Der junge Goethe im Konflikt mit Kirche und Aufklärung

Vortrag von Dr. Thomas Frantzke, Leipzig, am 7. September 2021

Goethes Verhältnis zur Amtskirche war distanziert. Er geht nicht in die Kirche, betet selten, heißt es in einem Brief. Er hat seine Probleme mit der Institution Kirche (darüber gibt es in unserer Gesellschaft bereits viel Literatur, so dass dies hier nicht näher ausgeführt werden muss).

Der Referent ging sodann auf ein kleines Werk Goethes ein: „Brief des Pastors zu *** an den neuen Pastor zu ***“. Hier nimmt Goethe die frömmelnde Heuchelei aufs Korn, wie denn auch die Reformation mit einem „Mönchsgezänk“ begann. Und er tritt für Toleranz ein. Die Form (der Religionsausübung) ist einerlei, wichtig allein ist der eigene Glaube.

All dies muss man im Zusammenhang mit der damaligen Zeit sehen. Junge Schriftsteller des Sturm und Drang, zu denen Goethe gehört, lehnen sich gegen die vernünftelnde Aufklärung auf, gegen ihre Belehrungen und ihre Gefühlskälte. Sie plädieren dafür, dem Gefühl, dem Herz Platz einzuräumen. Und sie plädieren für die Rechte des „Originalgenies“.

Diese Schwärmerei ruft natürlich Kritiker auf den Plan, so Bodmer und Lavater, von dem sich Goethe zusehends distanziert. So bezeichnet der Schwager Lavaters den Goethe als „Schwärmer“ und „Tollhäusler“.

Gegen die kirchliche Kritik wendet sich Goethe beispielsweise in seinem Werk „Der ewige Jude“, das zu seinem Glück erst 1834 veröffentlicht wurde, ansonsten hätte es seiner Karriere wohl sehr bald ein Ende gesetzt. Die Fabel des in Knittelverse gesetzten Epos: Christus kehrt nach 1774 Jahren auf die Erde zurück, um zu sehen, was aus seiner Lehre geworden ist. Er trifft Ahasver, der Jesus einst am Kreuze verspottet hatte. Bei den angetroffenen gesellschaftlichen Verhältnissen läuft Jesus Gefahr, ein zweites Mal gekreuzigt zu werden. Goethe führt verschiedene religiöse Strömungen auf: Katholiken, Lutheraner, Pietisten Methodisten, und meint, dass sie als Narren doch im Grunde genommen allesamt der gleichen Narretei verfallen sind. Andererseits äußert sich Goethe über Luther durchaus wohlwollend, wenn eine gute Stellung in der Kirche auch zu einem bequemen Sessel und zur Behäbigkeit verleitet.

Doch Kritik erwächst auch aus den Aufklärern, so durch Friedrich Nicolai, dem neuen deutschen „Literaturpapst“ (zuvor Gottsched), Herausgeber der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“. Nicolai hat den literarischen Wert von Goethes „Werther“ durchaus erkannt. Aber ihn erzürnt Werthers Selbstmord – eine Todsünde. Nicolais Mittel der Kritik war in der Regel die Polemik. was oft zuerst heftige Reaktionen der Betroffenen auslöste und dann in literarische Dispute ausartete, die häufig von beiderseitiger Rechthaberei gekennzeichnet waren. Dies betrifft auch die Kontroverse mit dem jungen Goethe. Nicolai setzte dessem tragischem Werk den Titel „Die Freuden des jungen Werther“ mit glücklichem Ausgang. Albert lädt Werthers Pistole mit Hühnerblut, tritt als Verlobter Lottes zurück. Lotte und Werther heiraten, bekommen Kinder, Haus, Garten, schicken sich in die Bedingungen einer bürgerlichen Existenz.

Goethe konterte mit dem bissigen Gedicht „Nicolai auf Werthers Grabe“:

Ein junger Mensch, ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward denn auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei,
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie’s denn so Leute haben.
Der setzt’ notdürftig sich aufs Grab
Und legte da sein Häuflein ab,
Beschaute freundlich seinen Dreck,
Ging wohl er atmet wieder weg
Und sprach zu sich bedächtiglich:
„Der gute Mensch, wie hat er sich verdorben!
Hätt er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!“

Das Gedicht wird allerdings nicht veröffentlicht. Goethes „Werther“ ist auch ein Angriff gegen die kirchliche Institution. So heißt es zum Schluss: Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet. Ein christliches Begräbnis bleibt also dem Selbstmörder verwehrt. Doch gerade von der Geistlichkeit wird ja christliche Nächstenliebe erwartet.

Zu den prominenten geistlichen Kritikern von Goethes Briefroman gehört der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze, der Feind Lessings. Er spricht von einer Apologie Goethes auf den Selbstmord und antwortet mit der diffamierenden Schrift „Der unbegabte Goethe“. Ist es eine Heldentat, den Lebensfaden mit eigener Hand abzuschneiden? Goeze setzt Suizid mit Mord und Totschlag an sich gleich. Kein Unterschied. Und somit würden in „unserem Christentum Sodom und Gomorrha herrschen“.

Ein weiteres Beispiel für Goethes Kritik an den kirchlichen Institutionen ist sein Jugenddrama „Stella“, ein Schauspiel für Liebende. Fernando fühlt sich als Gefangener in seiner Ehe mit Cäcilie. Er trifft Stella, verliebt sich in sie. Cäcilie sucht ihren Mann, findet ihn im Beisein mit Stella. Doch sie akzeptiert diese Liebe, „eine Wohnung, ein Bett, ein Grab“.

Der Stoff – in der ersten Fassung von 1775 – geht auf die Legende des Grafen Ernst von Gleichen zurück, der auf einem Kreuzzug im Morgenland in Gefangenschaft gerät und von einer Sultanstochter gerettet wird. Als er zurückkehrt, nimmt er sie mit, verheiratet sich mit ihr – im Einverständnis seiner Ehefrau – in morganatischer Ehe zur linken Hand. Alle genießen die Ehe zu dritt.

Doch auch Bigamie ist wie Selbstmord eine Todsünde. Wieder erntet dieses Stück heftige Kritik, so von den Pietisten, und wieder ist Goeze dabei. Es sei eine verdammungswürdige Sache, auf diese Art die Jugend zu verderben. Goethe habe nicht nur gegen kirchliche Schranken und Verbote verstoßen, sondern auch gegen gesellschaftliche Normen insgesamt. Aus diesen ersichtlichen Gründen wurde „Stella“ seinerzeit nur selten aufgeführt.