Archiv für den Monat: Juni 2017

Stützerbach, Langewiesen, „Volle Rose“

Tagesausflug am 17. Juni 2017

Unsere zweite Fahrt in die Ilmenauer Region führte uns zunächst ins Goethehaus Stützerbach. In diesem Museum informierten wir uns über die Aufenthalte Goethes zwischen 1776 und 1779. Insgesamt verbrachte er 15 Tage an diesem Ort, mehrere Übernachtungen sind bezeugt. Es handelt sich um das Wohnhaus des Glashüttenbesitzeres Gundelach, bei dem Goethe und der Herzog Carl August Unterkunft fanden. Gern verweilten wir im „Goethezimmer“ mit Goethes Bildnisbüste, geschaffen von keinem Gerinegeren als dem Bildhauer Christian Daniel Rauch. Es handelt sich allerdings nicht um das Original, sondern um einen Gipsabguss. Das Interieur vermittelt einen schönen Eindruck von der Wohnkultur um 1800.

Wahre Schelmenstreiche sind überliefert. So ließen Goethe und der Herzog Weinfässer des Hausherrn den Hang hinabrollen. Eitel, wie er war, ließ Gundelach ein Porträt von sich malen. Goethe schnitt dessen Kopf heraus und steckte den seinigen hindurch. Er und der Herzog hatten ihren Spaß daran, Gundelach weniger. Einmal waren sie in der Gegend unterwegs und fragten in einem Bauernhaus, ob sie ein Glas Milch bekommen könnten. Die Bäuerin wusste nicht, wen sie vor sich hatte, und forderte sie auf, ihr beim Buttermachen zu helfen. Der Herzog in höchsteigener Person schlug die Butter. Währenddem entdeckte Goethe einen räudigen Kater. Nicht faul, warf er das Tier in das Butterfass. Tage später erschienen die Beiden wieder und legten reumütig ein Geständnis ab. Sie bedauerten den Kater und die verdorbene Butter. Die Bäuerin lachte nur und gab niederschmetternde Auskunft. „Ach, de Botter, die hach off Weimer getrohn, bei Hofe, die frassen alles!“

Das 2015 neu gestaltete Museum zeigt auch Exponate der traditionellen Papier- und Glasherstellung jener Zeit. Goethe zeigte sich – nicht zuletzt im Hinblick auf seine Farbenlehre – fasziniert. Er untersuchte Farbphänomene, wie sie beispielsweise bei einfallendem Licht durch schnell abgekühlte Glastropfen entstehen. Aus Stützerbach bezog Goethe auch veschiedene Papiere.

Viele Zeichnungen Goethes sind in und um Stützerbach entstanden. Manche widmete er Charlotte von Stein. In dieser Gegend arbeitete er an der Prosafassung des Schauspiels „Iphigenie auf Tauris“ und hing ersten Ideen für „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ nach. Natürlich sind literaturinteressierte Einheimische stolz darauf, dass in ihrer Heimat einige Goethe-Gedichte entstanden, so „Ilmenau“, „Dem Schicksal“ und „Einschränkung“.

An sich führten dienstliche Verpflichtungen die hohen Gäste in die Ilmenauer Gegend. Goethe begleitete den Herzog bei amtlichen Inspektionen und auf der Jagd. Trotz aller Späße und ausgelassenen Tanzvergnügungen mit hiesigen „Miseln“ (Mädchen) blieben Goethe die dürftigen, ja armseligen Lebensbedingungen der Menschen nicht verborgen. Er äußerte sein Mitgefühl und bedauerte seine geringen Einflussmöglichkeiten, die Lage der Menschen im Thüringer Wald verbessern zu können.

Unsere zweite Station war das Heinse-Museum in Langewiesen. Der heute weitgehend vergessene Dichter wurde in diesem Ort 1746 als Sohn des Organisten, Stadtschreibers und späteren Bürgermeisters geboren. Er erwies sich frühzeitig als großes Talent in den Naturwissenschaften, in sprachlicher und musikalischer Hinsicht. Er lernte Christoph Martin Wieland kennen, über ihn befreundete er sich mit Ludwig Wilhelm Gleim in Halberstadt, der sein Mäzen und väterlicher Freund wurde. Heise gründete mit Freunden den „Halberstädter Dichterkreis“. 1774 erschien sein erster Roman „Laidion oder die „Eleusinischen Geheimnisse“. Im gleichen Jahr wurde er bei den Brüdern Jacobi in Düsseldorf Redakteur der Frauenzeitschroft „Iris“. Ebenfalls im gleichen Jahr kam es bei Wuppertal zu einer Begegnung mit Goethe. Der spendete dem „Laidion“ höchstes Lob: „Es ist so vieles darin, das nicht anders ist, als ob ich’s selbst geschrieben hätte!“

In dieser Zeit verfasste Heinse seine „Düsseldorfer Gemäldebriefe“, die Wieland in seiner Zeitschrift „Teutscher Merkur“ veröffentlichte.

1780 trat Heinse seine dreijährige Italienreise an. Hier entstand sein wohl berühmtester Roman „Ardinghello und die glückseligen Inseln“.

Nach seiner Rückkehr bekleidete Heinse das Amt des Vorlesers und Bibliothekars des Kurfürsten Friedrich Karl Joseph von Erthal in Mainz. Hier lernte er den Mediziner und Naturforscher Samuel Thomas Sömmering, den Universitätsabibliothekar, Weltreisenden und Jakobiner Gorg Forster sowie den Schweizer Historiker und Kanzler von Kurmainz, Johannes Müller, kennen. In Mainz schrieb Heinse seinen Musikroman „Hildegard von Hohenthal“. 1803 entstand sein letzter Roman „Anastasia und das Schachspiel“. Heinse starb 1803 in Aschaffenburg. Wie groß man ihn seinerzeit schätzte, wird schon an der Tatsache deutlich, dass ihm der bayrische König Ludwig I. einen Ehrenplatz – eine Büste – in der Walhalla zu Regensburg einräumte.

Den Museenbesuchen schloss sich eine Fahrt ins Schaubergwerk „Volle Rose“ sowie eine Fahrt in der Feldbahn durch idyllische Schortental an. Ein gemütliches Beisammensein in der Ausflugsgaststätte „Riechheimer Berg“ beschloss den ereignisreichen Tag.

Der Koran ist groß, streng und furchtbar – zur Aktualität des Goethe’schen Islam-Verständnisses

Vortrag von Dr. Manfred Osten, Bonn, am 6. Juni 2017

Friedrich Nietzsche behauptete, Goethe sei „in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen“. Dies stimmt natürlich so nicht. Er hat sich auch im 21. Jahrhundert keinesfalls „ausgelebt“, er hält vielmehr zahlreiche Überraschungen bereit. Und er favorisierte eine Lernkultur im Hinblick auf fremde Kulturen. Ganz in diesem Sinne ist sein „West-Östlicher Divan“ geschrieben, der 1819 erschien.

Der Koran spielt darin eine große Rolle. Er ist nach Goethes Ansicht groß, furchtbar, stellenweise aber auch erhaben. Divan heißt ein Gespräch weiser Menschen. In diesem Sinne gilt es, die hiesigen Bildungszustände bei uns zu bewahren.

Aber es gibt große Probleme, kommt bei diesen „weisen Gesprächen“ der Koran ins Spiel. In der 2. Sure heißt es nämlich: „Es gibt keinen Zweifel an diesem Buch.“ Der Mensch müsse sich also der Weisheit dieser Schrift unterwerfen. Ursprünglich gab es gar keine schriftliche Überlieferung, denn Koran heißt „Mündlicher Vortrag“. Ein autonomer Leser bleibt ausgeschlossen. Es handelt sich um ein theopoetisches Werk, dichterische Aspekte spielen also eine wesentliche Rolle. Dennoch bleibt der Koran in allen Belangen verbindlich.

Die absolute Dominanz des Mündlichen ist das eigentliche Problem. Ohne diakritische Zeichen wäre die arabische Schrift überhaupt unverständlich, sie bleibt unvollkommen, nur die mündliche Wiedergabe ist eindeutig. Bei der Niederschrift sind daher viele Fehler entstanden. Aus diesem Grund hat Atatürk die arabische Schrift abgelehnt, weil sie solche Probleme verursacht. Diese Tatsache wurde auch schon von Goethe erkannt.

1798 gab es eine große Schlacht der Mamelucken gegen napoleonische Truppen. Trotz zahlenmäßiger Übermacht erlitten die muslimischen Streitkräfte gegen die modernen westlichen Kanonen und Gewehre eine vernichtende und zugleich beschämende Niederlage. Sie bedeutete eine große Kränkung des Islam. Dies setzte sich fort über andere Debakel bis hin zum Sechs-Tage-Krieg. Schon zu Goethes Zeiten folgte auf diese Trauma eine radikale Reaktion. So forderte der arabische Gelehrte Wahhab nach der Schlacht bei den Pyramiden nicht etwa eine Modernisierung, wie sie China und Japan in Szene setzten, sondern eine Rückbesinnung auf die siegreiche Geschichte des Propheten. Dabei sollte der Koran wieder streng ausgelegt werden. In jüngster Zeit fügte der Terrorist Abdul Rahman al-Kaduli zu den fünf Glaubenspfeilern des Islam einen sechsten hinzu: den kriegerisch verstandenen Dschihad. Alle Gewaltexzesse sind somit legitimiert durch das Wort des Propheten.

Vor 200 Jahren gab es schon Vermittlungsversuche. So wandte sich Wilhelm von Humboldt gegen die eurozentristische Belehrungsgesellschaft hin zu einer universalen Lerngesellschaft. Und Goethe sah im Islam auch das Erhabene, Bewundernswerte. Er anerkannte den Propheten als große schöpferische Gestalt. Er verfasste einen Hymnus, der Prophet entspringe einem reinen Quell im höchsten Gebirge, aus dem sich in der Ebene ein Fluss bilde, an dessen Ufern große Städte und Reiche entstehen.

Goethe plante auch ein Schauspiel: „Mahomet“. Damit wollte er zugleich Front gegen das schmähende Werk „Mahomet“ von Voltaire beziehen. Goethe zeigte sich empört: Voltaire habe kein Recht zur Blasphemie. Im deutschen Strafrecht gibt es übrigens bis heute einen entsprechenden Paragrafen (166). Dennoch hat Goethe Voltaires Werk übersetzt, allerdings diffamierende Stellen weggelassen oder geglättet.

Durch seine Bekanntschaft mit dem persischen Dichter Hafis, wobei Hafis ein Ehrentitel ist und soviel bedeutet wie „der den Koran auswendig kennt“, wurde Goethe zum „West-Östlichen Divan“ inspiriert. In der Rangerhöhung der Vernunft (Aufklärung) sah Goethe eine Gefahr für die Welt. Sie habe den Glauben zerstört. Der Glaube sei aber das Mittel gegen die „Krankheit zum Tode“. Symbolisiert ist dieser Sachverhalt im „Faust“ in der Figur der Sorge. Sie erscheint Faust und lässt ihn erblinden. Sorge lässt also „blind“ werden für elementare Existenzbedingungen des Menschen. Aber in Gottes Haus führen viele Wege, nicht nur die Vernunft, sondern gerade und auch der Glaube. Aber der Glaube wurde mutwillig zerstört. Dagegen nimmt nun Goethe einen Gedanken aus der zweiten Sure auf, wenn er schreibt:

Gottes ist der Orient!

Gottes ist der Okzident!

Nord- und südliches Gelände

Ruht im Frieden seiner Hände.

Goethe übernahm den Toleranzgedanken in seinen Maximen und Reflexionen sowie in den Noten und Abhandlungen aus dem Divan. Toleranz heißt für ihn Anerkennen, denn bloßes Dulden sei eine Beleidigung.

Im Gegensatz zum orientalischen Raum werde bei uns die Macht erodieren. Das christliche Memorial werde abgeschafft, wie es im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses Anfang des 19. Jahrhunderts tatsächlich geschah. Somit befürchtet Goethe sinngemäß: Ohne Herkunftskenntnisse gibt es keine Zukunftskompetenzen. Hierzu spricht Nietzsche von „gedächtnislosen Legionären des Augenblicks“. Ins Heutige formuliert: Memorialkultur wird ersetzt durch digitale Demenz.

Es entsteht eine gefährliche Situation, wenn wir all diese Dinge aufgeben. Entscheidend für Goethe war im Hinblick auf Hafis: Jener war Poet, ihm fühlt sich daher unser größter deutscher Dichter eng verbunden. Das Poetische eröffnet hierbei die Chance auf eine Humanisierung der koranischen Lehre. Hafis hat dies selbst erlebt. Verherrlichte er in seinen Gedichten solche anrüchigen Dinge wie Eros, Wein und Rausch, wusste ihn eine religiöse, wohlmeinende Autorität immer wieder zu retten. Und schließlich gibt es die Vertreter persischer Mystik, die ohne Koran und Propheten den Weg zu Gott finden. Die Sufis gehören dazu. Hier kommt auch die Symbolik des Atemholens ins Spiel, das lebenserhaltende göttliche Wirkungen beschreibt:

„Im Atemholen sind zweyerlei Gnaden:

Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.

Jenes bedrängt, dieses erfrischt;

So wunderbar ist das Leben gemischt.

Du danke Gott, wenn er dich presst.

Und dank‘ ihm, wenn er dich wieder entlässt.“