

***

Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.

Kraftgenies im Kastratenjahrhundert. Über den Wandel des dichterischen Selbstverständnisses im 18. Jahrhundert

Pfui! Pfui über das schlappe Kastratenjahrhundert, zu nichts nütze, als die Taten der Vorzeit wiederzukäuen und die Helden des Altertums mit Kommentationen zu schinden und zu verhunzen mit Trauerspielen. Die Kraft seiner Lenden ist versiegen gegangen, und nun muß Bierhefe den Menschen fortpflanzen helfen.

Drastische Worte des „Räubers“ Karl Moor. Bemerkenswert, woran er sein Zeitalter misst: am „Altertum“. Dessen „Helden“ scheinen noch über die „Kraft der Lenden“ verfügt zu haben, wir brauchen heute dagegen „Bierhefe“. (Bierhefe ist übrigens schon in der Antike als Schönheitsmittel bekannt gewesen, weil der natürliche Alterungsprozess der Haut verlangsamt wird. Hier scheint Bierhefe allerdings zu etwas anderem zu dienen…)

Mangelnde Kräfte also, aber nicht nur im Hinblick auf Sexualität. Die Taten der Vorzeit werden „wiedergekäut“; die Helden des Altertums werden mit „Kommentationen“ geschunden und mit Trauerspielen „verhunzt“. Schiller, der Literat, spricht in der Rolle des Karl Moor also über die Literatur seiner Zeit. Den Bezug zur Literatur – speziell zu der der Antike – wird schon im allerersten Satz des Dramas erkennbar: „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen“ – auch dies ein Satz Karl Moors. Die Literatur seiner Zeit als ‚Tintenkleckserei‘. Demgegenüber die biographischen Heldenbilder Plutarchs. Also: das Heldenhafte der Antike ist allenfalls noch in „verhunzter“ Form vorhanden, die Kraft der Lenden ist versiegt. Kann ein Mann wie Karl Moor, der urwüchsige Kräfte in sich spürt, sich damit abfinden? Welches Gegenbild hält er dem Kastratenjahrhundert entgegen?

Um diese Frage zu beantworten, werfen wir noch einmal einen Blick auf einen signifikanten Ausdruck in seiner Klagerede: Die Taten der Vorzeit würden „wiedergekäut“.Sie sind also noch da, aber nicht mehr in der originären Form, sondern als schwaches Abbild.

Wir befinden uns mitten in der literaturgeschichtlich zentralen Frage des 18. Jahrhunderts. Bleibt uns angesichts der Vorbildlichkeit der antiken Literatur – oder sogar der antiken Kunst überhaupt – nichts anderes übrig, als diese andachtsvoll nachzuahmen? Schauen wir genauer hin.

Der Begriff der Nachahmung (griechisch mímesis, lateinisch imitatio) hat eine lange Tradition. Jahrhundertelang galt als Fixpunkt der Kunst die Nachahmung der Natur (imitatio naturae). Die Natur galt als vernünftig; insofern erfolgt die Kunst – als Nachahmung – ebenfalls vernünftigen Kriterien folgend. Platon sah dies kritisch, denn wenn die Natur aus Abbildern der Ideen besteht, ist die Kunst minderwertig: sie ist lediglich das Abbild des Abbilds und entfernt sich von der ursprünglichen Idee. So auch in der Literatur; insofern erklärt sich sein berühmter Spruch „Die Dichter lügen“. Eine interessante Auffassung äußert Platon in seiner Apologie des Sokrates: Um den Orakelspruch „Keiner sei weiser als Sokrates“ zu widerlegen (denn dieser glaubt viele zu kennen, die weiser sind als er), sucht der derartig Benannte verschiedene „weise“ Männer auf: die Politiker, die Handwerkes, auch die Dichter. Dort erfährt er,

„…dass sie nicht durch Weisheit dichten, sondern durch eine Naturgabe und in der Begeisterung, eben wie die Wahrsager und Orakelsänger. Denn auch diese sagen viel Schönes, wissen aber nichts von dem, was sie sagen; ebenso ward mir deutlich, erging es auch den Dichtern“ (Apologie 22 b-c).

Daraus leitet sich die ihm zugeschriebene paradoxe Formulierung ab, dass er nichts weiß, aber (wenigstens) weiß, dass er nichts weiß… (Wörtlich übersetzt heißt es allerdings in der Apologie: „Ich weiß, dass ich nicht weiß“).

Dagegen stellt Aristoteles der Mimesis die „Poiesis“, also die Hervorbringung (Schöpfung) gegenüber. Dies lässt sich ermitteln aus seiner Unterscheidung zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung: Die Geschichtsschreibung muss die Geschehnisse so wiedergeben, wie sie waren, die Dichtung dagegen so, wie sie hätten sein können. Neben Wahrheit und Realität gibt es Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit.

Welches Selbstverständnis hat der nachahmende Künstler, speziell der Dichter? Werfen wir einen Blick auf traditionelle Dichtungs- und Dichterbegriffe:

In der Antike gilt der Dichter als Ver- (Über-)Mittler göttlicher Botschaften. Die

Götter schicken Hermes als Vermittler aus. [Daraus leitet sich der Begriff „Hermeneutik“ ab.] So beginnt Homers Ilias mit der Anrede: „Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus…“, die Odyssee mit „Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes…“. Der römische Schriftsteller Vergil scheint in seiner Äneis zunächst davon abzukehren („Waffen besing ich und ihn, der zuerst von Troias Gestaden / Durch das Geschick landflüchtig Italien und der Laviner Küsten erreicht…“, V. 1 ff.), aber schon bald darauf (V. 8 ff.) heißt es: Sag, o Muse, mir an, weshalb, verletzt in der Gottheit / Oder im Herzen gekränkt, der Unsterblichen Fürstin den frömmsten / Mann so viel Drangsale bestehn und Mühen erdulden / Ließ.“

Auch in den mittelalterlichen säkularen Schriften, den deutschen Heldenepen, findet sich die Anrufung an eine übergeordnete Instanz, wenn auch nicht an eine Gottheit. So beginnt das althochdeutsche Hildebrandslied mit „Ik gıhorta dat seggen“ (Ich habe sagen gehört…), und auch das berühmteste Epos, das Nibelungenlied (mittelhochdeutsch, um 1200) beruft sich auf eine unbestimmte Quelle: „Uns ist in alten mæren /wunders vil geseit“… Selbst zu erfinden, galt geradezu als verpönt; so muss sich Wolfram von Eschenbach, der Dichter des Parzival, von seinem Dichterkollegen Gottfried von Straßburg (Tristan und Isolde) den Vorwurf gefallen lassen, er sei ein vindaere wilder maere, er habe also verbotenerweise „er-funden“. Wolfram hatte nämlich sich nicht nur der überlieferten Quelle des Chrétien de Troyes (Perceval) bedient, sondern hinzuerfunden, denn sein anderer angeblicher Gewährsmann, ein gewisser Kyot, existiere überhaupt nicht (was auch stimmt). Gemeinsam ist all diesen Bezugnahmen die Anrufung einer außenstehenden Autorität; der Dichter gilt lediglich als ausführendes Organ.

Dass der Dichter als Seher oder Priester, jedenfalls als Verkünder überzeitlicher Wahrheit, angesehen wird, zeigt sich auch in der Begrifflichkeit: Das griechische „Enthusiasmus“ bedeutet wörtlich „von Gott erfüllt sein“ (< theos = Gott); im lateinischen Wort „Inspiration“ steckt spiritus (Geist) wie auch im deutschen Wort „Begeisterung“.

Im Barock findet sich die christliche Variante: dichterische Inspiration wird mit religiöser Erleuchtung (auf christlichem Grund) verbunden. So heißt es bei Catharina von Greiffenberg (1633-1694), Quelle künstlerischen Schaffens seien „des Himmels milde Gaben“: die dichterische Aufgabe sei es, das Lob Gottes zu singen.

Der Zeitgenosse Immanuel Pyra (1715-1744) allegorisiert die Dichtkunst (als eine Art Göttin), sie wirkt in ihren Söhnen, den Dichtern, durch die Inspiration (das „himmlische Feuer“). Pyra wendet sich übrigens gegen den Reim, dessen glättender sinnlicher Reiz vom Ernst der Aussage ablenke. (Ähnlich später Bertolt Brecht, wenn auch aus anderen Gründen, nämlich wegen der angeblichen Glättung der gesellschaftlichen Widersprüche.)

Halten wir die beiden Thesen noch einmal fest:

Es gilt das Prinzip der Imitatio/Nachahmung: Der Künstler schafft nicht aus sich heraus. Und: Die künstlerische Meisterschaft ist nicht der eigenen Fähigkeit zu verdanken, sondern göttlicher Inspiration.

Spätestens seit der Renaissance (die ja schon vom Namen her sich auf die Antike bezieht) bekommt der Nachahmungsbegriff eine weitere Bedeutung.

Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass das zersplitterte Deutschland (im Gegensatz etwa zu den zentralistischen Staaten England und Frankreich) bis ins 18. Jahrhundert hinein geistige Diaspora ist. Lesen und Schreiben sind einer kleinen Oberschicht (Adel sowie Klerus) vorbehalten. Eine eigene kulturelle Tradition wie etwa im Italien Dantes oder Petrarcas gibt es nicht. Die klassische Antike muss als Vorbild herhalten. „Nachahmung der Alten“ bedeutet, dass die antiken Kunstwerke und ihre – angeblichen oder tatsächlichen – Regeln/Gesetzmäßigkeiten rigide einzuhalten sind. Für die Literatur bedeutet dies die Einhaltung der sogenannten drei Einheiten, d.h. der Einheit des Ortes, der Zeit und der Handlung im Gefolge der aristotelischen Poetik.

Es entstehen Regelpoetiken, d.h. Anleitungen zum Dichten. Die berühmtesten französischen Dramatiker, Jean Racine und Pierre Corneille, stehen mit ihren Themen breit auf dem Boden der Antike, wie die Titel vieler ihrer Stücke zeigen: Phèdre, Andromache, Iphigénie von Racine; Medée, Andromède, Œdipe von Corneille.

Dennoch: Mehr und mehr setzt sich eine Gegenbewegung durch. Sie wird im französischen Kulturraum als „Querelle des Anciens et des Modernes“ bezeichnet, also Streit der „Alten“ mit den „Modernen“, man könnte auch sagen: mit den „Jungen“. Eigentlich ist dies mehr als ein Streit, es ist ein Aufstand. Der Aufstand der „Jungen“ gegen die „Alten“ hat eine individualpsychologische sowie eine kulturhistorische Dimension. Individualpsychologisch gesehen findet die Auseinandersetzung zwischen „jung“ und „alt“ immer wieder auf’s Neue statt; was sich „modern“ fühlt, betrachtet das Alte als verzopft, überkommen; wer den Fortschritt propagiert, sieht das Konservative als rückständig an; das Neue behauptet sich gegen das Überholte, Verbrauchte, Abgelebte. Derartige – oft schmerzhafte – Auseinandersetzungen und Konflikte führen in der Politik und in der Wissenschaft zu Revolutionen – wissenschaftstheoretisch hat diesen Prozess Thomas S. Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions mit dem Begriff des „Paradigmenwechsels“ versehen –, und auch in der Kulturgeschichte hält man, stark vereinfacht, solche Ablösungsprozesse fest. Dazu gehören, wenn wir im Rückblick „Aufklärung“ und „Sturm und Drang“ sowie „Klassik“ und „Romantik“ einander gegenüberstellen – Schlagworte und Programme wie „Emotionalität“ gegen „Rationalität“, also die Auflehnung gegen den Primat des Verstandes: Die Welt sei erforschbar und erklärbar, heißt es dort, jetzt propagiert man: Die Welt ist voller Rätsel und Geheimnisse. Und maßgeblich zu der jeweiligen Gegenbewegung trägt der Gedanke bei, es bedürfte nicht zwangsläufig einer Orientierung an der Antike, man solle und könne sich auf die eigene Vergangenheit, die eigenen Werte, besinnen.

In dieser „Querelle“ereifert man sich über die Frage, ob man sich wirklich sklavisch an der Antike ausrichten müsse – es gebe doch auch genügend Beweise dafür, dass auch die gegenwärtige Kunst sich nicht hinter der Antike zu verstecken brauche. Der französische Schriftsteller Charles Perrault (1628-1703) schreibt 1687 in einem hymnischen Gedicht auf Ludwig XIV., die Antike sei durchaus „vénérable“, also verehrungswürdig, aber doch keineswegs „adorable“ (anbeten müsse man sie deswegen nicht). Und er fährt fort: „Ich sehe die ‚Anciens‘, also die Alten, an, ohne die Knie zu beugen – Sie sind groß, das ist wahr, aber sie sind Menschen wie wir.“ Ohne ungerecht zu sein, könne man das Zeitalter Ludwigs mit dem „schönen Zeitalter des Augustus“ gleichsetzen. Perrault und andere machen sich stark für die eigene Tradition, die eigene Vergangenheit, d.h. man setzte sich für eine Wiederbelebung des – vorher als „dunkel“ verschrienen – Mittelalters sein.

Ein weiterer entscheidender Impuls kommt aus England, und zwar von dem Philosophen namens Shaftesbury (vollständig: Anthony Ashley Cooper, Earl of Shaftesbury,1671-1813), der in der Literaturgeschichte als „Wegbereiter der Genie-Ästhetik“ gilt.

Er unterscheidet zwei Dichtertypen: Einerseits gebe es einen formal vollkommenen, aber einfallslosen Kopisten, der sich zu Unrecht als Dichter bezeichnet und scharf kritisiert wird: „How ridiculous any one becomes who imitates another“. Ihm steht der „real Master“ (it. virtuoso) gegenüber; er kennt die Seele als ein harmonisches Ganzes. Auch er ahmt nach, aber nicht irgendein irdisches Vorbild, sondern Gott, den Sovereign Artist; er ist ein „second maker under Jove“ (In: Soliloquy, or Advice to an Author, 1710). Auch er bedarf (noch) der göttlichen Inspiration, des Enthusiasmus.

Mit „Jove“ (= Jupiter = Zeus) wird natürlich der Mythos von Prometheus aufgerufen, der den Menschen gegen den Willen der Götter das Feuer brachte und deshalb in den Kaukasus verbannt wurde. Im Christentum war Prometheus immer negativ gesehen worden (die Würde des Schöpfers gehört allein Gott). Seit der Renaissance aber gilt Prometheus als „alter Deus“, so bei Boccaccio. Als zentrale Figur des „Sturm und Drang“ wird, wie anhand von Goethes Hymne „Prometheus“ zu zeigen sein wird, der Gigantismus der Genieperiode verkörpert.

Diese Einflüsse aus Frankreich und England schlagen sich, wenn auch mit angemessener Verspätung, auch im deutschen Sprachraum nieder. Allerdings gibt es einige Widerstände zu überwinden. In weiten Kreisen wird die französische Auffassung vor der „Querelle“ vertreten. Hier ist insbesondere der Aufklärungsschriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700-1766) zu nennen, der sich als deutscher „Literaturpapst“ gerierte. In seinem Versuch einer critischen Dichtkunst von 1730 schreibt er: „Gott hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht geschaffen. Die natürlichen Dinge sind an sich selber schön: und wenn also die Kunst etwas Schönes hervorbringen will, so muss sie dem Muster der Natur [gemäß] nachahmen“. Also gilt es, an der Nachahmungslehre festzuhalten. Gottsched stellt die Regelhaftigkeit der Dichtkunst, die Rationalität, in den Vordergrund und tut alles Irrationale, Übernatürliche oder Wunderbare als Phantasiewerk ab. Ausgerechnet die Phantasie – nach heutiger Auffassung das wichtigste „Werkzeug“ des Dichters – darf bei ihm keinen Platz haben.

Der einflussreichste Gegner Gottscheds, Gotthold Ephraim Lessing, nimmt in seiner Schrift „Ob die Neuern oder die Alten höher zu schätzen sind“ (1748) dezidiert Stellung:

Das Alter wird uns stets mit dem Homer beschämen,

Und unser Zeiten Ruhm muss Newton auf sich nehmen.

[…]

Ich kenne ihren Wert [gemeint sind die „Alten“], ich schätz auch ihren Ruhm,

Doch schätz ich uns noch mehr, als alles Altertum. […]

Wir Neuern haben […] Kraft, gleich der Alten Kräften,

Und im Gehirn noch Saft gleich der Alten Säften. […]

Und sprächen wir wie sie, so könnt es leicht geschehn,

Auch unser Lied wär gut und gleich der Alten schön.

Eine weitere Bereicherung der Diskussion stammt von dem Schweizer Literaturkritiker und Philosophen Johann Jakob Bodmer: Er führte den Begriff des „Wunderbaren“ ein. Mit diesem Begriff bereitet er den Boden für eine Betrachtung der Kunst, die das Geheimnisvolle, Nicht-Fassbare dem Rationalen entgegenhält – er macht also das, was später ein Hauptzug der Romantik sein wird.

Noch dominiert allerdings der Klassizismus. Er findet seine reinste Ausprägung bei Johann Joachim Winckelmann (1717 – 1768), dem „Erfinder der deutschen Klassik“ (DIE WELT vom 8.6.2018), oder, weniger spektakulär formuliert, dem „Wegbereiter der klassizistischen Ästhetik in Europa“ (Gerald Heres). Sein Kernsatz lautet:

„Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten“, so in der Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. (1755) – Ein wahrhaft paradoxer Satz: Unnachahmlichkeit als Folge von Nachahmung!

Für jemanden, der originale Gestaltungskräfte in sich spürt, muss das ein deprimierender Satz sein. Wir können nichts Eigenes, Originelles schaffen? Es gibt keinen anderen Maßstab als die klassische Literatur? Wir sind verurteilt, „Klassizisten“, also Nachahmer der griechischen und römischen „Klassik“, zu sein?

Und auch eine andere Frage schiebt sich in den Vordergrund: Hat Karl Moor (bzw. Schiller) dies gemeint, als er von „Verhunzen“ und „Nachäffen“ sprach? Er schätzt die Antike ja durchaus, ohne Zweifel, und er verurteilt jene Nachäffer auf’s Schärfste – aber was hat er ihnen entgegenzusetzen?

Die Antwort lautet: das Originalgenie, oder, in der Sprache der Zeit, das Kraftgenie. Es geht also um den zentralen Begriff „Genie“, und es geht um nichts weniger als um eine grundsätzliche Neubewertung der Rolle des Künstlers, seines Selbstverständnisses. Die zentralen Begriffe sind: Genie – Originalität – Ursprünglichkeit – Kreativität (Schöpferkraft). Wir erinnern uns an Shaftesburys Leitspruch vom Künstler als Schöpfer, als second maker under Jove.

Was ist das also – ein Genie? Der Begriff wird erst im 17./18. Jahrhundert auch auf Personen bezogen, vorher war er gleichgesetzt mit lat. Genius oder Ingenium, also in der Bedeutung: „Gesamtheit der charakterlich-geistigen Eigenschaften“. – Für unseren Zusammenhang ist wichtig: Der geniale Künstler bedarf keiner von außen vorgegebenen Ordnung, er stiftet „aus sich selbst heraus eine Ordnung für sein Werk.“ (Thorsten Valk).

Dies bedeutet jedoch keine vollständige Loslösung von Vorbildern, sondern eine Neubewertung. Bei Johann Gottfried Herder heißt es: „In Griechenland entstand das Drama, wie es in Norden nicht entstehen konnte“. Jede künstlerische Schöpfung habe andere Rahmenbedingungen. Kulturphänomene seien historisch und somit unwiederholbar. Weder das Drama des Sophokles noch das Shakespeares könnten deshalb als überzeitliches Muster festgeschrieben werden. Und in seiner Rede Zum Shakespears Tag (1771) macht sich Goethe vom „regelmäßigen Theater“ frei. „Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Wir stehen am Beginn einer Autonomieästhetik: Der „Genius“ bedürfe nicht der „Prinzipien“, denn er sei [selbst] der Erste, „aus dessen Seele die Teile, in ein ewiges Ganze zusammengewachsen, hervortreten.“ Der Künstler rückt als Schöpfer an die Seite des biblischen Gottes. Wie Gott kann er beim Blick auf sein geniales Werk erklären: „Es ist gut“.

Der Künstler als „Erster“ ist ohne vorgegebene „Prinzipien“; er verfügt über Originalität, geht somit vom Origo, dem Nullpunkt, aus, oder, um eine andere Metapher zu verwenden, vom „Ursprung“.

***

Selbstbewusst gehen die jungen Künstler ihre Mission an. Eine neue, kraftvolle Sprache erobert die Bühne. Die Wanderbühnen mochten zuvor „dem Volk aufs Maul geschaut“ haben, aber die Hoftheater in den verschiedenen Residenzstädten haben noch nie derart rustikale, oft auch obszöne Töne vernommen. Das „Götzzitat“ ist nur ein Beispiel. Die Alltagssprache herrscht vor; der „gehobene Ton“, die Versform haben ausgedient. Entscheidender noch ist das Aufbegehren, das Beschreiten neuer Wege. Die sogenannte „Ständeklausel“ wird aufgehoben: Der jahrhundertealte Grundsatz, dass die Tragödie hochgestellten Personen vorbehalten ist und „niederes Volk“ lediglich das Personal der Komödie ausmacht, gilt nicht mehr. Das „bürgerliche Trauerspiel“ wagt es, nicht nur nichtadlige Personen in den Mittelpunkt zu stellen, sondern ihnen auch die moralische Überlegenheit gegenüber dem libertinären Adel zuzuweisen.

Der aus bäuerlichen Verhältnissen stammende – die Mutter war Wäscherin – Dichter Friedrich Maximilian Klinger, der mit Goethe zeitweise freundschaftlich verkehrte, gibt mit seinem Drama „Der Wirrwarr“, das er später in „Sturm und Drang“ umbenannte, der ganzen Epoche den Namen. Er schreibt es 1776 in Weimar. Bezeichnenderweise heißt die männliche Hauptperson „Wild“. Er liefert gleich in der ersten Szene eine Probe ab:

„Heyda! nun einmal in Tumult und Lernen, daß die Sinnen herumfahren wie Dach-Fahnen beym Sturm. […] Tolles Herz! du sollsts mir danken! Ha! tobe und spanne dich dann aus, labe dich im Wirrwar!“

Nachhaltig schlagen die Dramen des jungen Schiller im wahrsten Sinne auf der Bühne ein. Als die „Räuber“ in Mannheim aufgeführt werden, berichtet ein Augenzeuge: „Das Theater glich einem Irrenhause, rollende Augen, geballte Fäuste, stampfende Füße, heisere Aufschrei im Zuschauerraum!“ Und dies angesichts eines Verbrechers, eines Räuberhauptmanns! Und von Aufführungen der „Luise Millerin“, später in „Kabale und Liebe“ umbenannt, kann ebenfalls berichtet werden, dass sich selbst höchste Kreise – etwa am Berliner Hof – die Exaltationen des „Feuerkopfes“ mit Begeisterung ansehen, obwohl sie selbst als amoralisch oder gar lächerlich dargestellt werden.

Goethe hat vielfachen Anteil am „Sturm und Drang“: Sein Drama „Götz von Berlichingen“ erfrischt mit seinem kraftvollen Sprachduktus; sein „Werther“ löst an Hysterie grenzende Begeisterungsstürme aus. Mit seinen Gestaltungen des Prometheus-Mythos, insbesondere der großen Hymne von 1774, lässt er endgültig die Nachahmungsgedanken hinter sich. Sein „produktives Talent“, von dem er in Dichtung und Wahrheit spricht, lässt ihn Prometheus als selbstschöpferisches Wesen erfassen, mit dem er sich identifiziert. Er sieht interessanterweise Prometheus im Kontextder griechischen Mythologie mit ihrem Polytheismus als Antipoden zum Teufel (im Monotheismus), denn der Satan bleibe „immer in dem Nachteile der Subalternität, indem er die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht, Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu schaffen und zu bilden vermag“ (Dichtung und Wahrheit III, 15). Der Künstler, will dies sagen, befreit sich im „Trutz“ von jener Subalternität. So lautet der Kernsatz der Hymne: „Hast du’s nicht alles selbst vollendet / Heilig glühend Herz?“ Und die Schlussstrophe bricht endgültig mit der Autorität des Zeus:

Hier sitz ich, forme Menschen

Nach meinem Bilde

Ein Geschlecht das mir gleich sei

Zu leiden, weinen

Genießen und zu freuen sich

Und dein nicht zu achten

Wie ich!“

In der ebenfalls um 1774 entstandenen Hymne „An Schwager Kronos“ sieht er sich als stürmisch vorandrängenden Reisenden:

Spude dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Zaudern.

Frisch, holpert es gleich,

Ueber Stock und Steine den Trott

Rasch in’s Leben hinein!

Und die letzte Strophe:

Töne, Schwager, in’s Horn,

Raßle den schallenden Trab,

Daß der Orkus vernehme: wir kommen,

Drunten von ihren Sitzen

Sich die Gewaltigen lüften.

Die in den Elysischen Feldern weilenden „Gewaltigen“ begrüßen stehend den Neuankömmling. In einer späteren Fassung mildert Goethe diesen an Hybris grenzenden Anspruch ab, dort heißt es: „Daß gleich an Thüre / Der Wirth uns freundlich empfange“.

Die Antike hat für Goethe nie aufgehört, als Vorbild und Maßstab zu dienen. In seinen „klassischen“ Dichtungen setzt er das um, was Herder „Nachbildung“ genannt hätte, also Übernahme des Vorbilds bei eigener, der Zeit angemessener Formung. Hierfür liefert seine „Iphigenie“ das beste Beispiel. Sie spielt auf antikem Grund, lässt aber die Euripideischen Kennzeichen hinter sich. Die Lösung des Konflikts erfolgt nicht nur einen deus ex machina, sie kommt vielmehr durch Iphigenies humanitäres Wirken zustande.

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Die Idee vom Dichter als Seher oder Priester hält sich hartnäckig, auch nach der „Geniezeit“. Der Dichter des Erhabenen, Schiller, spricht noch in seiner Elegie „Die Sänger der Vorwelt“ von den „Vortrefflichen“, die „vom Himmel den Gott, zum Himmel den Menschen gesungen“: Der Dichter ist Mittler zwischen Gott und den Menschen. Aber eben in der „Vorwelt“, der „goldenen Zeit“. Der moderne Dichter ist zwar immer noch Priester, aber nicht mehr im Dienste irgendeiner Religionsgemeinschaft. Die Götter sind „schöne Wesen aus dem Fabelland“, heißt es in „Die Götter Griechenlands“.

In Goethes und Schillers „Kunstreligion“ tritt die Kunst an die Stelle der Religion.

Allerdings wirkt der Dichter am „Weltenheil“ mit und begründet damit ein neues Priesterkönigstum. In der Jungfrau von Orleans (I,2) heißt es: „Drum soll der Sänger mit dem König gehen, / Sie beide wohnen auf der Menschheit Höhen“.

Hölderlin dagegen spricht von der Gegenwärtigkeit der Götter selbst, denen sich der Dichter mit „Einfalt“, „Demut“, „Seelenreinheit“ nähert: „… uns (Dichtern) gebührt es […] / ihn selbst (den Gott), mit eigner Hand / Zu fassen und dem Volk ins Lied / Gehüllt die himmlische Gabe zu reichen“ („Wie wenn am Feiertage…“). Oft zeigt sich die Beschränktheit des Dichters darin, dass er die Natur – auch die menschliche – nicht angemessen zu fassen vermag, so in der Ode „Buonaparte“. Dennoch gilt das berühmte Wort: „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ („Andenken“).

Auch spätere Dichter, etwa Stefan George („Das neue Reich“), rekurrieren auf Goethes Geniebegriff. Der Dichter ist nicht Sprachrohr und Vermittler göttlicher Wahrheiten, er wahrt seine Selbständigkeit und Eigengesetzlichkeit.

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Die Inspiration, die „göttliche Begeisterung“, ist als Quelle der Dichtung damit keineswegs beseitigt. Noch immer spukt diese Vorstellung in den Köpfen herum, man bedürfe, wenn man sich als Dichter fühlt, der richtigen Umgebung, der richtigen Stimmung…, dann würde schon der Geist in einen hineinfahren.

Kommen wir zum Schluss noch einmal auf den wiederholt verwendeten Begriff der Muse zurück. Die antiken Beispiele begannen mit der Anrufung der Muse, und noch in der trivialen Geschichte von Balduin Bählamm sind es die „ewig wohlgenährten Musen“, aus deren „mütterlichen Busen“ dem Dichter der Stoff „beständig neu“ in „seine saubre Molkerei“ rinnt. Gerne wird jene den Dichter befallende Inspiration scherzhaft auch als „Musenkuss“ gezeichnet. Die griechische Antike kennt seit Hesiod neun Musen, vier davon sind Schutzgöttinnen der Dichtkunst: Kalliope (Epische Dichtung), Erato (Liebesdichtung), Melpomene (Tragödie) und Thalia (Komödie). Kalliope ist zugleich die ranghöchste Muse. (Der Begriff ist im Übrigen verwandt mit Museum als auch mit Musik.) In einem Mosaik aus dem 3. Jahrhundert sieht man Vergil mit den beiden Musen Kalliope (links) und Melpomene. Auch in späteren Abbildungen sind die Musen oft als Begleiterinnen eines Dichters zu sehen. Dass selbst in der Genieperiode – und um diese ging es hier ja vordringlich – diese göttliche Begleitung nicht ausgeschlossen ist, zeigt eine Kreidezeichnung der Goethe in Freundschaft verbundenen Malerin Angelika Kauffmann: „Die Musen des Dramas huldigen Goethe“ (1788). „Huldigen“ ist ein vielsagender Begriff. Es geht nicht mehr darum, dass die Göttinnen dem Dichter einflüstern, was er sagen soll: Hier ist es der Dichter selber, der Genius, dem gehuldigt wird. Die Rollen haben sich verschoben.