Goethes evolutionäre Reise – zur Modernität des Goethe’schen Homunculus

Vortrag von Dr. Manfred Osten, Bonn,  am 4. September 2018

Wir verspielen die Chancen, jemals das Glück zu erkennen. Wer diese Situation beginnt und fortführt, ist Faust. Die „Sorge“ haucht ihn an: Es ist die Krankheit zum Tode. Davon ist unser 21. Jahrhundert betroffen. Es herrscht eine totale Blindheit hierüber. Alles bewegt sich in Richtung digitaler Demenz, in einem Prozess, in dem wir unser Gedächtnis in den digitalen Speichern ablegen. Das „alte“ Gedächtnis wird liquidiert. Dies widerspiegelt sich in der Szene mit Philemon und Baucis und dem Wanderer, der nichts anderes als Zeus selbst ist. Es wird alles zerstört, auch Zeus selbst. Die Idylle ist dahin. Vollstrecker sind drei brutale Gestalten: Raufebold, Habebald und Haltefest.
Den historischen Hintergrund bildet der Reichsdeputationshauptschluss 1803, der das alte Europa auflöst und damit auch das „europäische Gedächtnis“ auslöscht. Als Konsequenz folgt eine ziemliche Verdüsterung, die Goethe bereits ahnt. Er hat dabei auch die Ergebnisse der Französischen Revolution und ebenso die beginnende Industrialisierung im Blick. Es handelt sich bei beiden um eine irreversible Weltveränderung.Eine nie dagewesene Beschleunigung in Produktion, Konsumtion und im Transportwesen hebt an. Damit geht eine ungeheure Unruhe des Menschen einher.
Heute kommt eine Beschleunigung in der Kommunikation hinzu. Daraus folgt eine totale Überforderung des Menschen. Die Empathie geht dabei verloren. So gilt für die Moderne, worüber schon Goethe urteilte: „Alles ist jetzt ultra.“ – „Keiner kennt sich mehr.“ Damit wird ebenfalls ein Prozess der Selbstentfremdung eingeleitet. Goethe ahnt, dass der Mensch diesen Überforderungen nicht standhalten wird. Er warnt in den „Ernsten Scherzen“ (Brief an Wilhelm von Humboldt) vor einer versuchten Optimierung des Gehirns; vor allem die neuronale Kompetenz ist dafür nicht gegeben.
Warum dies nicht funktionieren kann, zeigt sich in Faust II in der „Kaiserpfalz“. Dort erfolgt durch Mephisto eine Geldschöpfung ohne Wertschöpfung, eine Virtualisierung des Geldes. Dieser Vorgang kann von niemandem mehr reguliert werden. In seiner extremen Form entspricht dies heutigen Finanzmärkten, wo Maschinen Geldflüsse in Sekundenbruchteilen steuern. Wir sind aber durchaus nicht in der Lage, hochkomplex zu denken, wie es in diesen hochfrequenten digitalen Apparaturen geschieht. Die globale Geldschöpfung erhöhte sich nach dem 2. Weltkrieg um das 40-fache, die Wertschöpfung lediglich um das Vierfache. Die Renditen gehen ins Uferlose, während die Renditen aus Arbeit gegen Null tendieren. So wird es bis 2030 die Hälfte aller Berufe gar nicht mehr geben.
Es wächst somit die Möglichkeit vielerlei Entgrenzung. Dies kommt in den Worten des Marschalls zum Ausdruck: „Welch Unheil muss auch ich erfahren. Wir wollen alle Tage sparen und brauchen alle Tage mehr…“ Wir sind also in der Lage, immer mehr zu fordern, als produziert werden kann. Goethe sieht durchaus auch irreversible Folgen durch ungehemmte Ausbeutung fossiler Brennstoffe voraus. Doch all dies hat seinen Preis: „Tags umsonst die Knechte lärmten, Hack und Schaufel, Schlag um Schlag; Wo die Flämmchen nächtig schwärmten, Stand ein Damm den andern Tag. Menschenopfer mussten bluten, Nachts erscholl des Jammers Qual; Meerab flossen Feuergluten, morgens war es ein Kanal.“ Biotope trocken zu legen, bringt Unheil, wie auch die Eingriffe in die Ozeane. Eine gigantische „Landgewinnung“ wurd ja auch im „Faust II“ beschrieben. Vormals wurde ein Viertel des Kohlendioxids vom Meer aufgenommen, doch die Meere versauern zusehends und dies irreversibel. Mephisto (an Faust) beschreibt diesen Prozess: „Du bist doch nur für uns bemüht, Mit deinen Dämmen, deinen Buhnen; Denn du bereitest schon Neptunen, Dem Wasserteufel, großen Schmaus. In jeder Art seid ihr verloren; – Die Elemente sind mit uns verschworen, Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.“
Abschied von der alten Welt, heißt Abschied nehmen von der Realität. So, wie in der „Kaiserpfalz“ virtuelles Geld geschaffen wurde, so werden wir selbst die ganze Welt virtualisieren. Wir sind Produkte der Medien und ihrer digitalen Giganten. Uns umfängt das Bängliche, wir sind verstrickt in den Netzen; ihnen sind wir ausgesetzt, sie werden uns umgarnen. Diese virtuelle Welt führt uns schon Goethe vor.
All dies sind im Grunde genommen nicht nur ökonomische, sondern auch neuropathologische Entwicklungen. Deren Gefahren gestaltet Goethe im „Faust II“. Nachdem alle reich geworden sind, müssen sich alle nur noch amüsieren. Hierhin führt auch das leistungslose Grundeinkommen, das nur noch Amüsement übrig lässt. Das Symbol des „Dreifußes“ für die Mütter steht dafür; was wir hier und auch auf der Leinwand, in dem Fernsehbildern und auf den Smartphones erleben, ist die ungeheure Brutaölität, sex and crime; auch der Raub der Helena durch Paris im „Faust“ illustriert dieses Geschehen. Und Faust hält, was geschieht, für die Realität. Er versucht, Paris zu verprügeln, um Helena zu befreien. Es misslingt, er sinkt bewusstlos zu Boden. Mephisto muss ihn retten, es bleibt eine Schattenwelt: „Mit Narren sich zu beladen, kommt der Teufel gar zu Schaden.“
Von großer Bedeutung in diesem Spiel sind wie erwähnt Goethes „Ernsthafte Scherze“ . Diesen „wissenschaftsutopischen Gespenstern“ (in der Gen-Werkstatt des Menschen) begegnet Goethe in seinen „Scherzen“ mit tiefgründiger, bitterer Ironie. Er fordert damit vor allem jene Distanz des Menschen gegenüber sich selbst ein, die er als notweniges Korrektiv versteht angesichts seiner Einsicht: „An ihm (dem Menschen) nichts wahr ist, als dass er irrt“.
Ausgangspunkt für den Paradigmenwechsel der Homunculus-Thematik ist die revolutionierende Harnstoffsynthese Wöhlers 1828; ihm gelang es, aus organischer Materie diesen organischen Stoff zu gewinnen. Nun ist es erwiesen, dass Eingriffe in die Gene möglich sind; es wird sie verändern, um sie zu optimieren. Genau dies wird die Idee des Homunculus.
Famulus Wagner erweist sich hierbei als Gen-Designer. Hier wird ein Mensch gemacht. Wagner: „Behüte Gott! Wie sonst das Zeugen Mode war, Erklären wir für eitel Possen.“
Das Ziel bleibt ein optimiertes Hirn. Aber Homunculus erweist als als nicht lebensfähig, weil er nur in seiner Phiole schweben, keinesfalls aber die reale Welt betreten kann.
Allerdings gibt es Schnittstellen zwischen den Neurowissenschaften und der Kybernetik, um Gedanken lesen und bestimmen zu können. China hat eine solche Möglichkeit mittels Sensoren bereits entwickelt Falls das Leistungsvermögen absinkt, kann dies sofort korrigiert werden.
Homunculus ist hierzu fähig,allerdings ist er überhaupt nicht zufrieden, er möchte ein vollständiges Wesen sein. So gelingt das Experiment nicht vollständig, dennoch zeigen sich Faust und Mephisto überrascht, was mit ihm gelang.
Zum vollständigen Wesen gehört freilich auch das Wissen um die eigene Herkunft, das historische Gedächtnis, was Homunculus fehlt. Dies widerspiegelt die „Klassische Walpurgisnacht“. Mephisto begleitet ihn dorthin, verweist auf die Notwendigkeit, 1500 Jahre zurück in die Vergangenheit zurückzugehen. Homunculus erwirbt Herrschaftswissen über Zukunft und Vergangenheit, weist zurück zu den „Überresten“ des Altertums. Aber er ist bereits der einzig Wissende, der ihn noch kennt, den Weg zur „Klassischen Walpurgisnacht“. Er weiß zugleich, warum er diesen Weg einschlägt. Hier nämlich, wo sich sein diabolischer Geburtshelfer Mephisto als Ignorant erweist und folglich verhöhnt wird, sucht Homunculus nichts Geringeres als das, was in der Bioethik-Debatte inzwischen als Grundrecht des Menschen diskutiert wird: das Recht auf Existenz. Und nichts wünscht sich der halbfertige Homunculus mehr, als vollkommen auf die Welt zu kommen. Darauf wurde bereits hingewiesen.
Osten vermerkt: „Er (Homunculus) will seine eigene Zukunft gestalten. Und er will sie dialektisch meistern durch Rückgriff auf die fernste Vergangenheit, auf die Antike. Es ist ein Versuch, bei dem er Mephisto und Faust weit hinter sich lässt. Sie haben in dieser Zukunft nichts mehr zu suchen …
Homunculus lässt hierbei sogar die fortschrittsgläubige Optimierungsbesessenheit des ungeduldigen Projektemachers Faust hinter sich. Denn Faust verwechselt am Ende einen (Entwässerungs-) Graben mit seinem Grab und bleibt damit beiden Konstanten der Menschheitsgeschichte treu, die Goethe … diagnostiziert hatte als Torheiten und Schlechtigkeiten, das heißt Irrtum und Gewalt als Resultate übereilten Denkens und Handelns.“
Die Szene geht zurück zu den frühen griechischen Philosophen; Thales wird eingeführt. Er wendet sich an Homunculus mit einer Verheißung: „Gib nach dem löblichen Verlangen, Von vorn die Schöpfung anzufangen! Zu raschem Wirken sei bereit! Da regst du dich nach ewigen Normen, Durch tausend, abertausend Formen, und bis zum Menschen hast du Zeit.“
Die Warnung folgt auf dem Fuß, durch Proteus: „Komm geistig mit in feuchte Weite, Da lebst du gleich in Läng und Breite, Beliebig regest du dich hier; Nur strebe nicht nach höhern Orden;
Denn bist du erst ein Mensch geworden, Dann ist es völlig aus mit dir.“
Folglich scheitert Homunculus, die Phiole zerschellt am Muschelwagen der Galatee. Er wird ausgeschlossen, weil er das Festgelage antiker Gestalten in der Welt stört.
Goethes letztes Wort? Wir brauchen nicht die erneuerte Evolution. Wir können in selbstvergewissender Erkenntnis der Überforderung entgehen, indem wir uns selber auf ganz andere Weise optimieren können, nämlich zur Askese, zum asketischen Staunen. Dies muss man üben, üben, üben (Nietzsche).
Die Tiere werden durch ihre Organe belehrt, der Mensch muss zunächst seine Organe belehren. Wenn er dies nicht tut, sinkt er unter die Tiere. Damit wird der Barbarei der Weg bereitet, warnt Goethe im „Faust“. Dann lebt der Mensch nur nach seinen Affekten (Spinoza). Gewalt, Gier, Ungeduld treiben uns zu ständigem Fitnesszwang. Doch eigentlich sind wird durch die kulturelle Revolution domestiziert worden. Ohne sie ginge vieles verloren. Daher muss der verständige Mensch sich mäßigen, um glücklich zu sein, lautet Goethes Botschaft an die digitalisierte Welt. Jegliche Maßlosigkeit steht unter dem Fluch der Natur. Dies schlägt Mephisto in den Wind. Er pocht auf maßlose virtuelle Wünsche und Forderungen, für die er selbst nichts leistet: schnelles Geld, schnelles Handeln, schnelle Liebe (Gretchen für Faust) alles muss rasch geschehen. Enttäuschungen bleiben nicht aus. Aber wie soll man glücklich werden in einer Lage dauernder Verzweiflung? Faust umtreibt all die Dinge, die Wirklichkeit geworden sind, aber: „Nachts erscholl des Jammers Qual ..“ So verwechselt er seinen Fortschrittsglauben (vermeintlicher Entwässerungsgraben) mit seinem, dem eigenen Grab. Eine Warnung.
Dagegen steht Lynkeus der Türmer. Er zeigt Möglichkeiten auf, wie man glücklich leben kann, indem man ein Leben in Achtsamkeit und in der Anschauung führt. Damit gelingt Übereinstimmung von Mensch und Natur. Dies läuft auf Entschleunigung hinaus. Es liegt in unserer Hand, uns so weit wie möglich den Überforderungen zu entziehen. Wir müssen die Phänomene geduldig ansehen, daraus entwickeln wir das Glück. Aber unserer Welt ist momentan die Empathie verloren gegangen. Daher gilt unsere ständige Aufmerksamkeit den drohenden Verdüsterungen des Lebens, denen wir durch sittliches – gutes – Handeln begegnen müssen.
Dies ist die Gegenwelt, die Lynkeus sieht – im Gegensatz zu den furchtbaren Handlungen, die Faust unternimmt. Faust meint: Herrschaft gewinnen, ist Eigentum. Damit ist das 21. Jahrhundert vorweggenommen. Lynkeus ist anderer Ansicht: Durch Aufmerksamkeit ( für Natur und Mensch, für uns selbst) wird Eigentum generiert. Erst der nach innen gewendete Blick schafft wahres, unveräußerliches Eigentum. Goethe: „Ich weiß, dass mir nichts angehört. Als der Gedanke der ungestört. Aus meiner Seele will fließen …“