Goethe als Freimaurer

Vortrag von Dr. Gerhard Müller, Jena, am 3. Dezember

Goethe war Mitglied der Weimarer Loge „Amalia“. In seinen Werken sind viele Bezüge zur Freimaurerei zu erkennen. Nach einem Gesuch beim Meister vom Stuhl, dem Geheimen Rat Jacob Friedrich Freiherr von Fritsch, wurde Goethe am 23. Juni 1780 als Lehrling in die Loge aufgenommen. Genau ein Jahr später wurde er zum Gesellen befördert, und den Meistergrad erhielt er am 2. März 1782, unmittelbar nach der Meistererhebung von Herzog Carl August.

Da die Weimarer Loge bereits 1783 ihre Tätigkeit einstellte, war die Freimaurerei in Weimar für einige Jahrzehnte nicht mehr aktiv präsent. Erst mit der Neugründung der Loge 1808, bei der eine Umstellung vom früheren System der strikten Observanz auf die moderne Lehrart Friedrich Ludwig Schröders erfolgte, findet man Goethe wieder in aktiver Logenarbeit. Allerdings erschien er nur selten in den Verrsammlungen, an seiner Stelle erschien oft Sohn August.

Jedoch haben ihm die geheimen Wissenschaften nicht mehr noch weniger gegeben, als er hoffte, wird in einem seiner Briefe deutlich. Bereits 1781 warnte er seinen Schweizer Freund Johann Caspar Lavater: „Glaube mir, unsere moralische und politische Welt ist mit unterirdischen Gängen, Kellern und Kloaken minieret, wie eine große Stadt zu sein pflegt, an deren Zusammenhang und ihrer bewohnenden Verhältnisse wohl niemand denkt und sinnt; nur wird es dem, der davon einige Kundschaft hat, viel begreiflicher, wenn da einmal der Erdboden einstürzt, dort einmal ein Rauch aus einer Schlucht aufsteigt und hier wunderbare Stimmen gehört werden. Glaube mir, das Unterirdische geht so natürlich zu als das Überirdische, und wer bei Tage und unter freiem Himmel nicht Geister bannt, ruft sie um Mitternacht in keinem Gewölbe.“

Es scheint hier, dass Goethe kein wirliches Interesse an der Freimaurerei gehabt habe. Allerdings wird man kaum behaupten können, er habe das freimaurerische Ideal der aufklärerischen Menschenveredlung nicht ernst genommen, ist doch sein eigenes literarisches Werk wie die gesamte Weimarer Klassik eigentlich nichts anderes, als ganz im Sinne des Ideals der Freimaurerei eine beständige Arbeit an der Verwirklichung des Wahren, Guten und Schönen zu sein.

Die erste Loge auf dem Boden des Herzogtums namens „Zu den drei Rosen“ entstand 1744 als Tochtergründung der Berliner Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ in Jena. Nach dem Siebenjährigen Krieg konnte die Berliner Hegemonie in Mitteldeutschland nicht mehr aufrecht erhalten werden, und ein anderer, von Kursachsen ausgehender Freimaurerbund suchte die Logen unter seinen Einfluss zu bringen. In Jena geschah dies mit Hilfe eines geheimnisvollen Fremden namens Johann Friedrich Johnssen, der als Emissär der geheimen Oberen des Templerordens auftrat. In einem raffinierten Coup gelang es ihm 1763, die Jenaer Freimaurer dazu zu bewegen, sich von der Berliner Mutterloge zu lösen.Fritsch, ein junger kursächsischer Adliger, wurde schließlich dort Meister vom Stuhl. Man war auf Erkenntnis templerischer Geheimnisse erpicht. Im Mai 1764 wurde in einem Seitental der Saale, in Altenberga, der neue Freimaurerbund gegründet. Dort kam es zum Eklat. Als Johnssen die Geheimnisse der Templer offenbaren sollte, verschwand er plötzlich, angeblich auf Geheiß der geheimen Oberen, mitsamt der Ordenskasse. Das Ziel war dennoch erreicht: der Zusammenschluss der in Altenberga vertretenen Orden zum „Orden vom heiligen Tempel zu Jerusalem“, meist kurz „Orden der strikten Observanz“ genannt. Der neue Bund unterwarf die angeschlossenen Logen einer straffen bürokratischen Struktur und militärischen Disziplin, deren Kernstück neben dem Bekenntnis zum christlichen Glauben die eidliche Verpflichtung zum „unbedingten Gehorsam“ gegenüber den bekannten und unbekannten Ordensoberen bildete. Die „Rosenloge“ in Jena wurde geschlossen und dafür die Loge „Amalia zu den drei Rosen“ in Weimar, ebenfalls unter Fritschs Leitung, neu gegründet. Johnssen wurde Monate später als Betrüger und Hochstapler aufgegriffen und inhaftiert.

Die „Strikte Observanz“ geriet in Folge einer nicht abreißenden Kette von Hochstaplerskandalen in Bedrängnis, in den Logen wurde zudem eine zunehmende Kritik an der Tempelherrenlegende und dem Treiben des Inneren Ordens laut. Manche Kräfte strebten eine radikal-aufklärerische Reform der Freimaurerei an. In Weimar war Johann Joachim Christoph Bode die treibende Kraft. Ein im Sommer 1782 nach Wilhelmsbad bei Hanau einberufener Konvent der Strikten Observanz, der über die Zukunft des Ordens entscheiden sollte, wurde auch von Goethe, wie seine Briefe zeigen, mit Spannung verfolgt. Das Ergebnis von Wilhelmsbad war nach fünfzig Sitzungstagen ein Kompromiss: Die Legende, dass die strikte Observanz die Fortsetzung der mittelalterlichen Tempelherren sei und der Bezug auf „unbekannte Obere“ mit unbedingter Gehorsamspflicht wurden für obsolet erklärt. In diesem Sinne führte Bode am 10. Dezember 1782 auch Goethe und Carl August in den Inneren Orden ein und erhob sie zu „schottischen Meistern“. Die Strikte Observanz firmierte jetzt als „Orden der wohltätigen Ritter der heiligen Stadt“.

Goethe und Carl August erlangten auf diese Weise Zugang zu den „unterirdischen Gängen“. Aber die erhoffte Möglichkeit, darin zu agieren, blieb ihnen dennoch verwehrt, da die in Wilhelmsbad beschlossene Verlegungdes Ordensdirektoriums nach Weimar nicht vollzogen wurde.

Aber die Alternative war schon vorbereitet. Schon in Wilhelmsbad hatte der umtriebige Bode Verbindungen mit dem 1776 von Adam Weishaupt gegründeten Orden der Illuminaten geknüpft, der eine radikal aufklärerische Programmatik vertrat und sich nun als Ersatz für den Inneren Orden der Strikten Observanz anbot. Im März 1783 traten auch Goethe (Abaris), Carl August (Äschylos) und Herder (Damasus) dem Illuminatenorden bei. Der Orden wurde allerdings seit 1785 reichsweit verfolgt.

Goethe nutzte die Netzwerke der Freimaurerei und des Illuminatenordens sogar während seiner Italienreise. Die von dem dänischen Freimaurer und Illuminaten Friedrich Münter gegründete Illuminatenloge in Rom kontaktierte er wohlweislich nicht, denn in Rom, wo die päpstliche Inquisition lauerte, konnte es lebensgefährlich werden, wenn man als Freimaurer denunziert wurde. Und Goethe wurde ja geheimdienstlich überwacht. Im aufklärungsfreundlichen Neapel war die Aufnahme freimaurerischer Kontakte leichter möglich. Der in der „Italienischen Reise“ beschriebene geheimnisvolle Empfang bei der „Principessa ***“, wo Goethe den bedeutenden Staats- und Rechtsphilosophen Gaetano Filangieri kennenlernte, besaß einen illuminatischen Hintergrund, gehörte Filangieri doch der ebenfalls von Münter gegründeten Illuminatenloge in Neapel an. Ohne jenes Netzwerk wäre es Goethe jedenfalls nicht möglich gewesen, die Identität des geheimnisvollen Wundermannes Graf Cagliostro, dessen Gründung einer „ägyptischen“ Freimaurerloge in Paris ebenso wie seine Verwicklung in die spektakuläre Halsbandaffäre der französischen Königin Marie Antoinette damals die europäische Öffentlichkeit beschäftigte, bei seinem Aufenthalt in Palermo aufzuklären.

In Plaermo, wo sich Goethe wie üblich incognito als Philipp Möller aufhielt, war seine Identität jedenfalls schon bei seiner Ankunft bekannt. So wurde er zur Ostertafel des Vizekönigs von Sizilien, des Fürsten Francesco d’Aquino, gebeten. Dort traf er, wie er in der „Italienischen Reise“ schilderte, einen alten Bekannten, den Malteserritter Graf Antonio Statella wieder, den er einst bei einem Aufenthalt am Hof des Kurmainzer Statthalters, des Freiherrn Carl Theodor von Dalberg in Erfurt kennengelernt hatte und der sich jetzt „mit bedenklichem Anteil“ nach ihm und den Weimarer Bekannten erkundigte. Auch in Palermo wirkte sich Goethes Freimaurertum förderlich aus, war doch d’Aquino das Oberhaupt der Strikten Observanz im Königreich Neapel. Königin Maria Carolina ließ Goethe ausführliche Dossiers über Cagliostro alias Giuseppe Balsamo zuspielen und ermöglichte ihm sogar einen Besuch bei dessen Familie in Palermo. So konnte man die Authentizität einer gerade in Paris erschienenen Schrift, in der die Belege für Cagliostros wahre Identität abgedruckt worden waren, durch einen unabhängigen Gewährsmann von internationaler Reputation bestätigen lassen.

Goethes Cagliostro-Recherchen sind nicht die einzigen Indizien für seine Einbindung in illuminatische Projekte. So votierte er in einem Brief aus Italien für die Berufung des Philosophen Carl Leopold Reinhold als Professor nach Jena, und ebenfalls 1787 erfolgte die noch vor seiner Abreise 1786 eingeleitete Berufung des Illuminaten Cornelius Johann Rudolf Riedel als Erzieher für den Erbprinzen Carl Friedrich. Weitere Berufungen von Illuminaten erfolgten.

Wir finden die literarische Verarbeitung von Goethes Wanderungen durch die Gefilde der Freimaurer und Illuminaten vor allem in seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“, wo wir uns bei der Erzählung über Lotharios Schloss und die Gesellschaft im Turm wohl zu Recht an das Gothaer Schloss Friedenstein mit seinem geheimnisvollen Park erinnert fühlen dürfen. In diesem weitläufigen Schloss mit seinem Bibliotheksturm, wo Herzog Ernst II. residierte, studierte und Sterne beobachtete, befand sich auch das Ordensarchiv der Illuminaten, die später so genannte „Schwedenkiste“, zu der auch der berühmte, heute als Kriegsbeute in Moskau lagernde und lange Zeit unzugängliche 10. Band mit den Personalakten der Illuminaten gehört.

Die dritte und letzte Phase in Goethes Freimaurerkarriere, die sich mit der 1808 neugegründeten Weimarer „Amalia“ verband, war kein Wunschkind des Dichters, war doch dieses lokale Kapitel für ihn seit 1789 eigentlich abgeschlossen. Noch in seiner Silvesterdenkschrift von 1807 hatte er sich vehement gegen ein in Jena geplantes Logenprojekt ausgesprochen. Wenn schon, dann sollte die neue Loge wenigstens nicht in dem anarchischen Jena, sondern wie einst die alte „Amalia“ in der Residenzstadt Weimar entstehen. Schließlich ließ sich auch der Herzog überzeugen.

Der heikelste Teil dieser Operation war der Übergang von der Strikten Observanz zum einfachen Drei-Grad-System des Hamburger Theaterdirektors und Freimaurer-Reformers Friedrich Ludwig Schröder. Goethe sah hierzu zwei Wege: der erste, ihm persönlich sympathische, bestand, da die alte 1783 stillgelegte „Amlia“ formal immer noch existierte, darin, dass sie durch ihren alte Meister vom Stuhl, Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch, wiedereröffnet würde, um sodann das neue System beschließen zu lassen. Falls Fritsch sich dem verweigere, sollte man sich die Logeninsignien aushändigen lassen und an den Meister vom Stuhl der Rudolstädter Loge „Günther zum stehenden Löwen“ übergeben. Dies war der bereits nach Schröders System arbeitende Friedrich Wilhelm Ludwig von Beulwitz, an den die Bitte herangetreten wurde, die neue Loge zu eröffnen. Aber Fritschs Verhältnis zum Herzog war bereits irreparabel beschädigt. Goethe schlug daher eine Wallfahrt nach Rudolstadt vor, da eine Neugründung der Loge nicht zu umgehen war. Als Stiftungstag wurde der 24. Oktober 1808 gewählt, der Geburtstag der im Jahr zuvor verstorbenen Herzogin Anna Amalia, wo die Loge im Versammlungslokal der alten „Amalia“, dem Wittumspalais zu Weimar, von Friedrich Ludwig Schröder ins Leben gerufen wurde. Meister vom Stuhl wurde der Weimarer Verleger und frühere Geheimsekretär des Herzogs, Friedrich Justin Bertuch.

Mit der Loge ging es aufwärts. Von 34 Mitgliedern 1808 stieg deren Zahl auf 123 im Jahre 1815 und 147 im Jahre 1826. Goethe hatte seine eigenen Gedanken zur Loge. Er entwarf ein kultur- und erinnerungspolitisches Konzept, in dem das Weimarer Fürstenhaus zum Mittelpunkt und Impulsgeber einer Nation stilisiert wurde, die zwar nach dem Ende des Alten Reichs 1806 keinen staatlichen Zusammenhang mehr besaß, dafür aber durch Geist und Künste geeint werde. Die Umsetzung dieses Konzepts wurde nun zum Hauptinhalt seines freimaurerischen Engagements. Die „Amalia“ vermochte die ihr von Goethe und auch Wieland zugewiesene Rolle als Gralshüterin einer sich über das „klassische Weimar“ definierenden „nationalen“ und zugleich weltbürgerlich orientierten Kunst- und Bildungsreligion der Deutschen zumindest für einige Jahrzehnte zu übernehmen. Doch schon bei der Errichtung des Weimarer Herder-Denkmals 1843 konnte sich der ursprüngliche, mit freimaurerischen Symbolen ausgezierte Entwurf nicht durchsetzen. Dennoch kommt der Loge das historische Verdienst zu, an der Stilisierung des „klassischen Weimar“ zum Symbolort des Geistes der Aufklärung und Humanität im kulturellen Gedächtnis nicht nur der Deutschen, sondern der gesamten Menschheit wesentlich mitgewirkt zu haben.